«Was andere Staaten tun, ist für uns entscheidend – das ist pures Eigeninteresse», sagt Umweltbotschafter Franz Perrez. (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)
Der Sommer 2018 war einer der wärmsten seit Messbeginn. Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen?
Persönlich habe ich den warmen Sommer genossen, auch wenn es zwischendurch beinahe tropisch war. Aber der Prozess des globalen Klimawandels macht mir grosse Sorge.
Die Klimaerwärmung soll auf deutlich unter 2 Grad Celsius beschränkt werden: Das sind die Ziele des Pariser Abkommens von 2015. Geht man dabei bis an die Schmerzgrenze des Machbaren?
Gemäss Pariser Abkommen soll der Temperaturanstieg sogar auf 1,5 Grad beschränkt werden. Wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, sind «die Schmerzen» viel grösser.
Inwiefern?
Extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen und starke Regenfälle werden zunehmen, der Permafrost wird auftauen, Infrastrukturen sind gefährdet, neue Krankheiten werden in der Schweiz heimisch, und international nimmt die Instabilität zu. Da kommen riesige Kosten auf uns zu. Die Schweiz ist besonders betroffen.
Ein globaler Temperaturanstieg von 2 Grad bedeutet bei uns ein Anstieg von 4 Grad.
Warum ist das so?
Die Erwärmung auf den Kontinenten – besonders in den kalten Regionen der Alpen – ist höher als der globale Durchschnitt, der durch die Ozeane gemildert wird. Ein globaler Temperaturanstieg von 2 Grad bedeutet bei uns ein Anstieg von 4 Grad. Das ist massiv. Aber wir können damit besser umgehen als beispielsweise ein Entwicklungsland wie Bangladesch.
Einige Klimaforscher fordern, Investitionen in die Förderung von Kohle, Öl und Gas zu verbieten. Was halten Sie davon?
Gemäss Pariser Abkommen müssen die Investitionen von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern verschoben werden. Daher setzen wir uns zum Beispiel bei der Weltbank dafür ein, dass keine Investitionen mehr in Kohlekraftwerke fliessen. Kommt hinzu: Private Investoren sind immer weniger bereit, in Kohle und Öl zu investieren, da sich das in der langen Frist wirtschaftlich nicht mehr lohnt: Bereits heute ist Solarstrom oft günstiger als Strom aus Kohlekraftwerken.
Der Markt wird es richten?
Ja – sofern die politischen Leitplanken vorhanden sind. Dann besteht ein unglaubliches Innovationspotenzial.
Nicht alle Staaten begrüssen strenge politische Vorgaben. Wo verlaufen die Konfliktlinien beim Pariser Abkommen?
Der Hauptkonflikt besteht zwischen Industriestaaten und armen Entwicklungsländern auf der einen Seite und Schwellenländern mit grossen Emissionen auf der anderen Seite. Während europäische Länder sowie Entwicklungsländer und Inselstaaten, die stark unter dem Klimawandel leiden, klare Regeln fordern, sind gewisse Schwellenländer und Ölexporteure dagegen. Eine weitere Konfliktlinie verläuft zwischen Geber- und Empfängerstaaten: Entwicklungsländer fordern mehr finanzielle Unterstützung durch die Industriestaaten. Die meisten Industriestaaten anerkennen ihre Verantwortung – verlangen aber, dass sich auch die wohlhabenderen Schwellenländer beteiligen sollen.
Es geht um viel Geld. Da reichen die öffentlichen Gelder kaum aus.
Das ist ein wichtiger Punkt: Jene Infrastrukturen, die viel CO2-Emissionen ausstossen, gehören nicht der öffentlichen Hand, sondern grösstenteils privaten Akteuren und werden durch diese finanziert. Daher gilt es, Anreize zu setzen, damit die privaten Investitionen klimafreundlicher werden. Weiter kann der Staat private Investitionen mit öffentlichen Geldern ankurbeln. Ein Beispiel sind staatliche Risikogarantien für private Investoren in klimafreundlichen Projekten.
Die USA haben im Jahr 2017 den Austritt aus dem Klimaabkommen angekündigt. Welche Folgen hat dieser Entscheid?
Kurzfristig fehlt damit in den Verhandlungen eine wichtige positive Kraft. Es besteht die Hoffnung, dass die USA doch noch im Abkommen verbleiben. Das hängt auch vom Verhandlungsergebnis an der kommenden Klimakonferenz ab. So verlangen die USA, dass für China dieselben Transparenzregeln gelten wie für sie selbst.
Was bedeutet der Austritt für die Staatengemeinschaft?
Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn der zweitgrösste Emittent aus dem Pariser Abkommen austritt. Gleichzeitig muss man festhalten: Die USA bestehen nicht nur aus Washington. Viele Bundesstaaten und Unternehmen bekennen sich weiterhin zu den Klimazielen.
Ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen fällt auf China.
