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Das Ende des Branchendenkens

Das Branchendenken ist vielen Firmen zu eng geworden. Immer mehr setzen sich über die engen Grenzen hinweg und kooperieren mit Partnern aus anderen Branchen. Sind diese «Business-Ecosystems» die Wirtschaftsform der Zukunft?
Kurt Egloff (r.), CEO des Automobilherstellers BMW Schweiz, und Andreas Meyer von den SBB bieten mit Green Class gemeinsam ein Kombiangebot für Schiene und Strasse an. (Bild: Keystone)

Von den rund 190 Billionen Dollar Umsatz, der im Jahr 2025 von allen Unternehmen weltweit erwirtschaftet wird, sollen fast 30 Prozent über die heutigen Branchengrenzen hinweg fliessen. Das schätzt eine Studie[1] des Unternehmensberaters McKinsey. Die Studie erwartet, dass sich die heute mehreren Hundert Branchen in Zukunft auf nur noch zwölf übergreifende Komplexe wie beispielsweise «Reise und Hospitalität», «Mobilität» oder «Bildung» verdichten werden. Welche Bereiche genau überleben, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch höchst spekulativ. Sicher ist jedoch, dass sich die Branchen massiv verändern werden und sich entlang von Kundenerlebnissen und -prozessen auf einem höheren Aggregationslevel neu strukturieren. Diese neue Aggregationsebene ist typischerweise das sogenannte Business-Ecosystem.

Neue Märkte erobern


Die Idee eines Business-Ecosystems ist sehr einfach. Eine Gruppe von ungefähr drei bis zehn Firmen erbringt gemeinsam eine Leistung für den Kunden, die ein einzelnes dieser Unternehmen nicht allein erbringen könnte. Im besten Fall ist diese Leistung nicht nur die Addition der Einzelbeiträge aller Beteiligten, sondern mehr als das. Eins plus eins sollte also nicht zwei, sondern möglichst drei ergeben. Das geht jedoch nur, wenn alle Partner auf ein gemeinsames Kundenbedürfnis – die sogenannte Value Proposition – hinarbeiten und dafür eng vernetzt sind. Eine zentrale Firma orchestriert dabei diese enge Vernetzung.

Die Adressierung des Kundenbedürfnisses kann dabei zwei Ausprägungen haben. Eine Möglichkeit ist, dass sich die Ecosystem-Partner gemeinsam auf ein spezifisches Kundenbedürfnis fokussieren, das sie alleine nicht erfüllen können. Ein Beispiel ist das Start-up Tailored Fits aus Horw, das gemeinsam mit seinen Partnern Sohlen anbietet, die dank 3-D-Druck passgenau auf den Fuss des Kunden hergestellt werden. Die andere Variante, wie eine Value Proposition verbessert werden kann, ist das Erbringen eines gemeinsamen Leistungsbündels, das beispielsweise eine gesamte «Customer Journey» abdeckt. Genau das macht das Ecosystem Home der Schweizer Helvetia-Versicherung. Mit Home will man dem Kunden nicht mehr einzelne Versicherungslösungen wie Hausrats- oder Haftpflichtversicherung anbieten, sondern rund ums Thema Wohnen den gesamten Weg des Kunden abdecken. Dieser beinhaltet alles: von der Suche nach der Unterkunft über den Um- und Einzug und die Versicherung bis hin zu Wohnen und Renovieren. Wie bei Tailored Fits kommen die einzelnen Leistungen von spezialisierten Partnern, die allerdings eng durch die Helvetia-Versicherung orchestriert und abgestimmt werden.

Die Vorteile eines Business-Ecosystems liegen auf der Hand: Firmen können gemeinsam mit ihren Partnern überlegene Produkte und Dienstleistungen kreieren und sich damit neue Märkte erschliessen. Zudem können sie sich in den bestehenden Märkten Wettbewerbsvorteile gegenüber klassischen Produktanbietern verschaffen. Über ihre Partner erhalten sie Zugang zu Kunden, Kompetenzen oder Ressourcen, über die sie selber nicht verfügen und die sie daher kostspielig aufbauen müssten. Die enge Zusammenarbeit mit den Partnern bedeutet aber auch eine Abhängigkeit. Diese ist umso grösser, je intensiver die Partner miteinander vernetzt und damit schwerer austauschbar sind. Bricht einer dieser Partner weg, bricht im schlimmsten Fall auch die Value Proposition und damit das ganze Ecosystem zusammen. Ausserdem erzeugen die intensiven Abstimmungen zwischen den Partnern einen hohen Orchestrierungsaufwand.

