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Europas Konjunktur im politischen Minenfeld

Die europäische Konjunktur hat nach dem Höhepunkt im vergangenen Jahr an Dynamik verloren. Wie lange der Aufschwung noch anhält, hängt auch von der Entwicklung des internationalen Handelskonflikts ab. Die verbleibende Zeit sollte für strukturelle Reformen genutzt werden.
Fabriken in Europa sind stark ausgelastet. BMW-Werk in Leipzig. (Bild: Keystone)

Die europäische Konjunktur hat nach dem Höhepunkt im Jahr 2017 an Schwung verloren, doch noch herrscht in weiten Teilen Europas Hochkonjunktur. Diese Überauslastung – gepaart mit Zuwachsraten, die über dem Produktionspotenzial liegen – kann als Kulminationspunkt eines teilweise zähen konjunkturellen Erholungs- und Aufschwungsprozesses seit der Wirtschaftskrise 2011/2012 interpretiert werden (siehe Abbildung 1).

Mit der europäischen Staatsschulden- und Bankenkrise brach das teilweise schuldengetriebene Wachstumsmodell zusammen, und der Euroraum fiel in den Jahren 2011 und 2012 in eine Rezession. Ein einsetzender Entschuldungsprozess bei Unternehmen und Haushalten, partielle Kreditklemmen, negative Fiskalimpulse durch staatliche Konsolidierungsbemühungen und eine hohe Unsicherheit drückten auf die gesamtwirtschaftliche Aktivität. Vor allem die südeuropäischen Volkswirtschaften und Irland litten stark unter der Krise. Aber auch Deutschland machte eine wirtschaftliche Schwächephase durch, unter anderem, da die südeuropäischen Länder weniger deutsche Produkte nachfragten. Infolge der Krise stieg die Arbeitslosigkeit in Europa deutlich an, was sich über einen gedämpften privaten Konsum wiederum negativ auf die Produktion auswirkte.

Abb. 1: BIP-Zuwachs, Konsum, Investitionen und Aussenhandel in Europa (seit 2010)




Quellen: Eurostat, Seco / Die Volkswirtschaft

Hohe Dynamik im Jahr 2017


Im Jahr 2013 setzte eine konjunkturelle Erholung im Euroraum ein, die allerdings zunächst aufgrund der oben genannten Hemmnisse bescheiden ausfiel. So sank die Arbeitslosigkeit, welche im Frühjahr 2013 mit 12,1 Prozent im Euroraum eine historisch hohe Quote erreicht hatte, zunächst nur marginal. Die starke Unterauslastung der Produktionskapazitäten und vor allem der Verfall der Rohstoffpreise in den Jahren 2014 und 2015 führten zu einer sinkenden Inflation und zu entsprechenden Reallohnzuwächsen. In der Folge belebte sich der private Konsum, was die gesamtwirtschaftliche Erholung massgeblich beeinflusste.

Erst ab der zweiten Jahreshälfte 2015 zogen auch die Investitionen wieder an. Die stark expansiv ausgerichtete Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte hierbei zumindest über die Schwächung des Euro eine Rolle gespielt haben. Zwar war die europäische Binnenkonjunktur bereits im Jahr 2016 auf einem guten Pfad. Allerdings wurde die Gesamtkonjunktur temporär durch eine schwache Exportentwicklung gedämpft, welche unter anderem aus einer zuvor flauen Konjunkturentwicklung in den USA und China resultierte. Im Jahr 2017 zog die globale Nachfrage wieder an, und in der Folge expandierte auch die Wirtschaft des Euroraums kräftig.

In Grossbritannien – hinter Deutschland die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas – setzte sich die konjunkturelle Entwicklung ab 2013 zunächst von der Entwicklung im Euroraum ab und verzeichnete unter anderem aufgrund einer lockeren Geldpolitik einen kräftigen Aufschwung. Infolge des Brexit-Entscheids vom Sommer 2016 schwächte sich die britische Konjunktur allerdings ab.

In der Schweiz dämpften ab 2013 eine schwache Nachfrage und ein – trotz Wechselkursuntergrenze – starker Franken die Entwicklung der Exportwirtschaft. Der kräftige Aufschwung, der sich ein Jahr später anbahnte, wurde mit der Aufhebung des Euromindestkurses im Januar 2015 im Keim erstickt. Erst 2017 konnte die Wirtschaft wieder vermehrt vom europäischen Aufschwung profitieren.

