Suche

Abo

Stillstand ist in der Agrarpolitik keine Option

Die Öffnung des Schweizer Agrarmarktes verläuft schleppend, und grundlegende Reformen haben derzeit einen schweren Stand. In der Agrarpolitik ab 2022 setzt der Bundesrat deshalb auf ökonomische Anreize.
Schriftgrösse
100%

Ohne äusseren Druck bewegt sich in der Schweizer Landwirtschaftspolitik wenig. Kühe im Tessiner Bleniotal. (Bild: Keystone)

Die Schweizer Landwirtschaft ist seit mehr als hundert Jahren Gegenstand staatlichen Handelns. Im Zentrum stand stets die Versorgungssicherheit. Bereits drei Jahre nach Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1848 entrichtete der Bund erstmals Unterstützungsbeiträge an die damaligen landwirtschaftlichen Hauptvereine. 1881 wurde das damalige Eisenbahn- und Handelsdepartement zum Handels- und Landwirtschaftsdepartement umgebaut. Wiederum drei Jahre später wurde die Förderung der Landwirtschaft durch einen Bundesbeschluss gesetzlich verankert.

Im Lichte der grossen Instabilitäten in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts begannen Bundesrat und Parlament, die einheimische Landwirtschaft mit Zöllen gegen fremde Anbieter zu schützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die staatlichen Eingriffe drastisch ausgebaut und 1951 im ersten eigentlichen Landwirtschaftsgesetz gefestigt. In den Neunzigerjahren hob man die Mengenregulierungen und die fixen Preise wieder auf. Weil Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, spüren die Anbieter den Markt seither direkt. In einzelnen Bereichen wurde der Markt mit der EU liberalisiert, allerdings wird das Angebot mit einer direkten staatlichen Zahlung unterstützt. Beim Käse beträgt sie in etwa 30 Prozent des EU-Preises, beim Zucker rund 60 Prozent des EU-Warenwertes. Mit anderen Worten: Ein austauschbarer und lagerbarer Rohstoff wie Zucker ist ohne Stützungsbeiträge und Grenzschutz kaum wettbewerbsfähig. Ein Premiumprodukt wie Käse lässt sich hingegen zu hohen Preisen im Ausland verkaufen.

Direktzahlungen mit Auflagen


Im Zuge der Uruguay-Runde des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) wurden in den Neunzigerjahren flächendeckend Direktzahlungen an die landwirtschaftlichen Betriebe eingeführt. In der Folge sank das allgemeine Preisniveau von Landwirtschaftsprodukten im Inland (siehe Abbildung).

Entwicklungsetappen der Agrarpolitik




Primär hatten die Direktzahlungen das Ziel, bäuerliche Einkommen zu stützen. Im Laufe der Zeit hat das Parlament die Direktzahlungen zunehmend an ökologische Kriterien geknüpft. Mit der Agrarpolitik 2014–2017 fächerte der Bundesrat die Direktzahlungen weiter auf und verknüpfte diese mit Umwelt- und Tierwohlleistungen wie freiem Auslauf. Definierte Umwelt- oder Tierwohlziele können entweder durch eine Erhöhung der finanziellen Anreize (führt zu höherer Beteiligung der Betriebe) oder durch eine synchrone Erhöhung der Auflagen und der finanziellen Anreize (mehr Wirkung bei den im Programm Beteiligten) besser erreicht werden.

Die Vorkehrungen und gesetzlichen Vorschriften sind ein Spiegelbild der Landwirtschaft, welche zusehends komplex geworden ist. Die heutige Landwirtschaft nutzt natürliche Ressourcen zur Produktion, sucht den Absatz auf Märkten mit besonderen Eigenschaften, pflegt, bebaut und beeinträchtigt 38 Prozent der Landesoberfläche. Sektorspezifisch ist auch die Weitergabe des Eigentums am bewirtschafteten Land an die nächste Generation im Familienrahmen.

