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Über 60 Prozent der heimischen Wassertiere und -pflanzen sind bedroht. Um ihr Überleben zu sichern, müssen die Gewässer naturnaher gestaltet und sowohl die Pestizid- als auch die Nährstoffbelastung reduziert werden.
Stefan Hasler, Direktor Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (VSA), Glattbrugg

Standpunkt

Während Jahrhunderten stellte das Abwasser aus Siedlungen eine der grössten Bedrohungen für den Menschen dar. Weil die Notdurft auf der Strasse verrichtet wurde und dort zudem Schweine und Hühner frei herumliefen, lebte die Stadtbevölkerung in ständigem Schmutz. Dies führte immer wieder zur Verseuchung von Trinkwasserbrunnen. Verheerende Typhus- und Choleraepidemien waren die Folge. Erst im 19. Jahrhundert forderten Ärzte und Städteplaner im Zuge der sogenannten Kloakenreform eine kontrollierte Abfuhr des Abwassers aus den Siedlungen heraus.

Weil es um die eigene Gesundheit ging, handelten die Menschen rasch: Sobald die Bedeutung der Siedlungshygiene erkannt war, wurden Kanalisationen zur Ableitung des Schmutzwassers gebaut. Damit verdoppelte sich die Lebenserwartung in den Städten von 40 auf 80 Jahre. Die Siedlungshygiene gilt denn auch – weit vor der Entdeckung von Antibiotika – als wichtigste medizinische Errungenschaft.

Der massive Gewinn an Lebensqualität ging mit einer deutlichen Zunahme der Gewässerverschmutzung einher. Die aus den Siedlungen abgeleiteten Abwässer gelangten nun ungereinigt in Bäche, Flüsse und Seen und führten dort zu Fischsterben, Schaumteppichen und ausgedehnten Algenblüten. Für viele Gewässer verfügten die Behörden ab den 1950er-Jahren Badeverbote. Wer sich trotzdem traute, in einen Fluss zu springen, musste damit rechnen, neben mitschwimmenden Fäkalien wieder aufzutauchen.

Wieder war unsere Gesundheit beeinträchtigt, und wieder handelte man rasch: Heute wird das Abwasser von über 98 Prozent der Schweizer Bevölkerung in Kläranlagen gereinigt. Damit gehören verschmutzte Gewässer und durch mangelnde Siedlungshygiene verursachte Krankheiten längst der Vergangenheit an.

Trotz Kläranlagen wenig Fische

Optisch sind unsere Gewässer nun zwar sauber – trotzdem leiden die darin lebenden Tiere und Pflanzen: 60 Prozent der Fisch‐ und 70 Prozent der Amphibienarten sowie 60 Prozent der Wasserpflanzen sind bedroht. Gründe dafür sind einerseits Kanalisierungen, mit denen die ursprünglichen Lebensräume wie Auen, Moore und Quellen zerstört wurden. Andererseits tragen zu hohe Nährstoff- und Pestizidbelastungen zum Rückgang der Biodiversität bei. Weil viele Lebewesen dadurch geschwächt sind, stellt die Klimaerwärmung eine zusätzliche Herausforderung dar.

Der «Aktionsplan Strategie Biodiversität» stellt fest, dass in der Schweiz der Anteil intakter, naturnaher Flächen auf einem bedenklich tiefen Niveau angelangt ist. Der dadurch verursachte Artenschwund wird ohne massive zusätzliche Anstrengungen weiter fortschreiten und führt mittel- bis langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten. Der Bundesrat sieht daher einen grossen und dringenden Handlungsbedarf.

Auch weltweit wächst die Erkenntnis, dass wir mit der intensiven Raumnutzung durch Infrastrukturen und industrielle Landwirtschaft unsere Lebensgrundlage zerstören. So sind Gewässer in landwirtschaftlich genutzten Einzugsgebieten stark mit Pestiziden belastet. Die Konzentrationen einzelner Stoffe liegen teilweise während mehrerer Monate über dem Grenzwert, wodurch empfindliche Gewässerorganismen erheblich beeinträchtigt werden. Nicht nur im Wasser, sondern auch an Land wirkt sich die Intensivlandwirtschaft fatal aus: Seit einigen Jahren stellt man einen starken Rückgang der Insekten- und Vogelbestände fest.

Im Unterschied zum Menschen können sich die gefährdeten Tiere und Pflanzen nicht gegen ihr Aussterben wehren. Wie wir das Artensterben zumindest verlangsamen können, ist offensichtlich: Neben global konzertierten Anstrengungen für einen effektiven Klimaschutz und der Eindämmung des Landverschleisses braucht es eine Trendwende hin zu einer umweltschonenden landwirtschaftlichen Produktion.

Die dazu notwendige Desintensivierung der Landwirtschaft beinhaltet insbesondere eine drastische Reduktion des Pestizid- und Kunstdüngereinsatzes. Nur so wird die Umweltbelastung auf ein verträgliches Mass reduziert. Nur so sinkt der Nutzungsdruck, wodurch wir der Natur einen Teil des Raums zurückgeben können, der für das Überleben von sensiblen Tier- und Pflanzenarten unabdingbar ist. Nur so können die Gewässer ihre natürliche Dynamik zurückgewinnen, und nur so können die als «Hotspots der Biodiversität» bekannten Feuchtgebiete wie Auen, Moore und Quelllebensräume reaktiviert werden.

Ist der Mensch selber bedroht, dann handelt er rasch, wie die eingangs erwähnten Epidemien zeigen. Tiere und Pflanzen sind uns offenbar zu wenig wichtig, um einen ähnlich starken Willen zur Arterhaltung zu entfalten. Dies ist kurzsichtig, denn die Biodiversität bildet die Lebensgrundlage für uns und alle künftigen Generationen. Jedes Eingreifen in das komplexe System hat fatale Folgen: Der Artenschwund stellt für unser Überleben eine grössere Bedrohung dar als jede Epidemie. Ein konsequentes und rasches Handeln ist unerlässlich.

Neben der Politik sind auch wir gefordert

In erster Linie ist die Politik gefordert, welche die Rahmenbedingungen für einen effektiven Klimaschutz, für eine nachhaltige Raumplanung und für eine umweltschonende landwirtschaftliche Produktion setzen muss. Aber auch Sie können durch Ihr tägliches Verhalten zu sauberen Gewässern und zur Verlangsamung des Artenschwundes beitragen, indem Sie:

    • Ihren Garten oder Ihre Dachfläche nicht «herausputzen», sondern so gestalten, dass die Flächen möglichst vielen Tier- und Pflanzenarten Unterschlupf bieten;

 

    • im Privatgebrauch keine Pestizide einsetzen;

 

    • chemische Produkte wie Farben, Lösungsmittel, Medikamentenrückstände etc. korrekt entsorgen und nicht die Toilette runterspülen;

 

    • noch essbare Lebensmittel verwerten und nicht wegwerfen;

 

    • konsequent Bioprodukte einkaufen und weniger Fleisch essen;

 

    • ganz allgemein auf Ihren ökologischen Fussabdruck achten.

 

Bei all diesen Massnahmen geht es nicht um Verzicht, sondern um einen bewussten Umgang mit unseren Ressourcen. Eine intakte Natur mit sauberen und lebendigen Gewässern und ihrer unersetzlichen Biodiversität ist dies allemal wert.

Zitiervorschlag: Stefan Hasler (2019). Standpunkt: Wasserlebewesen kämpfen ums Überleben. Die Volkswirtschaft, 22. Mai.