Ja. Dies zeigt, dass auch die Schwellenländer in der Verantwortung stehen. Auf der Top-10-Liste der grössten Emittenten finden sich nebst China auch Indien, Russland, Brasilien, Indonesien und der Iran. Und beim Pro-Kopf-Ausstoss sind Erdölproduzenten wie Kuwait, Brunei und Katar an der Spitze. Heute oder gar für die Zukunft die Industriestaaten alleine für die Treibhausgase verantwortlich zu machen, stimmt so nicht.
Wie stark engagiert sich China gegen den Klimawandel?
Auf nationaler Ebene verfolgt China eine relativ ambitionierte Klimapolitik. Auf internationaler Ebene wehrt sich das Land nach wie vor gegen spezifische Transparenzregeln – einen zentralen Aspekt des Pariser Abkommens.
Im Dezember steht im polnischen Katowice eine weitere Klimakonferenz an. Dabei steht das Regelwerk im Zentrum. Was soll genau beschlossen werden?
In Katowice sollen die Regeln für die Umsetzung des Pariser Abkommens beschlossen werden. So haben sich die Staaten im Pariser Abkommen beispielsweise verpflichtet, alle fünf Jahre ein transparentes, klares und verständliches Klimaziel zu formulieren. Nun geht es darum, festzulegen, welche Information dazu nötig ist, damit ein Ziel transparent, klar und verständlich ist. Dazu braucht es gemeinsame Richtlinien, die für alle gelten. Ein Beispiel: China hat sein Emissionsziel relativ zum Bruttoinlandprodukt formuliert. Es ist aber nicht klar, wie China diese Kennzahl berechnet. Hier wäre mehr Transparenz erforderlich. Leider schrecken viele Staaten vor mehr Transparenz zurück.
Wer misst die Zielerreichung?
Jedes Land erstellt selber einen Bericht. Diese Berichte werden durch internationale Expertinnen und Experten überprüft.
Manchmal werden Emissionsreduktionen doppelt gezählt. Können Sie ein Beispiel machen, wie es dazu kommt.
Angenommen, ein Land investiert in Brasilien in die Aufforstung des Waldes und möchte sich einen Teil dieser Senkenwirkung an die eigene Zielerreichung anrechnen lassen, dann darf sich gemäss Pariser Abkommen Brasilien diese Reduktion nicht ebenfalls anrechnen. Derzeit fehlen aber noch Umsetzungsregeln, gegen die sich einzelne Länder wehren.
Wird man die Doppelzählungen in Katowice in den Griff kriegen?
Ich denke, es wird uns in Katowice gelingen, die Eckpunkte dafür zu beschliessen. Mehr Sorgen mache ich mir bei der Umweltintegrität.
Was bedeutet das?
Das heisst: Projekte sollen umweltinteger durchgeführt werden. Sonst besteht das Risiko, dass es sich um gar keine «echten» Emissionsreduktionen handelt. Weiter dürfen keine Anreize geschaffen werden, dass Länder ihre Klimaziele bewusst tief stecken, um mehr Emissionszertifikate verkaufen zu können. Und andere Umweltanliegen wie der Schutz der Biodiversität müssen berücksichtigt werden.
Wie kann das gelingen?
Einerseits durch robuste Regeln, die Transparenz sicherstellen. Andererseits durch eine Verpflichtung, alle Informationen rund um ausländische Emissionsminderungen öffentlich zugänglich zu machen. Der öffentliche Druck von Nichtregierungsorganisationen spielt eine wichtige Rolle.
Welche Sanktionsmöglichkeiten existieren, wenn ein Staat seine Reduktionsziele nicht erreicht?
Es gibt keine Sanktionsmöglichkeiten. Die Zielerreichung ist innerhalb des Pariser Abkommens rechtlich nicht verbindlich. Deshalb ist die Transparenz ja so wichtig, und letztendlich hat jedes Land ein Interesse, dass die Ziele erreicht werden.
Die Schweiz hat sich in Paris verpflichtet, bis 2030 ihre Emissionen gegenüber dem Stand von 1990 zu halbieren. Wie ambitioniert ist dieses Ziel?
Das ist ambitioniert. Dazu braucht es nun die entsprechende Gesetzgebung, welche zurzeit im Parlament diskutiert wird.
Langfristig muss sich natürlich auch die Schweiz in Richtung Klimaneutralität bewegen.
Laut dem geplanten CO2-Gesetz sollen 60 Prozent der Emissionen im Inland reduziert werden. Warum gibt es diese Vorgabe?
In der Schweiz ist es aufgrund der Wirtschaftsstruktur schwierig, rasch grössere Einsparungen zu erzielen. Bis der Gebäudepark saniert ist, dauert es beispielsweise mehrere Jahrzehnte. Aus globaler Sicht ist es wichtig, dass die Reduktionen rasch erfolgen. Daher will die Schweiz kurzfristig auch durch Emissionsreduktionen im Ausland einen Beitrag leisten. Langfristig muss sich natürlich auch die Schweiz in Richtung Klimaneutralität bewegen.
Wäre es nicht günstiger, alles im Ausland zu kompensieren?