Bei einem Ecosystem besteht deshalb immer auch ein Zielkonflikt: auf der einen Seite eine verbesserte Value Proposition, auf der anderen Seite zunehmender Orchestrierungsaufwand und die Abhängigkeit zwischen den Partnern. Dies ist auch der Grund, warum Business-Ecosystems erst in den letzten Jahren so stark aufgekommen sind: Denn nur die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien machten es möglich, den Orchestrierungsaufwand so weit zu senken, dass ein Business-Ecosystem wirtschaftlich Sinn macht. Trotz den Herausforderungen für das Management kommen Akademiker wie auch Praktiker immer mehr zum Schluss, dass die Zukunft durch Business-Ecosystems geprägt sein wird. Diesem Trend wird sich keine Firma entziehen können.

Branchen werden neu geordnet


Das Denken in Branchen und Produkten wird durch das Denken in übergreifenden Kundenbedürfnissen ersetzt. «Ich komme aus der Versicherungswelt – in welcher Branche arbeiten Sie?» Diese Standardfrage, die bei jedem Networking-Event gestellt wird, gehört dann der Vergangenheit an. In einem Ecosystem kooperieren Firmen verschiedenster Herkunft und kreieren gemeinsam eine überlegene Leistung für den Kunden. Wenn die Helvetia-Versicherung die gesamte Customer Journey im Bereich Wohnen abdecken wird, ist sie weit mehr als eine Versicherung.

Das hat Konsequenzen. Wenn sich Business-Ecosystems durchsetzen, werden nicht mehr Firmen mit einzelnen Produkten um die Gunst des Kunden kämpfen. Stattdessen werden Ecosystems miteinander konkurrieren, und sie werden versuchen, die kleinste oder schwächste Firma aus einem anderen Ecosystem herauszukaufen. Aufgrund der engen Verbindung zwischen allen Partnern wird das andere Ecosystem dadurch geschädigt oder sogar zerstört. Jedes Ecosystem ist daher nur so stark wie der schwächste Partner. Die Bindung der Partner an den Orchestrator wird somit essenziell. Ankerpunkte des Ecosystems, wie etwa das Schweizer Start-up Moneypark im Ecosystem der Helvetia-Versicherung, werden daher häufig durch Übernahmeaktivitäten an den Orchestrator gebunden.

Der Wettbewerb zwischen den Business-Ecosystems wird auch zu Investitionen in Firmen aus eigenen und konkurrierenden Ecosystems führen. Der Wert dieser akquirierten Firmen besteht dann nicht alleine aus dem Wert, den diese dem neuen Ecosystem bringen werden, sondern genauso aus dem Schaden, den sie durch das Herauslösen dem gegnerischen Ecosystem zufügen werden. Darüber hinaus steigt der Wert auch mit der Fähigkeit, ein Ecosystem zu orchestrieren. Für einen guten Orchestrator werden strategische Investoren auch bereit sein, eine Prämie zu zahlen. So hat die Akquisition des Start-ups Moneypark durch die Helvetia-Versicherung für einen dreistelligen Millionenbetrag bei vielen Beobachtern für Erstaunen gesorgt. Der Wert von Moneypark für die Helvetia bemisst sich jedoch nicht nur aus dem Wert der Firma an sich, also dem üblichen «Multiple» auf den Umsatz. Vielmehr soll Moneypark ein wichtiger Ankerpunkt im Ecosystem Home der Helvetia werden und hat damit einen Wert, der über ein traditionelles Investorenverständnis hinausgeht.

Aus Konkurrenten werden Partner


Bei einer Wachstumsstrategie im traditionellen Management werden neue Märkte anhand der Marktattraktivität und des Vorhandenseins von Wettbewerbern im Segment bewertet: Bei zu vielen starken Firmen, die bereits im Markt aktiv sind, ist ein Markteintritt meist nicht empfehlenswert – unabhängig von der grundsätzlichen Attraktivität. Doch Business-Ecosystems unterliegen einer anderen Logik: Starke Player im Markt sind eine Grundvoraussetzung. Denn ohne starke Partner kann kein leistungsfähiges Ecosystem aufgebaut werden. Ein Beispiel ist das Ecosystem Green Class von BMW Schweiz. Auf dieser Basis möchte der traditionell primär auf Autos und Motorräder fokussierte deutsche Traditionshersteller entlang der Customer Journey im Bereich Mobilität wachsen. Statt Autos soll Mobilität verkauft werden, und die beinhaltet auch Zugfahren und Bikesharing. Aus traditioneller Sicht ist dieser Schritt absurd. Denn BMW verfügt über keine nennenswerten Kompetenzen im Bereich Schienenverkehr oder Bikesharing und kann deshalb kaum mit den dort schon vorhandenen Firmen wie den SBB konkurrieren. In der Logik eines Ecosystems sind diese potenziellen Konkurrenten jedoch Partner. Beim Ecosystem Green Class sind also auch Partner wie die SBB, Park and Ride, Mobility Carsharing und Publibike.

