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Der Schweizer Verkehrsplanung fehlt eine Gesamtverkehrsstrategie. Für diese Aufgabe muss ein neues Mobilitätsamt geschaffen werden.
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Matthias Finger, Professor für Management von Netzwerkindustrien, Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL)

Die Eisenbahn ist ein komplexes und dynamisches technologisches System. Betrachtet man das Schweizer Mittelland als dicht besiedelte Metropolitanregion, so ist die Bahn darin eigentlich ein Metrobahnsystem. Als solches ist sie für die Schweiz lebenswichtig; und zwar nicht nur für die Personen- und Gütermobilität, sondern auch für die Lebensqualität und die Standortattraktivität. Ohne gut funktionierendes Bahnsystem wäre eine Agglo-Schweiz mit zehn Millionen Einwohnern, wie sie sich in 20 Jahren präsentieren dürfte, nicht mehr attraktiv und wettbewerbsfähig. Dies müsste der Hauptgrund sein, wieso die Bahninfrastruktur nun ausgebaut werden sollte.

Ausbau ja! Aber wie?

Die Schweizer Bahn ist im internationalen Vergleich top. Viele beneiden die Schweiz darum. Ein Grund, dass sie so gut geworden ist, ist eine nachhaltige Finanzierung, insbesondere bei der Infrastruktur. Mit dem neuesten Ausbauschritt wird diese Entwicklung bis ins Jahr 2035 weitergeführt. Das ist gut. Zwar ist ein so grosser Infrastrukturausbau im Zeitalter der finanziellen Engpässe und der verzerrten Konkurrenz durch den Strassenverkehr nicht selbstverständlich. Aber er ist nötig und richtig. Der Bevölkerung, dem Parlament und dem Bund ist zu danken.

Die Frage ist also nicht ob, sondern wo ausgebaut werden soll. Sind Infrastrukturausbauten dabei die richtigen Investitionen? Wird das Geld optimal eingesetzt?

Ich will hier nicht alle 65 vorgelegten Massnahmen und Projekte im Einzelnen beurteilen. Das ist gar nicht möglich. In deren Auswahl sind viel Arbeit und grosse föderale Kompromissbereitschaft geflossen. Fast jeder Kanton kriegt etwas. Niemand wird so unglücklich darüber sein, dass er, nach der parlamentarischen Debatte, im Jahr 2020 das Referendum ergreifen müsste. Fazit: Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat seine Arbeit gut gemacht. Aber ist es wirklich die Aufgabe des BAV, diese Arbeit zu machen?

Aufgrund des Systemcharakters der Bahn ist der Bahninfrastrukturausbau meines Erachtens eher eine technische als eine politische Arbeit. Ich bin der Ansicht, er sollte sich dabei an drei zentralen Prinzipien orientieren:

Erstens: Die Investitionen sollten dem Mobilitätssystem und insbesondere den überlasteten Knoten des Systems (Olten, Bern) dienen. Denn die Bahn ist schon heute ein hoch technologisches System und nicht mehr ein Konglomerat aus einzelnen kantonalen Privatbahnen – auch wenn das hinsichtlich der Eigentumsstruktur und der Governance immer noch der Fall ist. Aber für die Benutzer zählt nur eines: Sie wollen, dass ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedigt werden. Und zwar kantonsübergreifend.

Zweitens: Die Bahn ist kein Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit für eine urbane und mobile Schweiz, die international wettbewerbsfähig und für ihre Bürger attraktiv bleiben will. Aber so, wie die Investitionen heute geplant sind, unterstützen sie eher eine zersiedelte Regio-Schweiz als eine Agglo-Schweiz mit starken Zentren.

Und drittens ist die Bahn nur ein Teil der Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse: Beim Personenverkehr macht sie 20 Prozent, beim Güterverkehr 40 Prozent aus. Bahn und ÖV dürfen also nicht getrennt vom Privatverkehr und anderen Mobilitätsformen betrachtet werden. Doch tragen wir mit dem Ausbauschritt 2035 diesem Trend genügend Rechnung? Einem Trend, der sich mit der Digitalisierung noch verstärkt.

