Die Schweiz will den Zugang zum EU-Markt aufrechterhalten. Besucher an der Medizinmesse Medica in Düsseldorf. (Bild: Keystone)
Das Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (THG) beauftragt den Bundesrat, technische Handelshemmnisse, welche den grenzüberschreitenden Warenverkehr behindern, abzubauen und zu vermeiden. So ist zwischen der Schweiz und der EU beispielsweise seit 2002 ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA)[1] in Kraft. Ziel dieses Abkommens ist es, den Wirtschaftsakteuren den gegenseitigen Marktzugang zu erleichtern. Auch die Medizinprodukte fallen unter dieses MRA. Das Medizinprodukterecht legt zum Beispiel Vorschriften für das Inverkehrbringen von Hüftprothesen, Korrekturbrillen oder Pflastern fest. Die 2010, nach dem Skandal mit den PIP-Brustimplantaten[2], verabschiedeten neuen EU-Verordnungen[3] sollen nun die geltenden Vorschriften für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten stärken. Die Schweiz hat entschieden, ihre Gesetzgebung zu den Medizinprodukten an diese Entwicklung des EU-Rechts anzupassen. Dadurch will sie die Patientensicherheit verbessern und den mit der EU ausgehandelten erleichterten Marktzugang aufrechterhalten.
Das MRA zwischen der Schweiz und der EU gehört zu den «Bilateralen I» und basiert auf der Gleichwertigkeit der Gesetzgebungen in mehreren Produktesektoren. Ist diese Gleichwertigkeit bestätigt, werden die Konformitätsbescheinigungen von beiden Parteien anerkannt. Neben der gegenseitigen Anerkennung der Konformitätsbewertungen sieht das MRA weitere Vereinfachungen für die Wirtschaftsakteure (Hersteller, Importeure und Händler) sowie die Teilnahme der Schweiz am Marktüberwachungssystem der EU vor. Dank dem MRA gelten für Schweizer Unternehmen auf dem für sie wichtigen EU-Binnenmarkt die gleichen Zugangsbedingungen wie für ihre Mitbewerber aus der EU (siehe Kasten 1). Wird der grenzüberschreitende Verkehr intensiviert, sinken tendenziell die Export- und Importkosten, wovon sowohl die Hersteller als auch die Patienten in der Schweiz profitieren. Letztere haben dadurch ohne zusätzliche Wartezeit Zugriff auf eine breitere Palette an Medizinprodukten, sodass das Risiko eines Versorgungsengpasses abnimmt.
Senkung der administrativen Kosten
Dank der Harmonisierung der Schweizer und der Europäischen Gesetzgebung können die Hersteller Medizinprodukte, die nach den gleichen Vorschriften gefertigt wurden, auf beiden Märkten verkaufen. Somit müssen sie nicht zwei unterschiedliche Produkteserien herstellen, um zwei verschiedenen Gesetzgebungen zu entsprechen.
Je nach Kategorie der Medizinprodukte verlangen sowohl die heutigen als auch die zukünftigen Gesetzgebungen eine Konformitätsbewertung durch eine Stelle, die prüft, ob das Produkt den gesetzlichen Anforderungen entspricht, und gegebenenfalls eine Konformitätsbescheinigung ausstellt (siehe Kasten 2). Das MRA sieht die Anerkennung solcher Bescheinigungen vor, sofern die Konformitätsbewertungsstelle (KBS) der einen Vertragspartei von der anderen anerkannt wurde. So kann ein Hersteller in der Schweiz oder in der EU nach den an seinem Geschäftssitz geltenden Gesetzen produzieren und sein Produkt von einer KBS in der Schweiz oder in der EU prüfen lassen. Da die Bescheinigungen anerkannt werden, muss er das Produkt kein zweites Mal prüfen, um auf den Markt der anderen Vertragspartei zu gelangen. Dank gleichwertiger Rechtsvorschriften und der Vermeidung doppelter Konformitätsbewertungen vereinfacht das MRA also die Exporte. Zudem macht es die Exporte profitabler, denn es senkt die administrativen Kosten und ermöglicht die Produktion grösserer Serien.
Der Importeur ist ausserdem gesetzlich verpflichtet, das Medizinprodukt bei der Einfuhr aus einem Drittland mit seinem Namen und seiner Adresse zu kennzeichnen.[4] Da die Schweiz für den EU-Binnenmarkt ein Drittland ist, müsste ein Importeur, der ein EU-Medizinprodukt auf dem Schweizer Markt in Verkehr bringen möchte, dieses theoretisch neu kennzeichnen. Doch mit dem MRA lässt sich diese kostspielige Doppelarbeit für die Wirtschaftsakteure vermeiden. Die Produkte können auf beiden Märkten in Verkehr gebracht werden, ohne dass Änderungen nötig wären bei den grundlegenden Anforderungen oder bei bestimmten formalen Vorgaben (gleichwertige Rechtsvorschriften und Vereinfachungen dank MRA). Solche technischen Hemmnisse werden vermieden, und Schweizer Hersteller profitieren von den gleichen Wettbewerbsvorteilen wie die Hersteller in der EU und der Efta.
Schliesslich befreit das MRA die Hersteller mit Sitz in der Schweiz auch von der Pflicht, einen Bevollmächtigten in der EU zu benennen − und umgekehrt. Somit haben Schweizer Hersteller auf dem EU-Binnenmarkt einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Herstellern aus Drittländern. Zusätzlich anerkennen die Schweiz und die EU den Bevollmächtigten, der von einem in einem Drittland ansässigen Hersteller im Hoheitsgebiet der jeweils anderen Partei ernannt wurde. Ein Beispiel: Der Bevollmächtigte eines Herstellers mit Sitz in den USA, der in der Schweiz ernannt wurde, ist folglich auch von der EU anerkannt und hat direkten Zugang zum europäischen Markt.
