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RAV-Beratungen unter der Lupe

Die Mitarbeitenden der öffentlichen Arbeitsvermittlung bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Beratung und Kontrolle. Gleichzeitig werden die Zielgruppen immer heterogener.
Eine RAV-Beratung findet im Schnitt alle sieben Wochen statt. (Bild: Keystone)

Der Arbeitsmarkt wird immer komplexer: Die beruflichen Werdegänge und die Ausbildungsbiografien der Stellensuchenden verlaufen nicht mehr geradlinig. Dies stellt hohe Anforderungen an die Personalberater der öffentlichen Arbeitsvermittlung. In einer Studie hat sich die Arbeitsmarktbeobachtungsstelle Amosa mit der Frage beschäftigt, wie Stellensuchende durch professionelle Beratung in ihrer Reintegration in den Arbeitsmarkt optimal unterstützt werden können.[1] Dabei stützte sie sich auf Daten der Kantone Aargau, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau, Zug und Zürich aus den Jahren 2010 bis 2016 sowie eine Befragung von Personalberatern der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) im Jahr 2018. Amosa ist eine gemeinsame Initiative dieser zehn Kantone und verfolgt das Ziel, praxisbezogene Fragestellungen aus dem Arbeitsmarkt wissenschaftlich zu untersuchen und basierend auf den Ergebnissen gemeinsam mit den Kantonen massgeschneiderte Massnahmenideen zu entwickeln.

Eine Kernaufgabe der RAV sind Beratungsgespräche. In diesen regelmässig stattfindenden Gesprächen findet die hauptsächliche Interaktion zwischen stellensuchender Person und Personalberater statt. Das Ziel ist es, die Stellensuchenden zu motivieren, ihre Bewerbungskompetenz zu stärken und sie bei der Stellensuche zu unterstützen. Zu Beginn einer Beratung findet häufig eine Standortbestimmung statt, auf Basis derer gemeinsam eine zielführende Wiedereingliederungsstrategie zur raschen und nachhaltigen Reintegration vereinbart wird.

Neben der eigentlichen Beratung prüfen die RAV-Mitarbeitenden in diesen Gesprächen den Einsatz von «arbeitsmarktlichen Massnahmen», um die Arbeitsmarktfähigkeit der Stellensuchenden zu verbessern. Diese Massnahmen, die unter anderem Standortbestimmungen, Bewerbungstrainings, Kurse sowie Beschäftigungsprogramme umfassen, zielen darauf ab, die Stellensuchenden fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Mittels Stellenzuweisung können die Personalberater die Stellensuchenden dazu verpflichten, sich auf eine offene Stelle zu bewerben. Letztlich nehmen sie auch verschiedene Kontrollfunktionen wahr. Erscheinen Stellensuchende beispielsweise nicht wie vereinbart an einem Beratungstermin oder erfüllen die geforderten Arbeitsbemühungen nicht genügend, können die RAV-Mitarbeitenden eine sogenannte Sachverhaltsmeldung auslösen. Diese kann je nach Schweregrad der Pflichtverletzungen Sanktionen in Form von Taggeldkürzungen zur Folge haben.

Alle 45 Tage ein Gespräch


Die Beratungspraxis entwickelt sich laufend weiter. Zum einen wird sie durch Vorgaben des Bundes beeinflusst. So müssen RAV-Personalberatende beispielsweise seit der Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes im Jahr 2011 nicht mehr einmal pro Monat, sondern nur noch alle zwei Monate ein Beratungsgespräch durchführen. Darüber hinaus spielt das wirtschaftliche Umfeld eine Rolle. So kann die Arbeitsbelastung von Personalberatenden in wirtschaftlich turbulenten Zeiten temporär ansteigen, bis die RAV ihre personellen Ressourcen den steigenden Stellensuchendenzahlen anpassen können.

In allen zehn untersuchten Kantonen hat die Beratungskadenz zwischen 2010 und 2016 abgenommen: Während die Gespräche im Jahr 2010 durchschnittlich alle 30 Tage stattfanden, lagen 2016 eineinhalb Monate zwischen zwei Beratungsgesprächen. Dies entspricht einem mittleren jährlichen Anstieg von 8,1 Prozent (siehe Abbildung). Ausschlaggebend dürften wohl die oben angesprochene Gesetzesrevision sowie die steigenden Stellensuchendenzahlen in diesem Zeitraum sein.

Innerhalb der gesetzlichen Vorgaben ist der Gestaltungsspielraum der Kantone jedoch erheblich. Blieb im Jahr 2016 die Beratungskadenz in den Kantonen Schaffhausen, Thurgau und Glarus mit unter 40 Tagen relativ hoch, so verstrichen in St. Gallen, Graubünden oder Zug im Mittel rund 50 Tage zwischen zwei Gesprächen. Darin widerspiegeln sich unterschiedliche kantonale Strategien, aber auch unterschiedliche Rahmenbedingungen und Arbeitsmarktstrukturen. So dürfte die relativ hohe Terminspanne im Kanton Graubünden beispielsweise auch teilweise auf die saisonale Struktur der Stellensuchenden zurückzuführen sein.

Zeitabstand zwischen zwei RAV-Beratungen (2010 und 2016)




Anmerkung: Dargestellt ist die mittlere Dauer in Kalendertagen zwischen zwei Beratungsgesprächen in den Jahren 2010 und 2016. Die Kantone sind geordnet nach der mittleren jährlichen Veränderungsrate zwischen 2010 und 2016.