Schlüsselthema Digitalisierung

Wir sind uns alle einig: Das Ziel des Ausbauschrittes 2035 muss ein effizientes Bahnsystem sein. Die Investitionen sollen nicht teure Folgekosten verursachen, sondern die Systemeffizienz erhöhen. Zudem soll das System langfristig bezahlbar bleiben. Und hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Denn sie ermöglicht all das. Die SBB sagen, dass sie dank der Digitalisierung signifikant Kosten sparen und die Kapazität des Systems um 15 bis 30 Prozent erhöhen können. Wieso wird also nicht mehr in die Digitalisierung investiert? Und zwar schweizweit, sodass das Gesamtsystem optimiert wird und die digitale Infrastruktur gesamtschweizerisch kompatibel wird. Viele kantonale «Privatbahnen» sind heute nämlich digital nicht so gut aufgestellt wie die SBB.

Die Digitalisierung verändert aber auch das Mobilitätsverhalten der Bürger grundlegend: Mobilität wird zu einer Dienstleistung («Mobility-as-a-Service»). Die Leute wollen so billig, so schnell und so ökologisch wie möglich von A nach B gelangen. Das bedeutet nicht, dass alles mit der Bahn geschehen muss. Es macht durchaus Sinn, die letzte Meile, die wenig befahrenen Strecken und die Randzeiten auf der Strasse und sogar vom Privatverkehr abwickeln zu lassen. Die Bahn ist eine Massentransit-Technologie, kein Feinverteiler. Betrachtet man die Massnahmen und Projekte für 2035, zeigt sich das aber nicht. Deshalb stellt sich die Frage: Hat man genügend in den Kern des Systems und in die Mobilitätshubs, wo sich alle Verkehrsträger begegnen, investiert?

Verkehr gesamtheitlich planen

Das BAV hat angesichts der institutionellen Rahmenbedingungen gute Arbeit geleistet. Aber ist es überhaupt das geeignete Organ, um den Bahninfrastrukturausbau über 2035 hinaus zu planen?

Um die Investitionen in die Mobilität einer Schweiz mit zehn Millionen Einwohnern zu planen, braucht es eine gesamtheitliche Sicht, welche die Bahn, den ÖV, den Privatverkehr sowie die Raumplanung mit einschliesst. Keines der drei Bundesämter – BAV, Astra und ARE – kann das allein leisten. Deshalb braucht es auf Bundesebene ein einziges Mobilitätsamt.

Ein solches Mobilitätsamt sollte den Bahnausbau nicht selber planen, zumindest nicht in diesem Detaillierungsgrad. Seine Rolle wäre es vielmehr, der Politik zu helfen, die grossen Mobilitäts-, Verkehrsverlagerungs- und Raumplanungsziele sowie den finanziellen Rahmen zu definieren. Das Planen sollte man indessen einem «Systemführer» überlassen; das heisst einem Unternehmen, das auch operationell tätig ist und weiss, wo die Engpässe liegen und wie man sie am effizientesten ausräumen kann. In der Schweiz können das heute nur die SBB, die sich natürlich auf den Kern des Eisenbahnnetzes konzentrieren sollen.

Sind die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen definiert, dann ist die Planung in erster Linie eine technische Aufgabe. Zum Vergleich: Eine ähnliche Aufgabenteilung gibt es heute schon beim Elektrizitätsnetz, wo Swissgrid den Job macht, den die SBB beim Bahnnetz übernehmen könnten. Auch im Elektrizitätsmarkt gibt es rund 650 Lokal- und Kantonsunternehmen. Und sie alle akzeptieren die Rolle von Swissgrid als Systemführerin – denn am Schluss dient ein effizientes und nachhaltiges System allen.

Zurück zum Bahnnetz: Würden also die SBB die technische Systemführerrolle übernehmen, müssten sie im Gegenzug von einem unabhängigen Regulator wie der Railcom (ehemals Schiedskommission im Eisenbahnverkehr) überwacht werden. Und eben nicht mehr von einem politisch beeinflussten Bundesamt. Zudem würden die SBB gewisse Freiheiten bei der Umsetzung geniessen und nicht mehr bis ins kleinste Detail kontrolliert werden. Genauso wie Swissgrid von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom) zwar überwacht, aber nicht überkontrolliert wird. Denn die Elcom prüft die Investitionen schlussendlich nur darauf, ob sie der Effizienz und der Versorgungssicherheit des Gesamtsystems Schweiz dienen. Wenn nicht, werden sie nicht bewilligt. Die heutige Railcom müsste also signifikant gestärkt werden.

Zitiervorschlag: Finger, Matthias (2019). Die Schweiz braucht ein Mobilitätsamt. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.