Vorteile für Behörden und Patienten
Alle diese Vereinfachungen wurden in Verbindung mit Kooperationsmechanismen ausgehandelt, die eine wirksame und einheitliche Marktüberwachung ermöglichen. So beteiligen sich die Schweizer Behörden an der EU-weiten Marktüberwachung und profitieren von Informationen über nicht konforme Produkte. Das verbessert letztlich die Patientensicherheit in der Schweiz. Mit der Beseitigung technischer Handelshemmnisse profitieren die Patienten zudem von günstigeren Medizinprodukten, und sie haben eine grössere Auswahl.
Die neue Gesetzgebung zu den Medizinprodukten
Das MRA stellt allerdings nur eine Momentaufnahme der Gleichwertigkeit der sektoralen Rechtsvorschriften in der Schweiz und in der EU dar. Daher braucht es eine kontinuierliche Anpassung. So überprüfen die Schweiz und die EU bei Revisionen ihres jeweiligen Medizinprodukterechts fortlaufend, dass die Gesetzgebungen nach wie vor gleichwertig sind, und passen Kapitel 4 des Abkommens an.
Die neuen Gesetzgebungen der EU und der Schweiz zu den Medizinprodukten sehen zusätzliche Pflichten für die Wirtschaftsakteure vor; insbesondere was die Rückverfolgbarkeit von Produkten nach dem Inverkehrbringen angeht. Ausserdem sind die Pflichten bezüglich der Vigilanz – das heisst der Beobachtung des Produktes und der Meldung von Vorkommnissen – verstärkt worden. Auch die Behörden müssen neu eine aktive Marktüberwachung ausüben.[5] Die Anforderungen an die Bewertung und die Bezeichnung von Konformitätsbewertungsstellen sind höher. Das Kapitel 4 des MRA wird deshalb zwischen 2019 und 2020 entsprechend überarbeitet, um diese Veränderungen auch in den Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz abzubilden. Mit der Revision von Kapitel 4 soll der erleichterte Zugang für Schweizer Hersteller zum EU-Markt aufrechterhalten und die Zusammenarbeit zwischen den Behörden beider Parteien verstärkt werden, damit die Schweiz und die EU über eine effiziente und einheitliche Marktüberwachung verfügen.
- Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreement, MRA; SR 0.946.526.81) vom 21. Juni 1999, in Kraft getreten am 1. Juni 2002. []
- Über den französischen Brustimplantatehersteller Poly Implant Prothèse (PIP) wurde 2010 bekannt, dass die Implantate eine Gefahr für die Gesundheit darstellen und dass das Unternehmen betrügerisch vorgegangen war. Der Skandal erreichte internationales Ausmass, da PIP weltweit der drittgrösste Hersteller von Brustimplantaten war (Artikel in der Zeitung LeMonde.fr vom 18. Januar 2012, aufgerufen am 16. Oktober 2018). []
- Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, ABl L 117 vom 5.5.2017, S. 1 (MDR). Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika, ABl L 117 vom 5.5.2017, S. 176 (IVDR). []
- Für die EU: Anhang I, Punkt 13.3 der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. L 169 vom 12.7.1993, S. 17). Für die Schweiz: Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Medizinprodukteverordnung vom 17. Oktober 2001, Stand am 26. November 2017 (MepV, SR 812.213). []
- Ecoplan/Axxos (2018). Regulierungsfolgenabschätzung zur Revision des Medizinprodukterechts, Bern, 22. August, S. 85. []
Zitiervorschlag: Farré Tiercy, Viviane (2018). Die gegenseitige Anerkennung erleichtert den Zugang zum EU-Markt. Die Volkswirtschaft, 20. Dezember.
Der Umsatz der Schweizer Medizinproduktebranche lag 2015 bei 14,1 Milliarden Franken. Allein die Exporte in die EU machten 39 Prozent dieser Summe aus, was 5,5 Milliarden Franken entspricht.
Die Gesetzgebung sieht je nach Risikoklasse eines Produkts mehrere mögliche Verfahren vor. Bei Kondomen (Klasse IIb, Klassifizierungsregel Nr. 15) kann der Hersteller beispielsweise das Verfahren auf der Grundlage der «Baumusterprüfung»a wählen: In diesem Fall muss die Konformitätsbewertungsstelle feststellen und bescheinigen, dass die Dokumentation und ein repräsentatives Exemplar des Produkts die Anforderungen erfüllen. Das betrifft insbesondere die Beschreibung, die Zweckbestimmung, die Grundsätze betreffend den Betrieb sowie die Wirkungsweise, die vom Hersteller angegeben wurden. Bei den vorgelegten klinischen Nachweisen wird die Erfüllung der Sicherheits- und Leistungsanforderungen überprüft und beurteilt, ob die unerwünschten Nebenwirkungen und das Verhältnis von Nutzen und Risiko vertretbar sind. Dabei hält sich die Konformitätsbewertungsstelle an einen Prüfungsplan, in dem alle relevanten und kritischen Parameter festgelegt sind, die geprüft werden müssen.
a Artikel 52 § 4 im Zusammenhang mit den Anhängen IX, X und XI der Verordnung (EU) 2017/745.