Auf einem Segelboot muss die Zusammenarbeit perfekt harmonieren, damit die Besatzung auf sich schnell verändernde Umweltbedingungen reagieren kann. (Bild: Keystone)
Die «Kultur» sorgt über gemeinsame Werte, Glaubenssätze, Regeln und Annahmen grösstenteils unbewusst für Orientierung, wenn Menschen alltäglich miteinander interagieren. Wie bedeutend diese soziokulturelle Ebene ist, wird in den Diskussionen über die zukünftige Arbeitswelt immer noch unterschätzt. Das zeigen mehrere Kulturstudien zu Arbeit und Führung in Deutschland, die das Beratungsunternehmen Nextpractice im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) durchgeführt hat.[1] Die heutigen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des -austausches sind nahezu grenzenlos. Gleichzeitig nimmt der Einfluss von Hierarchien auf die kulturprägenden Werte und Grundannahmen im Unternehmen immer mehr ab. Beides zusammen fördert eine nie da gewesene Vielfalt an Interessen- und Wertegruppen. Aber Achtung: Wenn diese Vielfalt Brüche erzeugt und sich oft schleichend herausbildende und unbewusst verankerte konträre Sichtweisen nicht mehr zu einem gemeinsam getragenen Weg verbinden lassen, wächst die Gefahr, dass «die Kultur die Strategie zum Frühstück isst», wie es der Managementguru Peter Drucker formuliert hat. Konkret bedeutet dieses Zitat, dass sich in einem Unternehmen sachlich begründete und vielleicht sogar überlebensnotwendige Veränderungen nicht realisieren lassen, wenn kulturelle Bewertungsmuster aufgrund von Ängsten, Annahmen oder Zuschreibungen eine sachliche Reflexion des Wandels verhindern. Heute scheint diese Gefahr realistischer denn je, wie die Kulturstudien eindringlich aufzeigen.
Kluft zwischen Realität und Anspruch
Gemäss der Mehrheit der deutschen Führungskräfte widersprechen sich die gelebte, überwiegend effizienz- und renditeorientierte Führungspraxis und die heutigen kreativitäts- und veränderungsorientierten Anforderungen an Führung. Das war eines der zentralen Ergebnisse, die 2014 aus einer Studie mit insgesamt 400 Führungskräften zum Thema «Gute Führung» hervorgingen. Mit einem von Nextpractice entwickelten qualitativ-intuitiven Verfahren wurden die Führungskräfte in rund zweistündigen Tiefeninterviews befragt. Die Kriterien, welche die Führungskräfte im Kontext von guter Führung als wichtig erachten, werden nicht einmal zur Hälfte erfüllt. Die Befragten kritisieren eine seit Jahren anhaltende Fehlentwicklung. Ihnen zufolge reichen kleine Schritte nicht mehr aus, um den eigenen Anspruch an gute Führung umzusetzen: 78 Prozent fordern einen Paradigmenwechsel in der Führungskultur von Effizienz und Ertrag zu Kreativität und Erneuerung (siehe Kasten).
Ein Blick in die Vergangenheit ab 1950 verschärft diese Einschätzung noch. Die Schere zwischen gelebter Führungspraxis und Führungsanforderungen öffnet sich seit Jahren immer stärker. Die meisten Führungskräfte sind der Ansicht, dass in einer Welt mit zunehmender Komplexität und Dynamik der Grundsatz «Steuerung und Regelung» zukünftig nicht mehr erfolgreich ist. Trotzdem wird dieses nicht mehr den Anforderungen entsprechende Prinzip guter Führung immer noch häufig praktiziert.
Mit abnehmender Planungssicherheit bieten auch die traditionellen Managementwerkzeuge wie Zielvereinbarungen und Controlling keine adäquaten Lösungen mehr für die heutigen und zukünftigen Herausforderungen. Der Glaube daran erhält maximal die Illusion aufrecht, alles im Griff zu haben. Im schlimmsten Fall verhindert er sogar, dass sich Unternehmen mit den veränderten Dynamiken auseinandersetzen. Das Gleiche gilt für Organisationsstrukturen wie die klassische Linienhierarchie, welche die Befragten klar ablehnen. Doch was sind die Alternativen?
Unter «guter Führung» verstehen die befragten Führungskräfte etwas, das man als «professionelles Segeln auf Sicht» bezeichnen könnte. Ihnen zufolge ist diese Führungsform am ehesten in kooperativen Netzwerken möglich. Diese Netzwerke sind nicht auf Wettbewerb, sondern auf einen gemeinschaftlichen Nutzen und auf Wertschöpfung zum Wohle aller Beteiligten ausgerichtet. Ein Kernelement dabei ist, dass man sich kreativ an schnell verändernde Umweltbedingungen anpassen kann. Orientierung in der Instabilität, Agilität und die Fähigkeit, ergebnisoffene Prozesse zu gestalten, werden zu wichtigen Schlüsselkompetenzen.
Kein einheitliches Bild
Der Wandel der Arbeitswelt durch die Automatisierung, die Flexibilisierung und die Digitalisierung betrifft allerdings nicht nur die Führungskräfte. Auch die Erwerbspersonen haben diese tiefgreifenden Veränderungen miterlebt. Die 2016 durchgeführte repräsentative Studie «Wertewelten Arbeiten 4.0» mit 1000 Erwerbspersonen zeigt: Aktuell empfinden nur 20 Prozent der Erwerbenden ihre Arbeitssituation als nahezu ideal. Für knapp 50 Prozent ist sie weit davon entfernt. Ein Grossteil verbindet mit der heutigen Arbeitswelt überwiegend Druck und Stress. Der Blick in die Zukunft ist zum Teil aber auch optimistisch: Fast die Hälfte der Befragten erwartet, dass im Jahr 2030 die eigene Arbeitssituation nahe an ihrem Idealbild liegen wird.
