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Wie produktiv ist das Gesundheitswesen?

Angesichts steigender Kosten und zunehmender Nachfrage im Gesundheitssystem ist eine Steigerung der Arbeitsproduktivität zentral. Im internationalen Vergleich belegt die Schweiz einen Platz im Mittelfeld. Doch die Messung der Produktivität ist schwierig und mit Unsicherheiten behaftet.
Hightech-Medizin in Bern: Operationssaal am Inselspital. (Bild: Keystone)

Der Anteil des Gesundheitswesens an der Gesamtbeschäftigung wird immer grösser. Mittlerweile betragen die Ausgaben des Gesundheitswesens 11,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Tendenz steigend. Die hohen Krankenkassenprämien belasten insbesondere die Mittelschichtshaushalte immer stärker.[1] Und auch die öffentliche Hand muss via Prämienverbilligungen und Beiträge an die Gesundheitsinstitutionen – insbesondere die Spitäler – immer höhere Kosten tragen. Die dynamische Beschäftigungsentwicklung im Gesundheitswesen weckt in der Politik ausserdem die Befürchtung, dass es zu einem Fachkräftemangel kommen könnte, sodass der Gesundheitssektor im Wettbewerb um qualifiziertes Personal zunehmend auch andere Wirtschaftsbereiche konkurriert.

Aufgrund dieser Herausforderungen ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität zentral. Eine höhere Arbeitsproduktivität bedeutet, dass mit einem bestimmten Personalbestand mehr Gesundheitsleistungen erbracht werden können. Oder umgekehrt: dass für ein bestimmtes Versorgungsniveau weniger Personal benötigt wird (siehe Kasten 1). Im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit hat das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) gemeinsam mit der Universität St. Gallen untersucht, wie es um die Arbeitsproduktivität im schweizerischen Gesundheitswesen steht.

Geringes Produktivitätswachstum


Die Wertschöpfung je Vollzeitäquivalent lag 2014 im schweizerischen Gesundheitswesen mit 120’755 Franken rund 15 Prozent unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Zwischen 1999 und 2014 ist die Produktivität im Gesundheitswesen gemäss offiziellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik preisbereinigt nur um knapp 6 Prozent gestiegen, trotz hohen Investitionen in diesem Sektor. Gleichzeitig hat die Wertschöpfung im Gesundheitswesen um 61 Prozent zugenommen. Dieser Wertschöpfungszuwachs wurde aufgrund des geringen Produktivitätswachstums hauptsächlich durch eine starke Ausweitung der Beschäftigung erzielt: Gemessen in Vollzeitstellen nahm diese um 52 Prozent zu. Es ist davon auszugehen, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen auch weiterhin zunehmen wird. Um den Druck auf die Fachkräftenachfrage und die Gesundheitskosten zu senken, wird es daher zentral sein, die Arbeitsproduktivität auch in Zukunft zu steigern.

Im internationalen Vergleich bewegt sich die Schweiz trotz geringen Zuwachsraten punkto Entwicklung der Arbeitsproduktivität im Mittelfeld. Über den Zeitraum von 1999 bis 2014 wurde das Wertschöpfungswachstum in der Mehrheit der untersuchten OECD-Länder hauptsächlich durch zunehmende Beschäftigung realisiert (siehe Abbildung). Ausnahmen, die in den vergangenen Jahren ein relativ hohes Produktivitätswachstum verzeichnen konnten, waren die Slowakei, Grossbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland und Dänemark.

Wertschöpfungswachstum im Gesundheitswesen und Wachstumsanteile von Arbeitsproduktivität und Beschäftigung (1999–2014)




Lesehilfe: Die Wertschöpfung im Gesundheitswesen hat in der Schweiz von 1999 bis 2014 um 61% zugenommen. Der Grossteil dieses Wachstums ist auf eine Ausweitung der Beschäftigung (roter Balken) zurückzuführen. Dem Produktivitätswachstum (gelber Balken) kam eine nachrangige Bedeutung zu.

Quelle: OECD, eigene Berechnungen der Autoren / Die Volkswirtschaft.

Baumolscher Effekt im Gesundheitswesen?


In der Wissenschaft wird seit langer Zeit intensiv diskutiert, inwieweit das Produktivitätswachstum im Gesundheitswesen geringer ist als in der Gesamtwirtschaft und damit einen immer grösseren Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ausmacht. Die Diskussion findet unter dem Begriff der baumolschen Kostenkrankheit statt, auf die der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol 1967 erstmals aufmerksam gemacht hat.

