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«Der Aufwand lohnt sich»

Seit der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation vor hundert Jahren haben sich die Arbeitsbedingungen weltweit verbessert. Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus? Die Digitalisierung verändere die Art und Weise, wie wir arbeiten, sagt ILO-Direktor Guy Ryder.
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«Es braucht ein universelles Recht auf lebenslanges Lernen.» ILO-Generaldirektor Guy Ryder in seinem Büro in Genf. (Bild: Reto Probst / Die Volkswirtschaft)

Herr Ryder, die Internationale Arbeitsorganisation feiert dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Zur Zeit ihrer Gründung war der Erste Weltkrieg gerade erst beendet, und die kommunistische Revolution in Russland rief Ängste hervor. Gibt es Parallelen zu heute?


Die ILO wurde ins Leben gerufen, weil die führenden Regierungen der Welt erkannt hatten, dass sie sich mit der Bevölkerung und den Arbeitsbedingungen auseinandersetzen müssen, um Frieden und Stabilität zu wahren. Diese Erkenntnis gilt auch heute noch: Viele Weltregionen sind instabil, und in zahlreichen Ländern macht sich ein Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit breit. Eine bolschewistische Revolution ist dies nicht, aber es bestehen nach wie vor ungelöste Probleme.

Braucht es 2019 die ILO noch?


100 Jahre lang haben wir uns für mehr soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt eingesetzt. Noch nicht alle Menschen profitieren davon, obwohl sich die Arbeitsbedingungen seit der Gründung enorm verbessert haben: Die 80-Stunden-Woche gibt es nicht mehr, viele Arbeitnehmende haben Anspruch auf soziale Absicherung, und das Arbeitsrecht wurde eingeführt. Trotzdem sind wir noch nicht am Ziel.

Welche neuen Herausforderungen stellen sich heute?


Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist in aller Munde. Leider dreht sich die Diskussion meist nur darum, wie viele Arbeitsplätze verschwinden oder entstehen. Aber: Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie wir arbeiten. Denken wir an Web-Plattformen und Arbeiten über das Internet.

Sind neue Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt gefragt?


Ja. Es braucht deshalb ein universelles Recht auf lebenslanges Lernen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir die ersten 20 Jahre unseres Lebens zur Schule gehen und anschliessend arbeiten.

Wie soll der Staat das lebenslange Lernen unterstützen?


In der Schweiz spielen die Unternehmen im dualen Berufsbildungssystem eine zentrale Rolle – an diese positiven Erfahrungen gilt es anzuknüpfen. Der Privatsektor muss weiterhin die Hauptrolle spielen, und der Staat muss das Recht auf Weiterbildung verankern und mit Mechanismen sicherstellen, dass alle davon profitieren. Bildung ist als Investition – und nicht als Ausgabe – zu betrachten. Indem man Arbeitsplätze erhält, spart man bei den Ausgaben der Sozialhilfe und der Arbeitslosenkasse.

Weiterbildung beruht in der Schweiz vor allem auf Eigeninitiative.


Die Arbeitnehmenden müssen eine gewisse Bereitschaft mitbringen. Aber: Jeder soll sich zu sicheren Konditionen weiterbilden können. Dazu sind adäquate finanzielle Garantien nötig. Ein Arbeitnehmer kann das Risiko eines Arbeitsplatzverlustes nicht allein tragen.

Der im Januar veröffentlichte Bericht «Für eine bessere Zukunft arbeiten» verlangt soziale Sicherheit für alle. Wie soll das erreicht werden?


Weltweit steht eine Mehrheit der Arbeitnehmenden ohne – oder mit ungenügendem – sozialen Schutz da. Deshalb arbeitet die ILO mit ihren 187 Mitgliedsstaaten – insbesondere mit den am wenigsten entwickelten Ländern – darauf hin, eine Mindestabsicherung für alle Arbeitnehmenden gegenüber den grössten Risiken einzuführen. Diese soll auch Beschäftigte in der informellen Wirtschaft mit einschliessen.

Der informelle Sektor liegt ausserhalb der staatlichen Vorschriften – wird er von der ILO vernachlässigt?