Die Studie zeigt zudem, dass in unserer Arbeitsgesellschaft unerwartet vielfältige und gegensätzliche Vorstellungen davon existieren, was das Idealbild von Arbeit angeht. Im Vergleich mit der Kulturstudie zu guter Führung fällt eines auf: Hatten die Führungskräfte trotz aller Unterschiedlichkeit noch einen einheitlichen Werteraum, so zerfällt dieser Werteraum bei den Erwerbspersonen in sieben klar voneinander unterscheidbare Wertekorridore (siehe Tabelle). Diese sind so unterschiedlich, dass man sie durchaus als verschiedene Wertewelten bezeichnen kann. Soziodemografische Merkmale wie Einkommen, Geschlecht oder ethnische Herkunft haben kaum einen Einfluss darauf, zu welcher dieser Wertewelten eine Person gehört.
Dasselbe gilt für das Alter: Jüngere Erwerbspersonen unterscheiden sich nicht systematisch von anderen Altersklassen. Man kann also das Vorurteil begraben, dass die Generationen Y oder Z eine eigene Wertewelt bilden. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Demokratisierung des Unternehmens, die Auflösung von Grenzen zwischen Erwerbs- und Privatleben (sogenanntes Work-Life-Blending) oder Diversität sind keine Moden, die unsere junge Generation mitbringt. Sie sind eher Ausdruck von sich grundsätzlich wandelnden und vielfältigeren Bedürfnissen in unserer Arbeitsgesellschaft.
Vorstellungen von Arbeit in Deutschland zerfallen in 7 Wertewelten
Vorstellung von «guter Arbeit» | Anteil der Befragten, in % | |
1 | Sorgenfrei von der Arbeit leben können | 28 |
2 | In einer starken Solidargemeinschaft arbeiten | 9 |
3 | Den Wohlstand hart erarbeiten | 15 |
4 | Engagiert Höchstleistung erzielen | 11 |
5 | Sich in der Arbeit selbst verwirklichen | 10 |
6 | Balance zwischen Arbeit und Leben finden | 14 |
7 | Sinn ausserhalb seiner Arbeit suchen | 13 |
Quelle: nextpractice GmbH (2016). Wertewelten Arbeiten 4.0
Arbeitnehmer fürchten Digitalisierung
Es gibt aber auch einen Punkt, in dem sich die Befragten relativ einig sind. Dieser kann aber nicht zuversichtlich stimmen: Mehr als die Hälfte aller Erwerbspersonen in Deutschland bewertet die Digitalisierung als Bedrohung oder macht sie für die verschlechterten Arbeitsbedingungen verantwortlich. Auch hier gilt: Ohne einen Kulturwandel, der zu einer neugierigen, proaktiven Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten führt, werden wir die Digitalisierung nicht erfolgreich gestalten können.
Ob wir unsere Reise in eine digitalisierte Zukunft erfolgreich gestalten, liegt zuerst in den Händen der handelnden Führungskräfte. Ihre Aufgabe ist es, gerade in Zeiten eines grundlegenden Wandels, die bestehenden Kulturmuster infrage zu stellen. Denn diese verhindern möglicherweise die notwendigen Veränderungen.
Für einen erfolgreichen Wandel braucht es auch eine neue Kultur mit veränderten Werten, Glaubenssätzen, Regeln und Vereinbarungen. Die unterschiedlichen Wertegruppen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in den meisten Unternehmen wiederfinden und dort Reibungsverluste oder gar Konflikte erzeugen, sollte man auf diese Reise mitnehmen. Zwar wird Diversität in den Unternehmen die Zukunft sein, doch es gilt zu verhindern, dass die Unternehmenskultur dadurch ihre Funktion als Orientierungssystem verliert und sich der Identitätskern auflöst. Es ist Zeit, zu handeln und die Zukunft der Arbeitswelt gemeinsam zu gestalten. Wir brauchen ein solidarisches und kooperatives Miteinander, das dem Ziel folgt, mit engagierten Menschen eine resiliente neue Arbeitswelt zum Wohle vieler zu schaffen. Nur so können wir die aktuellen Herausforderungen mit intelligenten Lösungen meistern und Neuem wachsam begegnen.
- Die ausführlichen Ergebnisse der Studien finden Sie online auf nextpractice-forum.de. []
Zitiervorschlag: Greve, Andreas; Schomburg, Frank (2018). Auf Sicht segeln. Die Volkswirtschaft, 25. Juni.
Anhand der von 400 deutschen Führungskräften intuitiv beschriebenen Grosswetterlage der deutschen Führungskultur hat Nextpractice ein neues Konzept von «guter Führung» abgeleitet: Eine flexible Organisation in dezentralen Teams soll Linienhierarchie, Zielmanagement und Controlling ablösen. Mit der Zeit sollen diese Teams zunehmend durch selbst organisierende Netzwerke ergänzt oder ersetzt werden. Das soll die Selbstbestimmung der Mitarbeitenden erhöhen und die Kosten der Zusammenarbeit verringern. Für die gemeinsame Ausrichtung braucht es aber auch weiterhin Regeln und eine attraktive Vision. Die Aufgabe der Führungspersonen ist es dann, die Rahmenbedingungen zu definieren, Sinnzusammenhänge zu vermitteln und die wachsende Eigendynamik der Mitarbeiter zu kanalisieren. Schliesslich werden die Unternehmensaktivitäten in einen stabilisierenden Wertekanon eingebettet. Aus der «Wert»-Orientierung der Shareholder-Value-Perspektive wird die «Werte»-Orientierung eines solidarischen Stakeholder-Handelns.