Gemäss dieser Theorie entwickeln sich in flexiblen Arbeitsmärkten die Löhne in Sektoren mit hohen und in Sektoren mit tiefen Produktivitätssteigerungen – typischerweise der öffentliche Sektor und andere arbeitsintensive Dienstleistungsbereiche – parallel. Die Lohnstückkosten in den wenig produktiven Sektoren steigen dadurch stetig. Bei einer relativ unelastischen Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nimmt deshalb der Anteil des Gesundheitswesens an der Gesamtwertschöpfung zu. Neuere Studien[2] kommen zum Schluss, dass die baumolsche Kostenkrankheit im Gesundheitswesen eine gewisse Relevanz besitzt. Die Grenzen der baumolschen Theorie liegen allerdings darin, dass sie lediglich eine Erklärung für das Kostenwachstum liefert. Sie kann keine Aussage darüber machen, inwieweit diese Entwicklungen gesamtgesellschaftlich erwünscht oder effizient sind.

In Bezug auf die Effizienz sind folgende Überlegungen relevant: Im Gesundheitswesen sind die Preise vielerorts reguliert, und die obligatorische Krankenversicherung sowie weitere Sozialversicherungen finanzieren einen substanziellen Anteil der Kosten. Oftmals drücken daher die Preise im Gesundheitswesen die Zahlungsbereitschaft der Nutzer nicht adäquat aus. Die fehlende Signalwirkung der Preise impliziert, dass die erbrachten Leistungen der Gesundheitsproduzenten nicht mit dem Nutzen übereinstimmen, welcher bei den Patienten durch den verbesserten Gesundheitszustand erzielt wird. Hier zeigt sich die Schwäche des Indikators Arbeitsproduktivität: Wenn überflüssige Untersuchungen mit teuren medizinischen Geräten vermieden, unnötig lange Hospitalisierungsaufenthalte verkürzt und der Verkauf von zu grossen Medikamentenverpackungen zugunsten von kleinen Packungen reduziert wird, sinkt zumindest kurzfristig die gemessene Arbeitsproduktivität. Gleichzeitig bleibt aber die Zufriedenheit der Patienten unbeeinträchtigt oder nimmt sogar zu. Solche Entwicklungen sind also im Sinne eines effizienten Gesundheitssystems.

Statistische Knacknuss: Preisentwicklung


Die geringen Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität im Gesundheitswesen könnten nicht zuletzt auch auf Messprobleme zurückzuführen sein. Laut der internationalen Literatur bestehen die Herausforderungen in erster Linie bei der Messung der Preisentwicklung. Da Preissteigerungen weder Produktivitäts- noch Wohlfahrtsgewinne darstellen, sind sie bei einer längerfristigen Analyse herauszurechnen. Berücksichtigt werden nur die Quantitäts- und Qualitätsveränderungen, die zusammen die Volumenänderung abbilden. Quantitätsänderungen liegen dann vor, wenn etwa die Anzahl der Blinddarmoperationen bei gleicher Qualität steigt. Qualitätsänderungen zeigen sich beispielsweise dann, wenn die Rate der Wundinfektionen zurückgeht.

Die beobachtbaren Preisänderungen in «reine» Preisänderungen und in Qualitätsänderungen zu unterscheiden, stellt im Gesundheitswesen eine grosse Herausforderung dar. Denn die Qualitätsverbesserungen durch medizinischen Fortschritt zu erfassen und preislich zu bewerten, ist schwierig. In der Praxis wird daher in der Regel auf eine solche Korrektur der Preise verzichtet. Deshalb wird die Preisentwicklung tendenziell überschätzt. Ein neuer Datensatz für die USA zeigt, dass man zwischen 1999 und 2014 die Teuerung im Gesundheitswesen je nach Methode um insgesamt 8 bis 15 Prozent überschätzt hat. In anderen Worten: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität wird unterschätzt.

Alternativen gesucht


Die Preismessung im Gesundheitswesen ist noch mit weiteren Problemen konfrontiert. Viele Eingriffe, die früher stationär durchgeführt wurden, können heute ambulant vorgenommen werden. Dadurch kommt es oft zu einer deutlichen Preissenkung, welche allerdings durch den Konsumentenpreisindex nicht oder nur unzureichend abgebildet wird. Gemäss OECD sollte ein Preisindikator daher die komplette Behandlung einer Krankheit umfassen, um Verschiebungen in den Behandlungsmethoden berücksichtigen zu können.

