Was im Fussball gilt, gilt auch im Büro: Ein Chef muss empathisch sein und die Stärken seiner Mitarbeiter erkennen. Ex-YB-Trainer Adi Hütter umarmt Kevin Mbabu. (Bild: Keystone)
Ein guter Eindruck der allgemeinen Gemütslage in einer grossen Organisation entsteht beim Besuch der Kantine.[1] Aufschluss gibt dabei weniger das servierte Mittagessen als die Gespräche, welche die Mitarbeiter untereinander führen. Neben Krautsalat und Bolognese kommt weitgehend ungefiltert auf den Tisch, was die Mannschaft bewegt: die laufende Umstrukturierung, die Ungewissheit über die strategische Ausrichtung, die Flut an Prozessen und Gremien. Auf dem Weg zur Geschirrrückgabe ist dann häufig der resignierte Satz zu hören: «Wer weiss, wohin das alles führen wird.» Hört man genauer hin, wird deutlich, dass der Grad an Verunsicherung und Frustration zunimmt. Firmen, die über Jahrzehnte ihren Markt dominiert und gelenkt haben, scheinen heute vielfach mehr Getriebene als Treiber zu sein. Warum ist das so?
Welt im Wandel
Erkenntnisse aus der Strategie- und Leadership-Forschung belegen, dass sich die übergeordneten Rahmenbedingungen für Organisationen fundamental geändert haben. Den Kern dieser neuen Dynamik bilden drei Megatrends. Erstens erweitert die Globalisierung das Spielfeld. Globale Absatzpotenziale gehen einher mit mehreren Einflussfaktoren, welche die Entscheidungsträger beachten müssen. Zweitens befeuert die Digitalisierung auf technologischer Ebene eine immer rasantere Wettbewerbsdynamik. Die alten Wettbewerbsvorteile mancher Konzerne werden herausgefordert von agilen Start-ups, die mit digitalen Geschäftsmodellen nicht länger von kostspieligen Ressourcen abhängig sind. Und drittens vollzieht sich im Windschatten dieser Entwicklungen ein gesellschaftlicher Wertewandel: Organisationen müssen heute die heterogenen Ansichten und Eigenarten vieler unterschiedlich tickender Generationen miteinander in Einklang bringen. Besonders die Jungen haben ganz andere Ansprüche an ihre Arbeit. Statt hierarchische Strukturen und nüchterne Erfolgskennzahlen als gegeben zu akzeptieren, streben sie nach Gestaltungsfreiräumen und gesellschaftlichem Beitrag.
Zusammenfassend spricht die Forschung von einem Unternehmensumfeld, das immer volatiler, unsicherer, komplexer und ambivalenter wird. Schwankungen werden heftiger, Trends kurzlebiger. Wurde früher noch mit einem Horizont von zehn Jahren geplant, geht heute so mancher Weltkonzern über zu einer Grobplanung von Jahr zu Jahr. Langfristiger Erfolg scheint heute weniger berechenbar zu sein. Er ist vielmehr abhängig von mehreren, miteinander verflochtenen Einflussfaktoren. Während die Marktforschung allenfalls Anhaltspunkte liefert, bleiben Kundenwünsche heute häufig nebulös und unklar. In diesem Umfeld unternehmerische Entscheidungen zu treffen, heisst vielfach, den Mut zu haben, Ambivalenz und Grautöne zuzulassen. Gentechnik, Datenschutz, Elektromobilität – differenzierte Antworten auf die Fragestellungen unserer Zeit bedingen meist ein abwägendes «Sowohl-als-auch» statt trennscharfer Unterteilungen in Schwarz und Weiss.
Der Wandel an sich ist dabei nicht das Problem. Er wird erst dann zum Problem, wenn Führungsverantwortliche sich ihm nicht stellen und sich an überkommene Leitbilder klammern. Klar ist, dass die prozess- und sicherheitsorientierten Führungsprinzipien der weitgehend planbaren Achtziger-, Neunziger- und Nullerjahre nicht mehr zur heutigen Welt passen. Was also zeichnet moderne Führung aus?
Vom Krieger zum König
Nicht wenige Führungskräfte beschreiben ihre tägliche Arbeit als Krieg. Gemeint ist ein Dauerzustand der Problem- und Krisenbewältigung, in dem klassische Führungsthemen wie Konzept- und Mitarbeiterentwicklung auf der Strecke bleiben. Diese Sichtweise ist verständlich. Aber sie ist nicht zielführend. In der heutigen Umbruchphase sind viele Firmen permanent «overmanaged» und weitgehend «underled». Das bedeutet: Mehr denn je droht die Gefahr, sich im Mikromanagement zu verlieren, anstatt das Team gesamthaft auf Zukunftskurs zu halten. Dieses Problem wird von immer mehr grossen Organisationen erkannt. Nie war deshalb engagierte Führung gefragter als heute. Das Ziel muss sein, vom hektischen Feuerlöschen und nervösen Diskutieren hin zum Gestalten und Handeln zu kommen. Diese Transformation muss auf Führungsebene selbst vollzogen werden und gleicht in zwei wesentlichen Schritten einer Wandlung vom Krieger zum König.