Quelle: Bestanddaten Avam (Seco), Amosa-Gebiet / Die Volkswirtschaft


Auch bei den arbeitsmarktlichen Massnahmen gibt es kantonale Unterschiede. Die Studie zeigt: In grösseren Kantonen wie Zürich, Aargau und St. Gallen werden häufiger kollektive Kurse eingesetzt als in kleineren Kantonen. In vielen Fällen handelt es sich um Bewerbungs- und Sprachkurse. Demgegenüber finden in kleineren Kantonen wie in Glarus oder Zug öfter individuelle Kurse statt.

Bei den Stellenzuweisungen unterscheiden sich Zürich und der Aargau von den übrigen acht Kantonen: Während Erstere verstärkt Stellenzuweisungen genutzt haben, hat sich deren Bedeutung in den anderen Kantonen zwischen 2010 und 2016 tendenziell verringert. Nicht in den Daten ersichtlich sind die Auswirkungen der 2018 eingeführten Stellenmeldepflicht: Stellenzuweisungen haben dadurch in sämtlichen Kantonen an Bedeutung gewonnen.

Relativ ähnlich verhalten sich die Kantone im Hinblick auf die Sanktionierungspraxis. Dies lässt sich wohl darauf zurückführen, dass der rechtliche Rahmen bei der Überprüfung der Kontrollpflichten und der Sanktionierung den Kantonen engere Grenzen setzt.

Beratung oder Kontrolle?


Bei einer Beratung spielen zwischenmenschliche Aspekte eine wichtige Rolle. Um diese Mikroebene der Interaktion genauer zu untersuchen, haben wir im Jahr 2018 insgesamt 387 Personalberater in den zehn Amosa-Kantonen befragt. Die empirischen Analysen zeigen, dass sich die Beratung von stellensuchenden Personen in einem Spannungsfeld zwischen arbeitslosigkeitsbezogenen Komponenten und Komponenten klassischer Beratungskonzepte bewegt.

Die klassischen Beratungskonzepte basieren auf etablierten Ansätzen der angewandten und klinischen Psychologie. Dabei geht es beispielsweise um eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, um Klarheit über die eigene Beraterrolle oder einen optimalen Umgang mit Belastungen – allesamt wichtige Voraussetzungen für eine zielführende, fachliche Beratung. Gemäss der Befragung ist es wichtig, dass die Ziele zwischen Stellensuchenden und Beratern übereinstimmen und gemeinsam getragen werden. Dazu ist die gegenseitige Akzeptanz entscheidend. Gelingt es dem Berater, eine professionelle Arbeitsbeziehung herzustellen, sind die Chancen für eine erfolgreiche und nachhaltige Reintegration am besten.

Auf der anderen Seite des Spannungsfeldes befinden sich die arbeitslosigkeitsbezogenen Komponenten, die im Umfeld der Arbeitslosenversicherung anzusiedeln sind oder die sich auf das Verständnis der Arbeitslosigkeit beziehen. Konkret geht es um die Sanktionierungstendenz, die geforderte Abgrenzung gegenüber Stellensuchenden und adäquate Annahmen über die Selbstverschuldung von Arbeitslosigkeit. Diese Komponenten setzen Anreize für eine möglichst rasche Reintegration von Stellensuchenden und stellen sicher, dass Stellensuchende zielführend motiviert werden können.

Vertiefende Analysen zeigen, dass die Beratung von stellensuchenden Personen von der Wechselwirkung zwischen individueller Beratung und Kontrolle geprägt ist. Die Berater sind in ihrem Alltag laufend mit Herausforderungen in beiden Bereichen konfrontiert. Sie müssen beide Seiten zielführend integrieren und ein Optimum für alle Beteiligten herausarbeiten. Mit diesem Spannungsfeld müssen sie sich im individuellen Verlauf einer Arbeitslosigkeit und mit jeder stellensuchenden Person neu auseinandersetzen.

Fokus auf Zielgruppen


Ein besonderes Augenmerk legt die Studie auf verschiedene Zielgruppen von Stellensuchenden: Bei höher qualifizierten Personen sind die Herausforderungen vergleichsweise häufiger im zwischenmenschlichen Bereich. Zielführend scheint es, sich auf die positiven Eigenschaften der Stellensuchenden zu fokussieren und berufsbezogene Potenziale rasch herauszuarbeiten und zu nutzen. Hinzu kommt, dass die Arbeitsmarktbehörden gerade bei dieser Zielgruppe über vergleichsweise wenige spezifische Massnahmen verfügen.

Bei gering qualifizierten Stellensuchenden hingegen stehen vielfach fehlende Ausbildungsmöglichkeiten und fehlende offene Stellen im Arbeitsmarkt im Fokus. Häufig sind aber auch eine geringe Motivation und ein geringes Selbstvertrauen wesentliche Herausforderungen in der Beratungspraxis. Generell lässt sich festhalten: Die Beratung in diesem komplexen Umfeld stellt höchste Anforderungen an die RAV und übersteigt in immer mehr Fällen den eigentlichen Kernauftrag.

  1. Amosa (2019). Beratungspraxis der RAV – Strategien und Herausforderungen. []

Zitiervorschlag: Katharina Degen, Angelo Wetli, (2019). RAV-Beratungen unter der Lupe. Die Volkswirtschaft, 22. Mai.