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Arbeitsmarktintegration: Am gleichen Strick ziehen

Um Personen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, braucht es eine stärkere Zusammenarbeit der sozialen Institutionen. Ein Gutachten im Auftrag des Seco erteilt aus rechtlicher Sicht grünes Licht.
Wie bringt man gesundheitlich beeinträchtigte Personen zurück in den Arbeitsmarkt? Integrationsprojekt in St. Gallen. (Bild: Keystone)

Wenn in der Schweiz eine Person mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in den Erwerbsprozess zurückkehren soll, sind oft viele eigene Anstrengungen und Unterstützungsmassnahmen von Dritten nötig. Je nach Fall sind mehrere Institutionen involviert.

Im schweizerischen Sozialsystem deckt jede Institution spezifische Risiken ab und ist auf bestimmte Anspruchsgruppen ausgerichtet. Während sich beispielsweise die Arbeitslosenversicherung (ALV) um Stellensuchende kümmert, liegt der Fokus der Invalidenversicherung (IV) auf den Folgen von Krankheiten und Unfällen. Nebst diesen beiden Sozialversicherungen spielen bei der Arbeitsmarktintegration zudem die Berufsbildung, die Sozialhilfe und der Migrationsbereich eine wichtige Rolle.

Mit dieser strikten Ausrichtung der einzelnen Institutionen wird eine hohe Effizienz für die eigene Zielgruppe erreicht. Gleichzeitig bringt die Differenzierung auch Schwierigkeiten mit sich – insbesondere bei Mehrfachproblematiken oder wenn die Art des Risikos unklar ist. Kann jemand nicht eindeutig einer Institution zugeordnet werden, gerät das System an seine Grenzen. In komplexen Fällen droht für die Betroffenen ein erschwerter Zugang zur sozialen Absicherung, oder die Dauer bis zur erforderlichen Unterstützung verlängert sich.

Der Anteil dieser Betroffenen mit komplexen Problemstellungen ist in den einzelnen Institutionen zwar verhältnismässig klein, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die betroffenen Menschen sind jedoch oftmals bedeutsam. Zudem verursacht eine missglückte soziale oder berufliche Integration hohe volkswirtschaftliche Folgekosten. Das Risiko einer Aussteuerung, einer IV-Berentung, einer dauerhaften Sozialhilfeabhängigkeit oder des Pendelns zwischen den Institutionen aufgrund verfehlter Integrationsbemühungen kann mit der interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) verringert werden. Um die Kompetenzen gezielt einsetzen zu können, müssen die Institutionen die gegenseitigen Abläufe kennen.

Koordinationsstelle auf nationaler Ebene


Im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sind die Koordinationsgrundsätze festgehalten und in Spezialgesetzgebungen präzisiert. Allerdings sind die Bestimmungen meist entschädigungsorientierter oder technischer Natur.

Um die interinstitutionelle Zusammenarbeit bei der Arbeitsmarktintegration zu verbessern, haben Bund, Kantone, Gemeinden und weitere Akteure im Jahr 2010 das nationale IIZ-Steuerungsgremium gegründet.[1] Ziel ist es, die Chancen auf Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen und die verschiedenen Systeme optimal aufeinander abzustimmen. Die IIZ ermöglicht den Beteiligten, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren, die finanziellen Mittel gezielt einzusetzen und benötigte anderweitige Fachunterstützung bei den Partnern einzuholen.

Während der Bund die IIZ auf nationaler Ebene koordiniert, findet deren Umsetzung in den kantonalen Strukturen unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt. Verschiedene Kantone kennen Kooperationsprojekte, mit welchen durch eine intensivierte Zusammenarbeit das eingliederungsspezifische Synergiepotenzial der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), der Sozialdienste und/oder der Stellen der Invalidenversicherung im Interesse der unterstützten Person genutzt wird (siehe Kasten).

Fallführung aus einer Hand


Bei der Umsetzung verschiedener IIZ-Projekte hat sich im Frühling 2017 in entscheidenden Punkten Klärungsbedarf ergeben. Deshalb hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zwei Gutachten bei Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht, in Auftrag gegeben.[2]

Das erste Gutachten befasst sich mit der Zusammenarbeit. Dabei werden insbesondere die Möglichkeit einer Übertragung der Fallverantwortung von der primär zuständigen Institution an eine andere und die Möglichkeit eines befristeten Verzichts auf den Nachweis von Arbeitsbemühungen behandelt. Grundsätzlich gilt: Die Fallführung soll durch die am besten geeignete Institution «aus einer Hand» erfolgen. Die Eignung bestimmt sich nach den Eigenschaften und Bedürfnissen der betreffenden Einzelperson immer mit dem Ziel einer raschen und nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt. Das Gutachten zeigt auf, dass hier viele Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. So können komplexe Fälle an eine Institution befristet übertragen werden. Eine weitere Möglichkeit wäre es, eine Wiedereingliederungsstelle zu schaffen, welche solche Fälle befristet betreuen würde.