Dazu muss man sich erstens eingestehen, dass effektives Führen heute nicht mehr bedeuten kann, jede Schlacht allein in der vordersten Reihe zu schlagen. Vielmehr sollte man – einem wohlwollenden König gleich – auf die Fähigkeiten der Mitarbeiter vertrauen und sie befähigen, dieser positiven Erwartungshaltung gerecht zu werden. Diesem Ansatz liegt ein Menschenbild zugrunde, wonach sich Menschen grundsätzlich einbringen und engagieren wollen – sofern man sie lässt und dazu ermutigt.
Zweitens gilt es, die emotionale Komponente von Führung zu stärken. Dies hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern mit Kompetenz. Bis heute machen in den meisten Organisationen besonders diejenigen Mitarbeiter Karriere, die in erster Linie fachlich kompetent sind. Dabei wird nur selten berücksichtigt, inwiefern diese Menschen andere führen und für gemeinsame Ziele begeistern können. Moderne Firmen werden aber gerade diese emotionalen Führungskompetenzen immer stärker beachten müssen.
Den Schwarm aktivieren
Um die steigende Komplexität im Organisationsumfeld zu meistern, bedarf es der gebündelten Intelligenz aller Mitarbeiter. Gute Entscheidungen sind daher immer mehr das Ergebnis von dezentralen und partizipativen Moderationsprozessen. Hinter der Logik der Schwarmintelligenz steckt die Erkenntnis, dass gelebte Vielfalt langfristig die zunehmende Komplexität besser absorbieren kann als ein mutmassliches Universalgenie allein. Die Führungskraft von morgen muss deshalb den Schwarm unternehmensweit und über bestehende Silos hinweg aktivieren können.
Daraus ergeben sich zwei Handlungsfelder. Erstens müssen Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern das gemeinsame «Wozu» des täglichen Arbeitens schärfen und kommunizieren. Denn aus der Forschung weiss man: Motivationspotenziale auf individueller und organisationaler Ebene werden dann freigesetzt, wenn sich Mitarbeiter an einem übergeordneten Sinn orientieren können und den eigenen Beitrag als integralen Teil von etwas Grösserem wahrnehmen. Zweitens liegt es im Verantwortungsbereich der Führungskraft, ein offenes, vertrauensvolles Klima zu schaffen, in dem sich Mitarbeiter mit ihren Ideen eigeninitiativ einbringen können. Schwarmintelligenz kann sich dann entfalten, wenn es geschätzt und gefördert wird, Dinge zu hinterfragen, Vorschläge einzubringen und in vernünftigem Ausmass auch Risiken einzugehen.
Individuelle Stärken fördern
Trotzdem: In regelmässigen Abständen trifft man heute auf Führungskräfte, welche die Sinnhaftigkeit eines positiven, am Mitarbeiter ausgerichteten Führungsleitbildes bezweifeln. «Alles schön und gut», sagen sie dann, «aber bei meiner Truppe wird das alles nicht helfen – die wollen einfach nicht!» Diese Einstellung wurde jedoch von der Leadership-Forschung als Ausrede und Trugschluss entlarvt. Längst weiss man: So etwas wie ein schlechtes Team gibt es nicht – es gibt nur schlechte Leader. Wie ein Trüffelschwein sollten daher Chefs die einzigartigen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter identifizieren und deren Potenziale für das gemeinsame Ziel entfalten. Dazu ist es nötig, eine empathische, am Erfolg der einzelnen Mitarbeiter interessierte Grundhaltung einzunehmen.
Eine stärkenorientierte Führungsperson stellt sich in den Dienst des Mitarbeitererfolgs und eröffnet Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Aus einem Job wird so die Chance, das eigene Leben zu gestalten und persönlich zu wachsen. Und genau das kann den Unterschied machen in einer Welt, in der Engagement und Einsatz erfolgentscheidender denn je sind. Vorgesetzte, die das verstanden haben, geben ihren Mitarbeitern eine klare Botschaft mit: «Du bist mit Zielen hergekommen, vielleicht sogar mit Träumen. Und du bringst eine Reihe von individuellen Stärken mit. Jetzt bekommst du die Chance, diese Stärken einzusetzen und deinen Traum zu leben.»
- Dieser Artikel basiert auf dem neuesten Buch des Autors: Wolfgang Jenewein (2018). Warum unsere Chefs plötzlich so nett zu uns sind und warum sie es wahrscheinlich sogar ernst meinen. Ecowin Verlag: Wals bei Salzburg. []
Zitiervorschlag: Jenewein, Wolfgang; Böhm, Oliver (2018). König, Schwarm und Trüffelschwein. Die Volkswirtschaft, 25. Juni.