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Digitalisierung bringt Sozialpartnerschaft unter Druck

In vielen Jobs genügen ein Internetanschluss und ein Laptop, um einen Arbeitsauftrag auszuführen. Die damit einhergehende Vermischung von Arbeit und Freizeit stellt die Sozialpartner vor Herausforderungen.

Digitalisierung bringt Sozialpartnerschaft unter Druck

Arbeitszeit oder Freizeit? Im digitalen Zeitalter ist die Abgrenzung schwieriger. (Bild: Keystone)

Globalisierung und Digitalisierung verändern Produktions- und Vertriebsformen und bringen neue Geschäftsmodelle wie Sharing-Plattformen hervor, die Dienstleistungsanbieter und Dienstleistungsempfänger vermitteln. Es verändert sich aber auch die Arbeit an sich: Arbeitsprozesse werden beschleunigt, und die Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung steigen. Gleichzeitig vermischen sich Arbeits- und Wohnort beziehungsweise Arbeit und Freizeit zusehends – was zwar die Autonomie in der Lebensgestaltung stärkt, aber auch die Gesundheit und das Sozialleben beeinträchtigen kann. Schliesslich erfordern zunehmende Datenmengen einen verstärkten Schutz betrieblicher Geheimnisse und ermöglichen eine stärkere Überwachung der Beschäftigten.

Für das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht stellen diese Veränderungen eine Herausforderung dar. Denn das Arbeitsrecht und insbesondere auch das kollektive Arbeitsrecht basieren auf den Prämissen «Arbeitnehmer», «Arbeitgeber» und «Betrieb». Auf den digitalen Plattformen, wo die einzelnen Arbeitsschritte komplex organisiert sind, ist diese Unterscheidung manchmal nicht mehr klar: Wer gilt als Arbeitgeber, was ist ein Betrieb? Gefordert ist auch die Sozialpartnerschaft, da ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) Arbeitgeber und Arbeitnehmer beziehungsweise Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften voraussetzt. Angesprochen sind somit grundsätzliche Fragen des kollektiven Arbeitsrechts: Fallen beispielsweise Selbstständigerwerbende oder arbeitnehmerähnliche Personen in den Geltungsbereich eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV)?

Zentral für die Sozialpartnerschaft ist das kollektive Arbeitsrecht. Es regelt die Beziehungen zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden beziehungsweise der jeweiligen Verbände. Indem der gesetzliche Rahmen die kollektive Interessenvertretung ermöglicht, soll der Arbeitnehmerschutz erhöht werden. In die gleiche Richtung zielen die zwingenden Bestimmungen des Individualarbeitsrechts sowie das öffentliche Arbeitsrecht.

Vor diesem Hintergrund haben wir in einer Studie untersucht, in welche Richtung sich die Sozialpartnerschaft bewegt.[1] Auftraggeber war das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

Was ist ein Arbeitsvertrag?


Ein Gesamtarbeitsvertrag setzt Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden voraus. Diese Verhältnisse sind gemäss dem Obligationenrecht (OR) in einem Einzelarbeitsvertrag geregelt: «Durch den Einzelarbeitsvertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zur Leistung von Arbeit im Dienst des Arbeitgebers und dieser zur Entrichtung eines Lohnes, der nach Zeitabschnitten (Zeitlohn) oder nach der geleisteten Arbeit (Akkordlohn) bemessen wird.»[2] Ein Arbeitsvertrag weist somit vier Merkmale auf: Erbringen einer Arbeitsleistung (geschuldet ist nicht der Arbeitserfolg), Entschädigung, Dauerschuldverhältnis und Unterordnung.

Das Kriterium der «Unterordnung» ist angesichts der gerade durch die Digitalisierung zumindest für qualifizierte Arbeiten verstärkt geforderten Selbstorganisationskompetenz nicht immer sachgerecht. Mehr Autonomie im Arbeitsverhältnis heisst indes noch nicht, dass eine Person nicht dennoch Schutz des Arbeitsrechts nötig hat. Auch mit Homeoffice und einer freien Zeiteinteilung ist man in einen Betrieb eingegliedert: Je nach Umständen genügen dazu lediglich ein Smartphone und ein Laptop.