Die Produkte von Business-Ecosystems haben traditionellen Produkten gegenüber einen Wettbewerbsvorteil. Um konkurrenzfähig zu bleiben, wird es für Firmen essenziell, sich in Business-Ecosystems zu engagieren. Dies setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, mit anderen Firmen offen und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel ist das Start-up Blue ID. Es bietet Kunden die Möglichkeit, über einen temporär gültigen Zugangscode auf dem Smartphone die Türen von speziell ausgerüsteten Fahrzeugen zu öffnen. Bei der Entwicklung dieser Lösung arbeiten die Spezialisten von Blue ID Hand in Hand mit Mitarbeitern von grossen Automobilfirmen und Autovermietungen. Das wäre sicherlich ein Albtraum für viele traditionell denkende Entwicklungsleiter, die in Firmengrenzen und Geheimhaltung denken und stolz auf die spezifische Kultur des eigenen Entwicklungsteams sind.

Chancen für Kleinunternehmen


Ein Vorteil von grossen gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen sind Skaleneffekte sowie die überlegene Ausstattung mit Ressourcen. Doch Ecosystems können mit Grossunternehmen zumindest gleichziehen oder sie sogar übertreffen. Denn in einem Ecosystem können mehrere Spezialisten kooperieren, die jeweils in ihrem Feld hervorragende Ressourcen und hohe Stückzahlen erreichen. Tailored Fits beispielsweise orchestriert als Start-up mit lediglich zwei Mitarbeitern ein Netzwerk aus spezialisierten Partnern und fordert damit die Riesen der Sportartikel-Branche heraus. Flexible und auf ihre Kernkompetenzen bedachte KMU und Start-ups sind deshalb die kommenden Player in einer von Ecosystems dominierten Wirtschaft. Das sind gute Aussichten für die von KMU dominierte Schweizer Wirtschaft!

Das Management von Business-Ecosystems liegt an der Schnittstelle mehrerer traditioneller Funktionalbereiche wie z. B. Vertrieb, Business Development, Partnermanagement, Strategie und Innovation. Das Ecosystem-Management beinhaltet Aspekte dieser Bereiche und substituiert sie mitunter sogar wie etwa beim Vertrieb von Produkten über Ecosystem-Partner anstatt über den eigenen Vertrieb. Ecosystem-Manager haben daher eine Schnittstellenposition. Wichtig für diese Aufgabe ist es, dass der Manager eine empathische Person ist, die es schafft, die Beziehungen mit den Mitarbeitern der involvierten Partnerunternehmen zu pflegen. Gerade in der Schweizer Wirtschaftswelt, die auf Vertrauen basiert, ist dies ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Das Management eines Ecosystems wird auch in Zukunft keine Arbeit mit geregelten Zeiten sein. Insbesondere bei der gemeinsamen Produktentwicklung und in der Anfangsphase entstehen immer wieder Probleme, die oft auch ausserhalb der üblichen Arbeitszeiten gelöst werden müssen. In Ecosystems mit internationalen Partnern sind zudem interkulturelle Kompetenz, Mehrsprachigkeit und Interdisziplinarität essenziell. Und schliesslich darf die firmenpolitische Komponente nicht vergessen werden. Denn oftmals kanibalisieren Initiativen von Ecosystems das Kerngeschäft oder stellen eine neue, firmeninterne Konkurrenz dar. Ein Ecosystem-Manager braucht deshalb auch viel politisches Geschick und Verständnis.

  1. Atluri, Venkat; Miklos Dietz und Nicolaus Henke (2017). Competing in a World of Sectors Without Borders, in: McKinsey Quarterly 3-2017. []

Zitiervorschlag: Bernhard Lingens, Oliver Gassmann, (2018). Das Ende des Branchendenkens. Die Volkswirtschaft, 18. Juni.