Die Erwerbsbeteiligung steigt
Das inländische Arbeitskräftepotenzial wird heute besser ausgeschöpft. Dennoch mangelt es in technologie- und wissensintensiven Berufen noch immer an Fachkräften. (Bild: Keystone)
Seit geraumer Zeit steigt die Nachfrage nach gut bis sehr gut ausgebildeten Fachkräften in der Schweiz an. Die demografische Entwicklung der Schweizer Erwerbsbevölkerung deutet langfristig auf eine Verknappung des inländischen Fachkräfteangebots hin, weil mit den jüngeren Generationen zu wenig Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt nachrücken. Das macht die inländischen Unternehmen zunehmend von ausländischen Arbeitnehmern abhängig. Auch die zunehmend kontroversen öffentlichen und politischen Diskurse über die Zuwanderung veranlassten 2011 das damalige Volkswirtschaftsdepartement (heute Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung, WBF), die Fachkräfteinitiative (FKI) ins Leben zu rufen. Im Rahmen der Initiative wurden alle relevanten Akteure wie Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sowie diverse kantonale Konferenzen und Bundesämter mit einbezogen, um so Massnahmen zur besseren Erschliessung des inländischen Fachkräftepotenzials einzuleiten.
Die FKI verfolgt dabei eine Strategie, die sozialpartnerschaftliche Lösungen sucht und verschiedene Politikfelder berührt. Denn die Fachkräftethematik betrifft Fragen der Arbeitsmarkt-, der Bildungs-, der Zuwanderungs- und der Sozialpolitik gleichermassen. Politikbereiche also, in denen das föderale Prinzip und die liberale Wirtschaftsordnung der Schweiz die Handlungsmöglichkeiten des Bundes bestimmen.
Anreize setzen und sensibilisieren
Das zentrale Instrument der Initiative ist der vom Bundesrat 2013 verabschiedete Massnahmenplan. Die darin enthaltenen Massnahmen wurden dezentral, von den jeweils zuständigen Bundesämtern in vier Handlungsfeldern realisiert: Erstens soll die Erwerbsbevölkerung durch Nach- und Höherqualifizierung den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechen, zweitens soll die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden, drittens sollen Innovationen gefördert werden, welche die Fachkräfteknappheit aufgrund höherer Produktivität entschärfen, und viertens sollen gute Bedingungen dafür sorgen, dass die Erwerbstätigkeit bis zum Rentenalter und darüber hinaus attraktiv bleibt.
Entsprechend den Kompetenzen des Bundes geht es auf Bundesebene mehrheitlich darum, bestehende Gesetze und Verordnungen zu erarbeiten oder anzupassen. Hinzu kommen Impuls- und Förderprogramme, um Anreize zu setzen – beispielsweise zur Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern. Zudem wurden Öffentlichkeit, Wirtschaft und Politik über die Ursachen und Folgen eines Fachkräftemangels sensibilisiert. Auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ist hierbei involviert. Das Seco stellt die Kooperation und die Koordination der Akteure sicher, erarbeitet die notwendigen Entscheidungsgrundlagen zur Fachkräftethematik und bietet Zugang zu den verfügbaren Informationen über die Website Fachkraefte-schweiz.ch.
Fachkräfte als Standortfaktor
Ein zentrales Ziel der Schweizer Wirtschaftspolitik ist es, die guten Standortbedingungen der Schweiz weiter zu verbessern. Denn Unternehmen machen ihre Entscheidungen zum Standort, zur Technologiewahl und zur Organisation ihrer Wertschöpfungsketten auch vom vorhandenen Arbeitskräfteangebot und von der Qualifikation und der Kompetenz der Arbeitskräfte abhängig. Die Verfügbarkeit von Fachkräften bestimmt also die Wachstumsdynamik der Schweizer Volkswirtschaft. Ein Weg, den Standort Schweiz zu stärken, ist beispielsweise, sicherzustellen, dass Unternehmen die gesuchten Arbeitskräfte hier finden können. Dadurch werden hochwertige Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen; denn solche Arbeitsplätze sind die Grundlage des hohen Wohlstands unserer Bevölkerung.
Doch Arbeitsmarkt und Fachkräftesituation unterliegen einem permanenten Strukturwandel. So galt es die Massnahmen im Rahmen der FKI auch unter Berücksichtigung langfristiger Trends, wie der Automatisierung, der Digitalisierung und der Globalisierung, sowie des gesellschaftlichen Wandels umzusetzen. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Trends haben in den letzten 20 Jahren vor allem eine Beschäftigungszunahme in technologie- und wissensintensiven Berufen bewirkt. Aber nicht nur dort: Auch in Berufen mit einem hohen Anteil an menschlicher Interaktion, wie in Pflege- und Gesundheitsberufen, oder in Berufen mit manuellen Nichtroutinetätigkeiten, wie in der Reinigung, ist die Nachfrage nach Fachkräften gestiegen.