Keinesfalls. Die drei Hauptakteure der ILO – Regierungen, Arbeitnehmende und Arbeitgeber – haben eine Empfehlung zur Formalisierung der informellen Wirtschaft verabschiedet: Sie wollen helfen, informelle Arbeitsplätze und Unternehmen in formelle umzuwandeln. Wobei Informalität viele Gesichter hat: Strassenhändler bewegen sich beispielsweise ausserhalb jeglicher rechtlicher und administrativer Rahmenbedingungen. Auch illegal Beschäftigte verfügen über keinen sozialen Schutz und erhalten keinen Lohn, wenn sie krank sind. Insbesondere auf dem Lande ist die informelle Beschäftigung stark verbreitet. Hier besteht Handlungsbedarf. In der Vergangenheit wurde der Agrarsektor hintangestellt, und meiner Ansicht nach wurde einiges falsch gemacht. Wir sind auf eine starke Landwirtschaft angewiesen, die angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. In vielen Ländern ist eine Abwanderung vom Land in die Grossstädte zu beobachten, da es auf dem Land an solchen Arbeitsplätzen fehlt.

Auf einem toten Planeten gibt es keine Arbeit.

Welche weiteren Problematiken haben Priorität?


Wichtige Themen sind die grüne Wirtschaft und das Gesundheitswesen. Vor zehn Jahren schien es, als ob man sich zwischen Umweltschutz und Wirtschaftsentwicklung entscheiden müsse. Heute besteht zwischen Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ein breiter politischer Konsens darüber, dass Umweltschutz und nachhaltiges Stellenwachstum zu vereinbaren sind. Auf einem toten Planeten gibt es keine Arbeit.

Und was ist mit dem Gesundheitswesen?


In den Volkswirtschaften des globalen Nordens und Asiens werden die Menschen immer älter und sind zunehmend auf Pflege angewiesen. Diese Pflegeleistungen, die heute meist unentgeltlich von Frauen erbracht werden, müssen als Arbeit anerkannt und qualitativ verbessert werden.

Wie sollen die entsprechenden Investitionen finanziert werden?


Es wäre illusorisch, zu glauben, die Regierungen könnten die Investitionen allein bezahlen. Ein gut funktionierender Privatsektor ist unabdingbar. Aufgabe der Regierungen ist es, günstige Rahmenbedingungen bereitzustellen. Das Pariser Klimaabkommen schuf einen solchen Rahmen für Investoren. Diesen ist nun bewusst, dass künftig rentable Sektoren grün sind.

Die ILO besteht aus Vertretern der Regierungen, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmenden. Die Interessen der Arbeitgeber sind jedoch oft nicht deckungsgleich. Welche Auswirkungen hat dies?


Eine dreigliedrige Organisation hat viele Vorteile. Die Akteure müssen aber dadurch legitimiert sein, dass sie alle Mitglieder vertreten. Die Gruppe der Arbeitgeber reicht von KMU über informelle Unternehmen bis zu multinationalen Konzernen. Das ist ein breites Spektrum an Bedürfnissen. Jedoch finden die grossen Unternehmen des Silicon Valley, die in ihrer eigenen Welt agieren, im repräsentativen Gremium der Arbeitgeber keinen Platz. Es zeichnen sich aber Lösungen ab, und das Bewusstsein für die Problematik steigt.

Auf der anderen Seite verlieren die Gewerkschaften an Mitgliedern. Wie reagiert die ILO darauf?


Hier spielen strukturelle Veränderungen eine Rolle: Es war deutlich einfacher, die Belegschaft von fünf Fabriken oder Minen mit je 1000 Mitarbeitenden gewerkschaftlich zu organisieren als 1000 Büros mit je fünf Angestellten. Studien zeigen jedoch, dass viele Arbeitnehmende von einer Gewerkschaft vertreten werden möchten. Das Interesse ist also vorhanden – die Gewerkschaften müssen sich jedoch überlegen, wie sie für junge Menschen attraktiver werden können.

Der soziale Dialog stösst auf weniger Akzeptanz als früher.

Hat sich die Gesprächskultur verändert?


Die Regierungspolitik von einigen Staaten ist vermutlich kaum förderlich: Der soziale Dialog stösst auf weniger Akzeptanz als früher. Die Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit ruft deshalb in ihrem Bericht zu einer Stärkung des Sozialvertrags auf. Dieser Pakt widerspiegelt die Erwartung der Bürger, von der Gesellschaft für ihre Arbeit entschädigt zu werden. Er wurde jedoch durch die Entwicklungen der Arbeitswelt geschwächt. In den Industrieländern stieg die Produktivität in den letzten 40 Jahren schneller als die Löhne. Der Anteil des Kapitals am Bruttoinlandprodukt hat zugenommen, jener der Arbeit ist zurückgegangen. Der Dialog über ein neues Gleichgewicht wurde verdrängt durch die Suche nach wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt. Die Folgen dieses geschwächten Sozialvertrags lassen sich an jüngsten politischen Ereignissen in den USA, Frankreich und Grossbritannien beobachten. Die Menschen fragen sich, was mit der sozialen Gerechtigkeit geschehen ist.

Wie steht es mit den Ungleichheiten?