Angesichts der Komplexität steht die heutige Agrarpolitik vor Herausforderungen. Zum Ausdruck kommt dies nicht zuletzt durch die zahlreichen Volksbegehren, welche verschiedenste Regulierungen für die Landwirtschaft verlangen. Am Regelwerk, das über mehrere Generationen entstanden ist, etwas zu ändern, bedarf aber viel Zeit.

Eine Schlüsselrolle spielen externe Treiber. So war die Entkopplung der Preis- und Einkommenspolitik innenpolitisch nur durch die Uruguay-Runde des Gatt möglich. Auch für die Öffnung des Käsemarktes gegenüber der EU war die 2001 gestartete Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) ausschlaggebend. Später folgte die Marktöffnung für Zucker in verarbeiteten Produkten.

Im Jahr 2012 kam dagegen das angestrebte Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich (FHAL) zum Stillstand, als das Parlament einer Motion des damaligen Walliser CVP-Nationalrats Christophe Darbellay zustimmte, welche einen völligen Verhandlungsstopp verlangte. Mit der erfolglosen Doha-Runde fehlte der politische Druck für ein Freihandelsabkommen. Ohne externen Treiber wurde die Fortsetzung der Marktöffnung durch Zollabbau zunehmend unmöglich. Bewegung brachte erst der WTO-Beschluss von Nairobi im Dezember 2015, welcher die Abschaffung von Exportsubventionen für verarbeitete Agrarprodukte verlangt: Anfang 2019 wurde das «Schoggigesetz» durch eine neue Regelung, die vorderhand gekoppelte Direktzahlungen vorsieht, ersetzt.

Hingegen spielten Umweltanliegen als externe Treiber eine entscheidende Rolle: Hier waren die Interessenvertreter der Landwirtschaft bei der Einführung der meisten Vorkehrungen entweder in der Minderheit oder zumindest unter Handlungszwang.

Stossrichtung der Agrarpolitik 22+


Der Nahrungsmittelmarkt der Schweiz ist nach wie vor eine Insel. Zwar ist der Grenzschutz für Rohstoffe nur eine von mehreren Ursachen, er wird aber zum Anlass für Preiseskalationen genommen.[1] Am stärksten profitieren Verarbeitung und Handel, welche die Kaufkraft einer Mehrheit der Verbraucher für sich beanspruchen können. Der Einkaufstourismus – aufgrund der Kleinheit der Schweiz ein Phänomen nationaler Tragweite – ist eine in Kauf genommene negative Konsequenz. Positiv ist andererseits die starke Verbreitung von Nachhaltigkeitslabels wie Bio Suisse und IP Suisse, die es dem Produzenten ermöglichen, einen marktmässigen Zusatzpreis zu lösen.

Aus ökonomischer Sicht überwiegen die Vorteile eines Abbaus des Grenzschutzes: Es entsteht mehr marktbezogene Wertschöpfung, es werden mehr exportfähige Premiumprodukte hergestellt, die Kapital- und Arbeitsproduktivität verbessert sich durch organisatorische Anpassungen, und letztendlich wird eine ökonomisch nachhaltigere Einkommensgrundlage geschaffen. Diesbezüglich vorbildlich ist Deutschland, das Teil eines gemeinsamen Marktes inklusive Agrarmarkt ist. Obwohl das Land eine weitgehend gemeinsame Agrarpolitik mit andern EU-Ländern mit geringerem Wohlstand sowie einem tieferen Preis- und Kostenniveau hat, ist die deutsche Landwirtschaft unter denjenigen mit den höchsten Preisen für ihre Produkte und den besten Einkommen für Familienbetriebe. In diesem Sinne ist Deutschland ebenfalls eine «Insel», aber eine, die sich am Markt orientiert.