Überauslastung im Industriesektor


Die Produktionslücke in der EU hat sich im Verlauf des Jahres 2017 geschlossen (siehe Abbildung 2). Dies zeigen die Potenzialschätzungen der Europäischen Kommission, allerdings sind Potenzialschätzungen im Allgemeinen mit einer hohen statistischen Unsicherheit behaftet.[1]

Seither ist die Wirtschaft in eine Phase zunehmender Überauslastung eingetreten: Gemäss den EU-weiten harmonisierten Konjunkturumfragen sind die technischen Kapazitäten im Industriesektor bereits stark überdurchschnittlich ausgelastet. Zudem signalisieren die Unternehmen zunehmend, dass ihre Kapazitäten nicht mehr ausreichen, um den Auftragseingängen nachzukommen.

Abb. 2: Produktionslücke und Kapazitätsauslastung in der EU (seit 2001)


08/09_2018 Mikosch_Sturm Abb. 2



Quelle: Europäische Kommission, KOF / Die Volkswirtschaft

Aufschwung verliert an Fahrt


In der ersten Hälfte dieses Jahres hat die wirtschaftliche Dynamik nach dem Höhepunkt im Jahr 2017 erwartungsgemäss etwas an Schwung verloren. Der Hauptgrund für die konjunkturelle Verlangsamung dürfte die zunehmende gesamtwirtschaftliche Überauslastung sein. Dämpfend wirken auch die Aufwertung des Euro um real effektiv rund 6 Prozent im Jahr 2017 sowie politische Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem internationalen Handelskonflikt sowie der Finanzpolitik Italiens. Allerdings sind die konjunkturellen Auftriebskräfte weiterhin intakt. Zum einen wurde die konjunkturelle Grundtendenz in der ersten Jahreshälfte 2018 durch verschiedene Sondereffekte im Vorquartal etwas unterzeichnet – so führte die langwierige Koalitionsbildung in Deutschland zu Beschränkungen beim Staatskonsum, und in Frankreich dürften die anhaltenden Streiks die Produktion gehemmt haben. Zum anderen sind die fiskal- und geldpolitischen Rahmenbedingungen weiterhin günstig.

Die Entlastung der Staatshaushalte durch die niedrigen Zinsen nimmt weiter zu, da immer noch höher verzinsliche Altanleihen durch niedrig verzinsliche Neuanleihen abgelöst werden. Zudem führt der kräftige Aufschwung zu steigenden Steuereinnahmen. Dies verleitet manche EU-Staaten zu höheren Ausgaben: Die Regierungen nutzen die Zinsentlastung und die Steuermehreinnahmen, um den fiskalischen Expansionsgrad zu erhöhen, ohne eine deutliche Verschlechterung der Budgetsalden hinnehmen zu müssen.

Von der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank gehen zwar nicht mehr im gleichen Masse Impulse auf die Konjunktur aus wie zuvor. Doch dürfte die Institution ihre Geldpolitik weiterhin expansiv ausrichten. Zwar ist die Inflation aufgrund vergangener Energiepreiserhöhungen zuletzt deutlich angestiegen, die Kerninflation liegt aber immer noch auf einem moderaten Niveau. Auch in Grossbritannien dürfte die Geldpolitik insgesamt unterstützend ausgerichtet bleiben. Zwar wuchs dort die Inflation unter anderem durch die Abwertung des Pfund nach dem Brexit-Entscheid auf zeitweise über 3 Prozent. Allerdings wird die Bank of England während der mit hoher Unsicherheit behafteten Phase der Austrittsverhandlungen wohl keine geldpolitische Straffung riskieren.

Verschiedene Frühindikatoren deuten darauf hin, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in Europa im weiteren Verlauf dieses Jahres weiterhin überdurchschnittlich expandieren wird – allerdings bei Weitem nicht mehr mit dem gleichen Tempo wie im letzten Jahr.[2] So sank der von der Europäischen Kommission publizierte Economic Sentiment Indicator für den Euroraum nach einem Siebzehnjahreshoch im vergangenen Dezember mehrere Monate in Folge. Der Indikator basiert auf der Aggregation einer Vielzahl von Umfrageindikatoren. Mit 112,5 Punkten liegt der Maiwert aber immer noch deutlich über dem historischen Durchschnitt von 100,6 Punkten sowie über der Obergrenze des von der Europäischen Kommission angegebenen Normalbereichs von 90 bis 110 Punkten.