Grundsätzlich gilt: Liegt ein Arbeitsvertrag vor, steht dem Arbeitnehmer ein Arbeitgeber gegenüber. Arbeitgeber ist, wer vom Arbeitnehmer die arbeitsvertraglich zugesicherte Arbeitsleistung einfordern kann. Die Arbeitgeberstellung ist nicht abhängig davon, ob der Arbeitgeber ein Unternehmer ist oder ob er ein nach kaufmännischen Kriterien geführtes Unternehmen betreibt. Auch ist möglich, dass ein und dieselbe Person sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer ist. Dies ist etwa der Fall, wenn jemand neben seiner Tätigkeit als Arbeitnehmer für andere Organisationen Aufträge oder Werkverträge annimmt und diese durch eigene Angestellte ausführen lässt. Schliesslich ist auch möglich, dass ein Arbeitnehmer zusätzlich zu seiner Beschäftigung in einem weiteren Arbeitsverhältnis steht: beispielsweise, indem man als «Clickworker» über eine Internetplattform Aufträge für Dritte auf der Grundlage eines Auftrages oder eines Werkvertrages ausführt.

Die entscheidende Frage ist deshalb nicht, ob eine Person Arbeitgeber oder Arbeitnehmer ist, sondern vielmehr, ob eine bestimmte Arbeitsleistung im Rahmen eines Arbeitsvertrages oder eines anderen Vertragstypus erbracht wird. Das Arbeitsvertragsrecht erfasst den Arbeitgeber nicht nur als Vertragspartner des Arbeitnehmers, sondern auch als Inhaber der betrieblichen Organisationshoheit.

Knacknuss Solo-Selbstständige


Im Zusammenhang mit der künftig wohl zunehmenden Verbreitung von Formen selbstständiger Erwerbstätigkeit taucht die Frage auf, ob auch sogenannte Solo-Selbstständige in einem GAV erfasst werden könnten. Damit sind Personen gemeint, die eine Tätigkeit allein, ohne Angestellte, ausführen.

Ein Gesamtarbeitsvertrag ist an sich eine Art Kartell, denn branchenweite Abreden über Lohn- und Arbeitsbedingungen wirken wie eine Preisabsprache. Solche Wettbewerbsbeschränkungen werden in der schweizerischen Rechtsordnung als Reaktion auf die wirtschaftliche Übermacht der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern bewusst in Kauf genommen. Im Kartellrecht gilt der Grundsatz «Arbeitnehmer sind keine Unternehmen». Gewerkschaften sind deshalb dem Kartellgesetz nicht unterworfen. Damit verhält sich das Kartellrecht spiegelbildlich zum Arbeitsrecht: Wenn ein Solo-Selbstständiger und damit Unternehmer im Sinne des Kartellrechts einem GAV angehört, der einen «Mindestlohn» vorsieht, liegt im Ergebnis eine Preisabsprache vor. Das geltende Recht spricht also gegen die Möglichkeit, einem Berufsverband, der die Solo-Selbstständigen einschliesst, die Tariffähigkeit zu verleihen. Mit anderen Worten: Solo-Selbstständige haben kein Recht, einen GAV zu verhandeln.

Damit Plattformbeschäftigte und andere Personen in prekären Verhältnissen vom Schutz eines GAV profitieren können, ist erforderlich, den Begriff des Arbeitnehmers möglichst weit zu fassen: Auch arbeitnehmerähnliche Personen, die eines kollektiven Schutzes bedürfen, sollten deshalb in den Anwendungsbereich des GAV fallen. Die kartellrechtlichen Einschränkungen fallen hier nicht ins Gewicht.

Überwachung nimmt zu


Durch die Digitalisierung werden Arbeitsprozesse standardisierter und transparenter – gleichzeitig werden die Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen gegenüber den Mitarbeitenden erweitert. Mit immer dichteren Compliance-Regelungen versuchen die Unternehmen den steigenden Erwartungen von Behörden, Kunden und Öffentlichkeit gerecht zu werden. In der Folge steigt die Überwachung der Arbeitnehmenden.