Gemäss dem Internationalen Währungsfonds behindern die aktuellen Ungleichheiten das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, weil die Nachfrage darunter leidet. Soziale und wirtschaftliche Probleme treffen zusammen.

Wäre es möglich, die Entscheidungsprozesse der ILO effizienter zu gestalten, um hier Abhilfe zu schaffen?


Der soziale Dialog erfordert Zeit und politischen Einsatz. Manchmal ist der Prozess lang und frustrierend, aber der Aufwand lohnt sich. Nach der Wirtschaftskrise sank das Bruttoinlandprodukt in Deutschland und in den USA im Jahr 2009 um je rund 4 Prozent. In den USA hatte dies verheerende Folgen für die Beschäftigung. Nicht so in Deutschland: Dank des Dialogs zwischen Regierung, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden führte man die Kurzarbeit ein. Die Sozialpartnerschaft sorgt für eine gewisse Widerstandsfähigkeit.

Hat auch die ILO mit Budgetbeschränkungen zu kämpfen?


Bei meinem Stellenantritt leitete ich eine strukturelle Reform ein. Unser Zweijahresbudget liegt seit Jahrzehnten stabil bei rund 790 Millionen Dollar. Da die Bedürfnisse und Anforderungen der Mitgliedergruppen unsere finanziellen Möglichkeiten übersteigen, forderte ich jüngst eine moderate Erhöhung des Budgets.

Sie waren Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Wie reagierten Regierungen und der Arbeitgeber auf Sie?


Ich bin der zehnte Generaldirektor der ILO. Zuvor ist die Organisation noch nie von einer Person mit gewerkschaftlichem Hintergrund geleitet worden – allerdings auch nie von einem Arbeitgebervertreter. Die Organisation arbeitet für alle und achtet auf ein ausgewogenes Gleichgewicht. Ich habe den sozialen Dialog nie als Konfrontation betrachtet, aus der die Gewerkschaften als Gewinner und die Arbeitgeber als Verlierer hervorgehen. Das ist kein Nullsummenspiel. Das erste Mal wurde ich dank einer Stimme gewählt. Bei meiner Wiederwahl vor zwei Jahren erhielt ich 54 von 56 Stimmen: Die Zahlen sprechen für sich.

Machen die UNO-Nachhaltigkeitsziele oder die Europäische Menschenrechtskonvention der ILO Konkurrenz?


Unser Programm ist auf die Ziele der UNO-Agenda ausgerichtet. Ausserdem haben alle europäischen ILO-Mitglieder unsere acht Kernübereinkommen – Gewerkschaftsfreiheit, Nichtdiskriminierung, Verbot von Kinder- oder Zwangsarbeit usw. – ratifiziert und sind rechtlich daran gebunden. Alles ist gut aufeinander abgestimmt.

Wie sieht es mit den Arbeitsnormen und privaten Labels aus?


Private Labels beziehen sich häufig auf die ILO-Übereinkommen. Tun sie dies nicht, haben sie kaum Chancen, sich durchzusetzen. Wir dienen als Vorbild. Um sicherzustellen, dass sich die Unternehmen an die erwähnten Ziele halten, müssen wir Aufklärungsarbeit leisten und mit dem Privatsektor zusammenarbeiten.

Was erhoffen Sie sich von diesem Jubiläumsjahr und den anstehenden Veranstaltungen und Konferenzen?


Normalerweise fehlen an jeder Jahreskonferenz etwa zehn Mitgliedsstaaten. Mein Wunsch ist es, dass an der Jubiläumskonferenz im Juni alle teilnehmen. An der Konferenz wollen wir das internationale Übereinkommen zu Gewalt und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verabschieden. Das wäre das erste internationale Instrument, welches sich des von der #MeToo-Bewegung ans Licht gebrachten Problems annimmt. Ausserdem richten wir den Fokus auf die Zukunft der Arbeit: Der im Januar vorgestellte Bericht wird im Juni im Plenum diskutiert, und anschliessend dürfte auch eine entsprechende Jubiläumserklärung angenommen werden. Bisher hat die ILO zu jedem entscheidenden Zeitpunkt ihrer Geschichte starke Erklärungen verabschiedet.

Zitiervorschlag: Blank, Susanne (2019). «Der Aufwand lohnt sich». Die Volkswirtschaft, 22. März.

Guy Ryder

Der 63-jährige Guy Ryder ist in Liverpool geboren und begann seine Karriere in Gewerkschaftskreisen. Nach einem ersten Einsatz bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zwischen 1998 und 2002 kehrte er 2010 zurück und wurde 2012 zum Generaldirektor gewählt. Dazwischen war er ab 2006 als erster Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (ICFTU) tätig.