Trotz der ökonomischen Vorteile scheint ein Zollabbau in der Schweiz derzeit kaum mehrheitsfähig. Einerseits fehlt dazu der äussere Druck. Andererseits werden in der Schweiz Anpassungen entlang der gesamten inländischen Wertschöpfungskette befürchtet. Nebst den Landwirten zeigen sich auch Nahrungsmittelhersteller und der Detailhandel skeptisch gegenüber einer Marktöffnung, wie die Reaktionen auf die Gesamtschau zur Agrarpolitik des Bundesrates im November 2017 dokumentieren.

Vielmehr dürfte die Schweiz eine defensive Strategie wählen, die kaum Innovationen begünstigt. So wird der Markt wahrscheinlich nur punktuell für ausgewählte Produkte über die aktuellen und sich in Verhandlung befindenden Freihandelsabkommen geöffnet. Damit diese Erhöhungen nicht zu einem Preisdruck im Inland führen, werden sie bescheiden ausfallen oder zu sektoriellen Kompensationsmassnahmen führen.

Kommt hinzu: Die aktuelle Agrarpolitik umfasst immer noch Marktstützungen. Alle Versuche, diese abzubauen oder ganz abzuschaffen, sind bisher gescheitert. Ebenso bestehen im Importsystem, unabhängig vom Ausmass des Grenzschutzes, hohe ökonomische Ineffizienzen. Darunter leiden sowohl Produzenten als auch Konsumenten. Der Grad an Ineffizienz wurde 2012 mit Parlamentsbeschlüssen im Rahmen der Agrarpolitik 2014–2017 noch zusätzlich ausgebaut. So wurden beispielsweise die ausländischen Fleischkontingente an die inländische Produktion gekoppelt.

Angesichts dieser Ausgangslage scheint es vernünftig, die Marktorientierung nicht primär über einen externen Druck herbeiführen zu wollen, sondern Anreizmassnahmen zu schaffen. Nämlich dort, wo Absatzpotenziale existieren. Entsprechend beinhaltet die Agrarpolitik des Bundesrates ab 2022 (AP22+) solche Ansätze. Die Vorlage befindet sich bis am 6. März 2019 in der Vernehmlassung.

Nachhaltigkeit als Treiber


Während im ökonomischen Bereich für eine Mehrheit der politischen Kräfte kein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht, ist die Situation im ökologischen Bereich grundlegend anders. Zahlreiche Volksinitiativen haben Anpassungen der Agrarpolitik ausgelöst – auch wenn sie meist abgelehnt worden sind oder abgelehnt werden. Diesen Initiativen ist gemeinsam, dass sie die intensive Landwirtschaft thematisieren, die zu viel Nährstoffe in den Boden führt, die Biodiversität gefährdet, zu viele Pflanzenschutzmittel einsetzt und die Würde des Tiers durch zu enge Stallsysteme, zu wenig Auslauf sowie zu hohe Bestände beeinträchtigt. Gefordert werden höhere Anforderungen an die ökologische Nachhaltigkeit der Inlandproduktion und an die importierten Produkte. Als Vorlage kann der im Jahr 2017 angenommene Gegenentwurf zur Initiative für Ernährungssicherheit dienen, der die Ressourceneffizienz und die Nachhaltigkeit in der Verfassung verankert hat.

Der Handlungsbedarf ist erkannt. Die Agrarpolitik muss sich auf folgende Stossrichtungen konzentrieren:

  • weniger Nährstoffeintrag pro Hektare (wo heute überdurchschnittlich);
  • sparsamerer und vorsichtigerer Einsatz von Pflanzenschutzmitteln;
  • wirksamere Verhinderung des Biodiversitätsschwundes und wirksameres Angebot von Biodiversitätsleistungen auf landwirtschaftlich genutztem Land;
  • hochstehende Tierwohlleistungen, die auch Tiergesundheitsaspekte beinhalten (Vorsorge statt Medikation);
  • ertragsstabilere Sorten und Produktionssysteme unter künftigen risikoreichen Bedingungen des Klimawandels;
  • standortgerechte Landwirtschaft mit kantonaler Mitverantwortung.


