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Sanierungsfall Abwassersystem

Das Schweizer Abwassersystem ist in die Jahre gekommen. Nebst Sanierungen sind innovative Lösungen gefragt, um den Ressourcenverbrauch zu mindern. Die Technologien sind vorhanden.
Toiletten-Revolution in Dübendorf: Im «Nest»-Forschungsgebäude werden zukunftsweisende Abwassertechnologien entwickelt. (Bild: Keystone)

Die Schweizer Wasserinfrastruktur ist leistungsstark. Selbst in trockenen Sommern wie im vergangenen Jahr ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser sichergestellt. Ein vierköpfiger Haushalt in der Schweiz bezieht über 200 Tonnen Wasser pro Jahr. Das Wasser muss jedoch nicht nur geliefert, sondern auch nach Gebrauch weggeführt, gereinigt und sicher in den Wasserkreislauf zurückgeführt werden. Um diesen Wassertransport zu gewährleisten, verfügen wir in der Schweiz über eine weitgehend unsichtbare Transportinfrastruktur, die rund 200’000 Kilometer Leitungen im Untergrund umfasst. Das entspricht fast der dreifachen Länge des Strassennetzes.[1]

Der Wiederbeschaffungswert der Wasserinfrastruktur beträgt rund 230 Milliarden Franken (siehe Tabellen). Zum Vergleich: Bei der Strasse liegt dieser Betrag bei 171 Milliarden Franken, bei der Schiene sind es 100 Milliarden. Mit rund 14 Milliarden Franken machen die über 800 zentralen Abwasserreinigungsanlagen nur einen kleinen Teil des Gesamtbetrags aus.

Wasserversorgung: Infrastruktur im Jahr 2014 (in Mrd. Fr.)








Wiederbeschaffungswert (Mrd. Fr.) Jahreskosten (Mrd. Fr.) Jährliche Investitionen (Mrd. Fr.)
Öffentliche Anlagen 15–20 1,5 0,2
Öffentliche Leitungen 35 0,6
Private Infrastrukturen 60,6 1,2 ?
Total 110–115,6 2,7 0,8–?

 Abwasserentsorgung: Infrastruktur im Jahr 2014 (in Mrd. Fr.)








Wiederbeschaffungswert (Mrd. Fr.) Jahreskosten (Mrd. Fr.) Jährliche Investitionen (Mrd. Fr.)
Zentrale ARA 13,6 1 0,3
Öffentliche Kanalisation 66,4 1,2 0,5
Liegenschaftsentwässerung 34–40 1–1,2 ?
Total 114–120 3,2 –3,4 0,8–?


Quelle: Hoffmann et al. (2014).

Viele dieser Wasserinfrastrukturbauten – namentlich für die Abwasserentsorgung – wurden in der Hochkonjunktur der Siebziger- und Achtzigerjahre gebaut und weisen substanzielle Schäden auf. Diese Bauten müssen umfassend saniert und sicher in die Zukunft geführt werden. Jedoch liegen nur punktuell Informationen über das Alter, den Zustand und den Sanierungsbedarf vor. Erstaunlicherweise gibt es für diese essenzielle Infrastruktur keine gesamtschweizerische Übersicht.

Fachleute gehen von einem erhöhten Investitionsbedarf aus, der – gemäss einer eigenen konservativen Schätzung – über die nächsten 30 Jahre bei rund 130 Milliarden Franken liegt. Hinzu kommen Herausforderungen wie die langfristige Planung von Wasserinfrastrukturen. Dabei gilt es unter anderem die Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung sowie den Klimawandel zu berücksichtigen.[2] Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Abwasserreinigung. So sind beispielsweise Lösungen gefragt, um Mikroverunreinigungen zu beseitigen. Noch sind sich viele Gemeinden, als Eigentümer der Wasserinfrastruktur, dieser Herausforderungen nicht bewusst. Auch gibt es nur wenige gesetzliche Vorgaben, wie die kommunalen Wasserinfrastrukturen unterhalten werden müssen.