Drohender Handelskonflikt


Ein konjunkturelles Risiko stellt der internationale Handelskonflikt zwischen den USA und ihren Handelspartnern dar. Anfang Juni setzten die USA Strafzölle von 25 bzw. 10 Prozent auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der EU, Kanada und Mexiko in Kraft. Zwar ist der Anteil von Stahl und Aluminium am Gesamthandel marginal. Allerdings dürfte der Konflikt die Stimmung der Wirtschaftsakteure beeinträchtigen und ihre Unsicherheit erhöhen. Hieraus dürften negative Effekte auf den internationalen Handel und die Investitionen resultieren. Die Massnahme steigert auch das Risiko einer Eskalation des Handelskonflikts. Die EU sieht die Handelsbarrieren als Verletzung von WTO-Vereinbarungen und kündigte Vergeltungszölle ab Juli an. US-Präsident Donald Trump erklärte, in diesem Falle werde er ebenfalls mit substanziellen Vergeltungsmassnahmen reagieren. Zudem besteht die Möglichkeit, dass die EU die eigenen Schutzzölle erhöht, um eine aus Exportumlenkungen resultierende Stahl- beziehungsweise Aluminiumschwemme im eigenen Wirtschaftsraum zu verhindern.

Ein weiteres Risiko geht von der künftigen Preisentwicklung aus. Die Finanzmärkte – wie auch die KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich – erwarten einen allmählichen Anstieg der Kerninflation. Angesichts der hohen und weiterhin steigenden Gesamtauslastungsraten und der hohen Liquidität infolge der jahrelangen expansiven Geldpolitik könnte die Inflation jedoch deutlich schneller steigen als erwartet. In diesem Fall würde sich eine schnellere Straffung der Geldpolitik ergeben. Dies würde nicht nur die Finanzierungsbedingungen für den privaten Sektor verschlechtern, sondern auch zu einer Korrektur von Vermögenspreisen, zum Beispiel von Aktien- und Immobilienpreisen, führen, die in den letzten Jahren in vielen Ländern stark gestiegen sind.

Sich für die nächste Krise wappnen


Die EZB hat durch ihre expansive Geldpolitik Zeit erkauft. Diese Zeit wird aber von den nationalen Regierungen – mit Ausnahme Frankreichs – nicht für strukturelle Reformen genutzt. In den meisten Ländern agiert die Finanzpolitik prozyklisch, die Verschuldung in Europa befindet sich weiterhin auf sehr hohem Niveau.

Im Zuge einer geldpolitischen Normalisierung wird die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte wieder zunehmen. Die davon ausgehenden negativen Fiskalimpulse werden den Wirtschaftsgang schwächen. Sollte in dieser Phase die wirtschaftliche Entwicklung zum Beispiel aufgrund von externen Schocks zusätzlich beeinträchtigt werden, könnte im Zuge einer konjunkturellen Schwäche die Schuldenkrise im Euroraum wieder aufbrechen. Gerade aufgrund der hohen Verschuldung und der ungelösten Strukturprobleme in Italien könnte die Krise dann noch explosiver werden als die letzte. Denn Italien lässt sich aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts nicht so einfach retten wie etwa Griechenland. Einen Vorgeschmack auf diese Situation gab die politische Krise in Italien im Mai, während der die Risikoprämien auf italienische Staatsanleihen zeitweise kräftig anstiegen.

Die europäischen Regierungen sind daher in der Pflicht, weitere Strukturreformen zur Stärkung der Wachstumskräfte anzugehen. Auch die EU muss weiter reformiert werden. Insbesondere gilt es, die Bankenunion weiter voranzutreiben und einen Europäischen Währungsfonds aufzubauen. Dies sollte vor dem nächsten Konjunkturabschwung getan werden, denn die Kosten für das Nichtstun sind gross und steigen, je länger zugewartet wird.[3] Wie die Eurokrise gezeigt hat, wird die Schweiz im Herzen Europas ebenfalls betroffen sein.

  1. Siehe zum Beispiel Michael Graff und Jan-Egbert Sturm (2012), The Information Content of Capacity Utilization Rates for Output Gap Estimates, CESifo Economic Studies, 58:1, 220–251. []
  2. KOF-Prognosen sind unter www.kof.ethz.ch abrufbar[]
  3. Siehe beispielsweise Nauro Campos und Jan-Egbert Sturm (eds.) (2018), Bretton Woods, Brussels and Beyond: Redesigning the Institutions of Europe? CEPR Press, 29. Mai. []

Zitiervorschlag: Heiner Mikosch, Jan-Egbert Sturm, (2018). Europas Konjunktur im politischen Minenfeld. Die Volkswirtschaft, 19. Juli.