Aufgrund der schwachen Aussagekraft des Indikators Arbeitsproduktivität stellt sich die Frage, wie man dessen Informationsgehalt erhöhen könnte. Seit einiger Zeit finden internationale Bestrebungen statt, die Volumenentwicklung im Gesundheitswesen besser abzubilden. Diese sollten auch in der Schweiz auf jeden Fall weiterverfolgt und allfällige Erkenntnisse daraus umgesetzt werden. Aufgrund der unzureichenden Qualität und der Abstraktheit des Indikators Arbeitsproduktivität sollte man bei der Evaluation von gesundheitspolitischen Massnahmen aber auch auf andere Effizienzmasse zurückgreifen. Infrage kommen einerseits Indikatoren, die direkt Qualitätsveränderungen in Einzelbereichen des Gesundheitswesens aufzeigen, und andererseits aggregierte Masse wie die sogenannte Data Envelope Analysis[3] sowie Kostenwirksamkeitsanalysen.

  1. Siehe Bundesrat (2016). []
  2. Siehe Bates und Santerre (2013) sowie Colombier (2017). []
  3. Die DEA nutzt einen Algorithmus, um zu ermitteln, wie effizient das Verhältnis zwischen den eingesetzten Inputfaktoren und dem erzielten Output ist (vgl. Hollingsworth 2016). []

Literaturverzeichnis

  • Bates, L. J. und R. E. Santerre (2013). Does the U.S. Health Care Sector Suffer from Baumol’s Cost Disease? Evidence from the 50 States. Journal of Health Economics 32: 386–391.
  • Baumol, William J. (1967). Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis. American Economic Review 57: 415–426.
  • Baumol, William J. (1993). Health Care, Education and the Cost Desease: A Looming Crisis for Public Choice: 17-28. In: C.K. Rowley, F. Schneider und R.D. Tollison (Hrsg.). The Next Twenty-five Years of Public Choice. Dordrecht: Springer.
  • Bradley, Ralph, Jaspreet Hunjan und Lyubov Rozental (2015). Experimental Disease Based Price Indexes. Abrufbar unter www.bls.gov.
  • Bundesrat (2016). Strategie für den Mittelstand: Bericht in Erfüllung des Postulats 11.3810 von Lucrezia Meier-Schatz vom 22.09.2011. Bern: Eidgenössische Steuerverwaltung.
  • Colombier, Carsten (2017). Drivers of Health-Care Expenditure: What Role Does Baumol’s Cost Desease Play? Social Science Quarterly, doi:10.1111/ssqu.12384.
  • Hollingsworth, Bruce (2016). Health System Efficiency: Measurement and Policy (Kapitel 5). In: Jonathan Cylus, Irene Papanicolas und Peter C. Smith: Health System Efficiency: How to Make Measurement Matter for Policy and Management. Copenhagen: European Observatory on Health Systems and Policies.
  • Morger, Mario, Kilian Künzi und Reto Föllmi (2018). Arbeitsproduktivität im Gesundheitswesen, Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit Bern: Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien und Universität St. Gallen.

Bibliographie

  • Bates, L. J. und R. E. Santerre (2013). Does the U.S. Health Care Sector Suffer from Baumol’s Cost Disease? Evidence from the 50 States. Journal of Health Economics 32: 386–391.
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  • Morger, Mario, Kilian Künzi und Reto Föllmi (2018). Arbeitsproduktivität im Gesundheitswesen, Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit Bern: Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien und Universität St. Gallen.

Zitiervorschlag: Mario Morger, Kilian Künzi, Reto Föllmi, (2018). Wie produktiv ist das Gesundheitswesen. Die Volkswirtschaft, 24. Mai.

Kennzahl «Arbeitsproduktivität»

Um die branchenspezifische Arbeitsproduktivität zu berechnen, wird die entsprechende Bruttowertschöpfung durch die Vollzeitäquivalente in dieser Branche geteilt. Um zu analysieren, wie sich die Arbeitsproduktivität entwickelt hat, braucht es ausserdem Daten zur Preisentwicklung.

Modellhaft lässt sich der Produktionsprozess mit den beiden Inputfaktoren Arbeit und Kapital darstellen, die zusammen einen Output – in diesem Fall Gesundheitsleistungen – erstellen. Um die Arbeitsproduktivität zu steigern, gibt es also zwei Möglichkeiten: entweder durch eine kapitalintensivere Produktion oder durch die Erhöhung der Multifaktorproduktivität. Die Multifaktorproduktivität misst die Effizienz der gemeinsam genutzten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und wird oft mit dem technologischen Fortschritt gleichgesetzt. Sie beinhaltet aber auch weitere wichtige Bestimmungsfaktoren wie die Humankapitalbildung.

Die Produktivität lässt sich also steigern, indem entweder die Inputfaktoren Arbeit und Kapital effizienter werden (z. B. durch Höherqualifizierung), oder durch den technologischen Fortschritt in Form von Produkt- oder Prozessinnovationen.