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Über eine halbe Million Menschen in der Schweiz verfügen lediglich über einen obligatorischen Schulabschluss. Ihnen bietet das Bildungssystem oftmals keine echten Chancen.
Laura Perret, Dr. sc., stellvertretende Sekretariatsleiterin, Bildungspolitik, Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB), Bern

Standpunkt

Das schweizerische Bildungssystem wird international gelobt. Dabei geht meist vergessen: In der Schweiz gibt es rund 600’000 Erwachsene ohne Abschluss auf Sekundarstufe II. Für diese Menschen, die weder über einen Lehrabschluss noch über ein Maturitätszeugnis verfügen, ist es sehr schwer, sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren und zu halten. Bei schlechter Wirtschaftslage sind sie rasch von Arbeitslosigkeit bedroht.

Hinzu kommt: Für eine betroffene Person, die arbeitet und Kinder betreut, ist es nicht leicht, sich ein Berufsdiplom zu verschaffen. Denn eine Ausbildung verlangt viel Zeit, Flexibilität, Geld und die Unterstützung des Partners. Nicht zuletzt, da die Kinder betreut werden müssen. Oft mangelt es an Vereinbarungsmassnahmen.

Frauen sind stärker betroffen als Männer, da sie häufiger die tägliche Verantwortung für die Kinder wahrnehmen, Teilzeit arbeiten, tiefere Einkommen und weniger Zugang zu Weiterbildung haben. Gerade bei der Weiterbildung erhalten sie vielfach weniger Unterstützung vom Arbeitgeber als die Männer, wie ein Bericht des Bundesamtes für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2014 zeigt.

Mühe bekunden auch Personen mit Migrationshintergrund: Sie absolvieren im Durchschnitt weniger häufig eine Weiterbildung und besetzen tiefer qualifizierte Stellen als Schweizer. Besonders benachteiligt sind Flüchtlinge, die oft keine Landessprache sprechen. Da bei ihnen der Zugang zu Bildung vom Aufenthaltsstatus abhängt, finden sie kaum einen Praktikumsplatz oder eine Lehrstelle – was sich direkt auf den Abschluss auf Sekundarstufe II auswirkt.

Allgemein gilt: Wer aus einer tieferen Gesellschaftsschicht stammt, ist weniger gut gestellt – sowohl in der Bildung wie im Arbeitsmarkt. Das Ausbildungssystem reproduziert somit die soziale Ungleichheit. In der Tat nehmen die Betroffenen weniger oft höher oder weiter qualifizierende Ausbildungen in Angriff.

Fünf Tage Bildung pro Jahr

Wenn wir das Prinzip der Gerechtigkeit respektieren wollen, müssen wir für alle Kategorien und für alle Altersklassen der gesamten hier lebenden Bevölkerung einen Zugang zu Grund- und Weiterbildung bieten. Für schwach qualifizierte Arbeitnehmende sowie für Menschen mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Schichten sind zielgerichtete Massnahmen zu entwickeln.

Beispielsweise müssen Arbeitgeber die Bildung ihres Personals zeitlich und finanziell vermehrt unterstützen. Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit des Berufs- und des Familienlebens mit der Bildung sind zu stärken durch mehr ausserschulische Betreuung der Kinder, mehr Lohnausgleich sowie eine Flexibilisierung und Modularisierung der Ausbildung. Einzuführen ist ein Recht auf fünf Tage Bildung pro Jahr sowie auf eine Standortbestimmung alle fünf Jahre für über 40-Jährige. Schliesslich soll die Arbeitslosenversicherung vermehrt neue Ausbildungen und Umschulungen finanzieren.

Zitiervorschlag: Laura Perret (2018). Standpunkt: Bildungssystem spiegelt Ungleichheit. Die Volkswirtschaft, 25. Juni.