Beispielsweise wurde geprüft, ob die Arbeitslosenversicherung vorübergehend auf einen Nachweis von Arbeitsbemühungen verzichten könnte. Derzeit ist ein solcher Nachweis zwingend, um in den Genuss von einer Arbeitslosenentschädigung zu kommen. Das Gutachten kommt zum Schluss, dass diese Pflicht bei einer sozialen Eingliederung oder einer Stabilisierung eines Betroffenen für bis zu drei Monate ausgesetzt werden kann.[3] In Ausnahmefällen und mit individueller Begründung kann eine längere Frist gewährt werden.

Datenschutz gewährleisten


Das zweite Gutachten widmet sich der Frage des Datenaustauschs beziehungsweise der Datenbearbeitung im Informationssystem für die Arbeitsvermittlung und die Arbeitsmarktstatistik (Avam). Dabei interessiert insbesondere, ob bei einer Aufgabendelegation oder einer Fallübertragung Besonderheiten gelten und wie die Anforderungen des Datenschutzes zu konkretisieren sind. Wie das Gutachten aufzeigt, ist ein Datenaustausch innerhalb von bestimmten Grenzen möglich. So muss die betroffene Person ihre Einwilligung geben. Einschränkend zu beachten ist, dass die Bearbeitung von Avam-Daten nur durch die Vollzugsstellen der ALV zulässig ist. Dazu wäre eine entsprechende Anpassung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (Avig) notwendig.

Die Rechtsgutachten liefern Klarheit bezüglich Möglichkeiten und Grenzen einiger Aspekte der interinstitutionellen Zusammenarbeit. Dadurch erhalten die Kantone eine bestätigte rechtliche Grundlage zur Zusammenarbeit und bessere Planungssicherheit.[4]

  1. Siehe www.iiz.ch[]
  2. Gestützt auf Art. 85f des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (Avig) (Förderung der interinstitutionellen Zusammenarbeit) und unter Berücksichtigung der dazugehörigen Botschaft (BBI 2001 2298). []
  3. Gestützt auf Art. 85f Avig. []
  4. Die beiden Gutachten werden an der St. Galler Datenschutztagung vom 12. September 2018 in Zürich vorgestellt. Weitere Informationen unter https://irp.unisg.ch/de/weiterbilden[]

Zitiervorschlag: Carmen Schenk, Ueli Kieser, (2018). Arbeitsmarktintegration: Am gleichen Strick ziehen. Die Volkswirtschaft, 19. Juli.

Beispiele interinstitutioneller Zusammenarbeit (IIZ) aus den Kantonen

Waadt: Mit dem Dispositiv «Unité Commune ORP-CSR» wollen das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) und das Centre Social Régional (CSR) der Stadt Lausanne den sozialen und beruflichen Ausschluss bekämpfen. Indem die Kompetenzen und Ressourcen der beiden Institutionen gebündelt werden, sollen Sozialhilfeempfänger vermehrt in den Arbeitsmarkt zurückkehren. So soll insbesondere die individuelle Betreuung gestärkt werden.

Freiburg: Der «Integrationspool+» ist ein Betreuungssystem zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Für intensives Coaching und individuelle Lösungen arbeiten Personalberater und Sozialarbeiter in derselben Struktur und am selben Ort eng zusammen und begleiten Menschen in schwierigen Phasen bei der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung während maximal neun Monaten.

Aargau: Das geplante Konzept «Pforte» will die Zusammenarbeit zwischen dem Amt für Wirtschaft und Arbeit und der Sozialversicherungsstelle des Kantons (SVA/IV-Stelle) vertiefen. Das Ziel ist es, die Wirkung im Bereich der Arbeitsintegration zu verbessern. Kernpunkt der Kooperation ist die Aufteilung und Zuteilung von Aufgaben. Dadurch sollen Doppelspurigkeiten sowohl gegenüber den Klienten als auch den Arbeitgebenden vermieden werden. Diese Aufgabenzuteilung wird ergänzt durch übergreifende, abgestimmte Prozesse und Informationsaustausch. Gemeinden bzw. Sozialhilfebeziehende profitieren im Bereich der Arbeitsintegration von erweiterten Dienstleistungen der beiden Partner.