Entscheidend für die Wirtschaftsleistung der Schweiz ist, dass sich die Qualifikationsstruktur der Schweizer Erwerbsbevölkerung parallel zur Bildungsintensität des Beschäftigungswachstums entwickelt. Will heissen: Die Qualifikationen der Erwerbspersonen müssen mit der Nachfrage des Arbeitsmarkts Schritt halten. Ein Rückblick auf die letzten 20 Jahre zeigt, dass der Bevölkerungsanteil mit einem Bildungsabschluss auf Tertiärstufe[1] stark zugenommen hat; nämlich von rund 22 Prozent (1996) auf über 45 Prozent (2017). Das Bildungssystem der Schweiz hat den Strukturwandel somit gut mitgetragen und wesentlich dazu beigetragen, die steigende Nachfrage nach (hoch) qualifizierten Fachkräften abzufedern. Unterstützend hat in den letzten 15 Jahren auch die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit gewirkt. So verfügten im Durchschnitt 54 Prozent der Erwerbstätigen, die aus dem EU/Efta-Raum zugewandert sind, über einen Bildungsabschluss auf Tertiärstufe. Die Analysen zeigen, dass diese hoch qualifizierten Zuwanderer grossmehrheitlich ihrem Qualifikationsniveau entsprechend beschäftigt sind.[2]
Die angesprochenen Langfristtrends interagieren aber nicht nur untereinander, sondern führen auch zu Wechselwirkungen mit den FKI-Massnahmen. Die Massnahmen wirken daher erst mittel- bis langfristig. Trotzdem kann man bereits heute eine bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials feststellen. In welchem Ausmass diese Entwicklung auf die FKI zurückzuführen ist, lässt sich aber nicht sagen.
Höhere Erwerbsbeteiligung
Zwischen 2010 und 2018 ist das Arbeitskräfteangebot von Personen ab 25 Jahren schweizweit um rund 417’000 Vollzeitstellen[3] gewachsen. Dieser Zuwachs hat zwei Gründe: Einerseits ergibt er sich durch eine höhere Erwerbsbeteiligung (Partizipationseffekt) und andererseits durch das Bevölkerungswachstum (Bevölkerungseffekt). Schlüsselt man nach diesen zwei Effekten auf, zeigt sich, dass mehr als ein Drittel der Zunahme dem Partizipationseffekt zuzuschreiben ist. Die höhere Erwerbsbeteiligung macht insgesamt 148’200 Vollzeitstellen aus (siehe Abbildung). Das ist ein Beleg für die bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Mit anderen Worten: Die höhere Arbeitsmarktbeteiligung hat die Erwerbstätigkeit im Durchschnitt jährlich um 18’500 Vollzeitstellen erhöht. Diese Zunahme ist beachtlich in Anbetracht der Tatsache, dass die schweizerische Erwerbsquote 2018 bereits sehr hoch (83,9%) und die Erwerbslosenquote tief war (4,6%).
Abb.: Zunahme des Arbeitskräfteangebots, nach Partizipations- und Bevölkerungseffekt sowie nach Altersgruppen in Vollzeitäquivalenten (2010–2018)
Zunahme des Arbeitskräfteangebots total: 417’000.
Anmerkung: Der Partizipationseffekt zeigt die Zunahme des Arbeitsangebots aufgrund der höheren Erwerbsbeteiligung, der Bevölkerungseffekt zeigt die Zunahme aufgrund des Bevölkerungswachstums.
Quelle: BFS / Sake / Die Volkswirtschaft
Knappheit bleibt bestehen
Die verstärkte Koordination und Kooperation im Rahmen der FKI hat die Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials angekurbelt, ohne dabei drastische regulatorische Eingriffe in die Schweizer Wirtschaft zu tätigen. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Sozialpartnern hat wesentlich dazu beigetragen, die Verflechtung der politisch und wirtschaftlich relevanten Aspekte beim Fachkräftemangel transparenter zu machen. Das hat auch die Akzeptanz für ein relativ flexibles Zuwanderungsregime gestärkt. So hat das Parlament bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative von einer Kontingentierung der Zuwanderung abgesehen und hat stattdessen den Bundesrat verpflichtet, das inländische Arbeitsmarktpotenzial besser auszuschöpfen. Die Fachkräftepolitik trägt so zu einer umfassenden und weitsichtigen Migrationspolitik bei. Denn Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik sind eng miteinander verknüpft. Ein gutes Zusammenspiel dieser Politikfelder sorgt dafür, dass möglichst viele Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen können und dass die Wirtschaft die gesuchten Fachkräfte findet und effizient einsetzen kann.
Dennoch: Die Alterung der Bevölkerung und das anhaltende Beschäftigungswachstum von Hochqualifizierten deuten auf eine Akzentuierung des Fachkräftemangels hin. Der Handlungsbedarf bleibt deshalb bestehen. Die Massnahmen der FKI sind eine gute und breit angelegte Basis, um den künftigen Herausforderungen zu begegnen. Die Massnahmen sind langfristig angelegt und werden auch nach dem FKI-Programm, ab Ende 2018, von den zuständigen Akteuren fortgeführt. Damit die Stossrichtungen der laufenden Massnahmen weiterhin auf die langfristigen Trends abgestimmt werden können und damit die Bemühungen zur Fachkräftesicherung fortbestehen, hat der Bundesrat beschlossen, die Fachkräftepolitik ab 2019 als unbefristete Departementsaufgabe des WBF zu etablieren. Die Zielsetzung der FKI wird weiterhin konsequent entlang der vier Handlungsfelder vorangetrieben, und das inzwischen etablierte Netzwerk sowie das umfassende Know-how bleiben erhalten.
- Die Tertiärstufe umfasst die höhere Berufsbildung, die Techniker- und Fachschulen, die höheren Fachschulen sowie die Universitäten, die ETH, die Fachhochschulen und die Pädagogischen Hochschulen. []
- Vgl. dazu Seco (2018). 14. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz – EU. []
- Erwerbstätige in Vollzeitäquivalenten, d. h., wie viele Vollzeitstellen sich rechnerisch bei der Berücksichtigung aller Erwerbstätigen mit unterschiedlichen Arbeitspensen ergeben. []
Zitiervorschlag: Bieri, Daniela (2018). Die Erwerbsbeteiligung steigt. Die Volkswirtschaft, 20. Dezember.