Die Agrarpolitik 22+ nimmt diese Anliegen ernst und schlägt als Schwerpunkt im ökologischen Bereich in erster Linie einen Ausbau nachhaltiger Produktionssysteme vor. Dabei sollen Systeme mit hoher Intensität, hoher Umweltbelastung und tiefen Rohstoffpreisen abgebaut und Systeme mit geringerer Intensität, geringerer Umweltbelastung, stabileren Erträgen, besseren Preisen für edlere Rohstoffe plus an solche Verfahren gekoppelte Direktzahlungen ausgebaut werden. Damit trägt der Bundesrat den Anliegen der zur Abstimmung kommenden Volksinitiativen mit einem Massnahmenpaket Rechnung.

Ist das Glas halb voll?


Ein sensibles Thema sind die Einkommen und die Arbeitszeiten in der Landwirtschaft. Es lohnt sich, diese sozialen Aspekte mit Sachlichkeit anzugehen. Die Wasserglas-Metapher kann hier nützlich sein. Für das «halb volle Glas» spricht, dass die Einkommen pro Arbeitskraft rascher steigen als die Vergleichseinkommen. Kaufkraftbereinigt ist das Einkommen – bei vergleichbarer Betriebsgrösse – deutlich höher als im Ausland. Die Zahl der Betriebsaufgaben ist im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich, und das Interesse, in den Beruf einzusteigen, ist gross, auch von Menschen ausserhalb der Landwirtschaft. Umfragen zeigen: Die Bevölkerung wünscht sich Familienbetriebe, die ein gerechtes Einkommen erzielen, und schätzt deren Produkte.

Für das halb leere Glas spricht, dass Agrarmedien den zunehmenden Stress der Bauernfamilien thematisieren: Ein Familienbetrieb mit einer meist allein arbeitenden Person wird zunehmend als Herausforderung wahrgenommen. Eine Familie schätzt ihre Opportunitätskosten heute anders ein als vor 50 Jahren. Man ist weniger bereit, unter anderen Bedingungen zu arbeiten als die anderen Arbeitenden in der Schweiz. Dies ist grundsätzlich positiv, denn je mehr dies der Fall sein wird, desto ähnlicher werden die Arbeitsbedingungen zur Wirtschaft werden. Dennoch ist die Unzufriedenheit noch nicht gekoppelt an die Bereitschaft, den Beruf zu wechseln.

Ein hohes Gesamtmass an Stützung bei zugleich unterdurchschnittlichen Einkommen: Das scheint paradox. Offensichtlich ist eine hohe Stützung keine Garantie für gute Einkommen.

Es wird die hohe Bevormundung durch den Staat bemängelt. Die Agrarpolitik 22+ will den Landwirten deshalb mehr unternehmerische Verantwortung geben. Gleichzeitig soll der Quereinstieg in die Landwirtschaft erleichtert werden.

Die Agrarpolitik 22+ basiert auf Fakten, die aus wissenschaftlichen Evaluationen der bisherigen Agrarpolitik gewonnen wurden. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Vorlage setzt auf Eigenverantwortung der Bauern, Nachhaltigkeit und eine bessere Positionierung am Markt.

Die Themen der Agrarpolitik haben sich in den vergangenen 25 Jahren aufgrund der äusseren Notwendigkeiten gewandelt. Markt und Umwelt alternieren dabei in der Gewichtung – obwohl viele Synergien bestehen würden. Gegenwärtig schlägt das Pendel in Richtung Umwelt aus. Sicher ist: Ein Stillstand wäre für die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft nicht förderlich. Es ist Aufgabe der Verwaltung, Vorschläge zur Diskussion zu stellen, auch wenn sie den Rahmen des momentan Machbaren zu sprengen scheinen.

  1. OECD (2018), Agricultural Policy Monitoring and Evaluation 2018, OECD Publishing, Paris. []

Zitiervorschlag: Lehmann, Bernard (2019). Stillstand ist in der Agrarpolitik keine Option. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.