Die technologischen Entwicklungen der letzten Jahre haben die Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle der Arbeitnehmenden massiv erweitert. Datenverknüpfung und Datenanalyse erlauben den Arbeitgebenden, präzise Informationen über das Verhalten der Mitarbeitenden zu gewinnen. Durch die zunehmende Vermischung von Arbeitszeit und Freizeit sowie von Arbeitsort und privaten Räumlichkeiten steigt das Überwachungspotenzial um ein Mehrfaches. Zwar finden sich auf gesetzlicher Ebene Vorschriften zum Schutz vor missbräuchlicher Überwachung. Ob diese Bestimmungen ausreichen werden, um den spezifischen Gefahren der Überwachung und der Datenbearbeitung im Arbeitsverhältnis zu begegnen, ist allerdings zu bezweifeln.

Mitsprache erhöhen


Was ist zu tun? Angesichts der nicht vollständigen und weitgehend nicht effektiven rechtlichen Regelungen eröffnen sich für die Sozialpartner Handlungsspielräume. Es ist möglich, Lösungen zu finden, die den Bedürfnissen der Branchen und Betriebe sowie der Mitarbeitenden entsprechen. Dabei müssen die unterschiedlichen Interessen berücksichtigt werden: Während auf Arbeitnehmerseite der Schutz von Persönlichkeit und die Privatsphäre im Zentrum stehen, hat die Arbeitgeberseite ein legitimes Interesse an der Beschaffung und der Nutzung von Arbeitnehmerdaten.

Gefördert werden soll auch die betriebliche Mitwirkung: Demokratische Strukturen in den Betrieben sind zur Verteidigung von Privatsphäre und Persönlichkeitsschutz unumgänglich. Ohnehin erfordert die Digitalisierung eine Demokratisierung der Arbeitswelt, da die neuen Formen des Arbeitens hohe Anforderungen an die Selbstorganisation und ein aktives Engagement der Beschäftigten zur Lösung von Prozessproblemen und zur Optimierung von Abläufen stellen. Wenn gleichzeitig Führungs- und Organisationsstrukturen weitgehend top-down ausgerichtet sind und die Beschäftigten kaum Mitspracherechte haben, ist dies widersprüchlich. Mitsprache und Mitgestaltung sind ein zentraler Bestandteil qualifizierter Arbeit: Indem ein Unternehmen die Kooperation über Fach-, Bereichs- und Hierarchiegrenzen hinweg verstärkt, kann es die Chancen der Digitalisierung am besten nutzen – was zur Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen führen muss.

Die heutigen gesetzlichen Mitwirkungsrechte stellen lediglich einen Minimalstandard dar. Es steht den Sozialpartnern offen, in Gesamtarbeitsverträgen die betriebliche Mitwirkung zu verstärken. Insbesondere ist auch zulässig, dass darin die Rolle der Gewerkschaften bei der betrieblichen Mitbestimmung näher definiert wird.

Klar ist: Die Digitalisierung wird sich ebenso wenig aufhalten lassen wie die Verbreitung von Beschäftigungsplattformen. Doch stehen wir dieser Entwicklung nicht machtlos gegenüber: Unter welchen Bedingungen in digitalen Zeiten gearbeitet wird, ist gestaltbar. Eine besondere Rolle kommt den Sozialpartnern zu. Durch ihre Nähe zur Arbeitswelt sind sie besonders geeignet, praxistaugliche Lösungen für arbeitsrechtliche Fragen und Probleme zu finden. Die mit der Digitalisierung einhergehenden Umwälzungen eröffnen den Sozialpartnern Chancen, in Gesamtarbeitsverträgen Lösungen zu erproben, die später möglicherweise vom Gesetzgeber nachvollzogen werden.

  1. Anne Meier, Kurt Pärli und Zoé Seiler (2018): Die Zukunft des sozialen Dialogs und des Tripartismus vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Wirtschaft[]
  2. Art. 319 OR. []

Zitiervorschlag: Kurt Pärli, Anne Meier, (2019). Digitalisierung bringt Sozialpartnerschaft unter Druck. Die Volkswirtschaft, 25. März.