Der Bundesrat hat mit guten Gründen anders entschieden. Um die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, müssen die CO2-Emissionen bis 2050 weltweit netto null betragen. Das ist nur möglich, wenn jedes Land seinen Beitrag leistet. Zudem bezweifle ich, ob Kompensationen im Ausland langfristig günstiger sind. Denn: Investitionen in klimafreundliche Technologien zahlen sich aus, da man diese in andere Länder exportieren kann. Bleibt man hingegen untätig, läuft man Gefahr, diese Technologien dereinst im Ausland einkaufen zu müssen. Die Schweiz muss sich deshalb fragen: Will sie Marktführerin oder Käuferin sein?
Warum sind die Entwicklungsländer überhaupt daran interessiert, den Industrieländern CO2-Zertifikate zu verkaufen?
Die damit verbundenen Investitionen fördern den Technologietransfer und die nachhaltige Entwicklung. Der Nutzen geht weit über die transferierten Emissionsreduktionen hinaus.
Sie leiten die Schweizer Delegation. Was kann die Schweiz international ausrichten?
Die Schweiz ist eine wichtige Stimme in den Klimaverhandlungen. Wir vertreten beharrlich eine klare, pointierte Position. Da wir nicht versteckt kurzfristige Partikularinteressen verfolgen, sind wir glaubwürdig. Und wir sind ausgezeichnet vernetzt. Als kleines Land können wir flexibel und strategisch reagieren und lösungsorientierte Vorschläge einbringen.
Die Schweiz leitet eine Verhandlungsgruppe. Diese ist mit Georgien, Liechtenstein, Mexiko, Monaco und Südkorea ziemlich heterogen zusammengesetzt. Was sind die gemeinsamen Interessen dieser sogenannten Umweltintegritätsgruppe?
Alle Mitglieder wollen ein effektives internationales Klimaregime, und alle setzen sich daher für robuste und ambitionierte Regeln ein. Die Umweltintegritätsgruppe ist zudem die einzige formelle Verhandlungsgruppe, in der sich sowohl Entwicklungs- als auch Industriestaaten finden – dementsprechend bringt sie unterschiedliche Perspektiven ein.
Was haben Sie konkret erreicht?
Die Bestimmungen des Pariser Abkommens zur rechtlichen Verbindlichkeit der Transparenzregeln gehen direkt auf Schweizer Vorschläge zurück. Auch die Konzepte betreffend Marktmechanismen sind von uns geprägt. Die Methodologie, wie mobilisierte private Mittel für die Klimafinanzierung festgelegt werden, haben wir entwickelt. Und im Waldbereich haben Schweizer Expertinnen und Experten die Konzepte entwickelt, wie man die CO2-Senkenwirkung berechnen kann.
Wie setzt sich die Delegation zusammen?
Sie besteht aus hoch kompetenten und engagierten Fachleuten aus der Bundesverwaltung – vom Bafu, dem EDA, der Deza, dem Seco und Meteo Schweiz. Mit knapp 15 Personen sind wir im internationalen Vergleich eine kleine Delegation – andere Delegationen zählen weit über 100 Personen. Das hat für uns den Vorteil, dass der Austausch in der Delegation gut funktioniert.
Haben Sie den innenpolitischen Rückhalt?
Ja. Dass man griffige internationale Regeln braucht, die für alle gelten, ist in der Schweiz anerkannt. Wir sind überproportional von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen; was andere Staaten tun, ist für uns entscheidend – das ist pures Eigeninteresse.
Wie optimistisch sind Sie im Hinblick auf die Verhandlungen in Katowice?
Es ist alles offen. Es besteht natürlich die Gefahr, dass man ungenügende Regeln mit Schlupflöchern verabschiedet. Staaten wie China, Indien, Saudi-Arabien und Ägypten versuchen griffige Transparenzregeln, die auch sie selber in die Pflicht nehmen, zu vermeiden. Das würde das Pariser Abkommen untergraben.
Gibt es ein Land, das international vorbildliche Ziele formuliert hat?
Aus Klimasicht hat kein Land genügend ambitionierte Ziele formuliert. Nichtregierungsorganisationen wie der WWF lassen daher in ihrem Ranking die ersten Plätze immer leer. Aber der dynamische Mechanismus des Pariser Abkommens – jedes Land muss alle fünf Jahre ein ambitionierteres Ziel formulieren – bringt uns hoffentlich alle auf den richtigen Kurs.
Zitiervorschlag: Blank, Susanne (2018). «Kein Land hat genügend ambitionierte Klimaziele formuliert». Die Volkswirtschaft, 23. Oktober.
Vor acht Jahren wurde Franz Perrez vom Bundesrat zum Umweltbotschafter der Schweiz ernannt. Der 51-jährige Jurist steht im Bundesamt für Umwelt (Bafu) der Abteilung Internationales vor. Franz Perrez unterrichtet als Lehrbeauftragter an der juristischen Fakultät der Uni Bern internationales Umweltrecht. Bei den Klimaverhandlungen leitet er die Schweizer Delegation, die sich aus Fachleuten von Meteo Schweiz, aus dem Bafu, dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zusammensetzt.