Globale Herausforderung


Weltweit ist der Investitionsbedarf enorm: Gemäss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind im Wasserbereich jährliche Investitionen im Umfang von 772 Milliarden Dollar nötig. Ausserdem werden jährlich zwischen 71 und 166 Milliarden Dollar benötigt, um auch in Entwicklungsländern bis 2030 einen minimalen Zugang zu Siedlungshygiene zu ermöglichen. Zum volkswirtschaftlichen Nutzen dieser Investitionen gibt es kaum verlässliche Zahlen. In der Entwicklungszusammenarbeit spricht man von einer Rendite von 5,5 bis 7 Dollar pro investiertem Dollar.[3]

Allerdings zeigt die globale Betrachtung, dass konventionelle Wasserinfrastrukturen nicht die einzige Lösung für schnell wachsende Städte in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen sind. Denn Netzinfrastrukturen setzen nicht nur lange Planungshorizonte und stabile Institutionen voraus, sondern auch Wassermengen, die in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mit zunehmender Wasserknappheit nicht zur Verfügung stehen.[4] Ein Nachteil der konventionellen Wasserinfrastrukturen ist eine begrenzte Flexibilität, um sich zukünftigen Entwicklungen wie wachsenden oder schrumpfenden Bevölkerungszahlen anzupassen.

Recycling als Chance


Derzeit ist die Ressourceneffizienz der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung gering. So wird leicht verschmutztes Wasser aus Lavabos und Waschmaschinen (sogenanntes Grauwasser) mit hygienisch bedenklichem Wasser aus den Toiletten vermischt und muss in den Kläranlagen aufwendig gereinigt werden. Mit dem Abwasser werden auch grosse Mengen an Phosphor und Stickstoff entsorgt. Beides sind essenzielle Pflanzennährstoffe, welche in der gleichen Menge als Mineraldünger wieder importiert werden.[5]

Was bei der Wertstofftrennung im Abfall üblich ist – die getrennte Verwertung von Glas-, Aluminium-, Papier-, Karton-, Plastik-, Bio- und Restmüll –, funktioniert auch bei Abwasser: Die verschiedenen Abwasserströme können an der Quelle getrennt und separat behandelt werden. Dies ermöglicht zum einen, das Grauwasser aufzubereiten und im Haushalt – etwa zur Toilettenspülung – wiederzuverwenden und die im Abwasser enthaltenen Nährstoffe zurückzugewinnen. So könnten die im Abwasser enthaltenen Stoffe den gesamten Bedarf an Phosphor- und Stickstoffdünger, der derzeit importiert wird, ersetzen.[6] Zum andern kann der aufwendige Transport des Abwassers über teure Kanalisationen vermieden werden.

Der grosse Investitionsbedarf und der steigende Druck, effizientere Lösungen zu finden, verlangen nach Innovationen. In der Schweiz, wo insbesondere in der Abwasserbehandlung ein grosses Know-how vorhanden ist, sind die Voraussetzungen gut. Dank langjähriger Forschung zu innovativen Wasserinfrastrukturen zeichnen sich erfolgversprechende, revolutionäre Ansätze ab, welche den ganzen urbanen Wassersektor der Kreislaufwirtschaft («circular economy») öffnen. Beispiele sind die Trennung und die Behandlung verschiedener Abwasserströme an der Quelle.

Dünger aus Urin


Das Abwasser aus Bad und Küche kann heute mittels modernster Membrananlagen lokal hochwertig aufbereitet und zur Wiedernutzung verwendet werden. Urin ist weitgehend eine konzentrierte Nährstofflösung, aus der mit geringem Aufwand ein hochwertiger Pflanzendünger hergestellt werden kann. So ist zum Beispiel seit 2018 ein urinbasierter Volldünger vom Bundesamt für Landwirtschaft zugelassen. Die hygienisch bedenklichste Abwasserfraktion, Fäkalien, macht weniger als 1 Prozent der gesamten Abwassermenge aus.

Die technischen Entwicklungen in diesem Bereich sind rasch und hoch aktuell. So hat eine schweizerisch-österreichische Kooperation eine urinseparierende Toilette entwickelt, welche an der XXII Triennale Milano 2019 den Black Bee Award gewonnen hat und ab Sommer 2019 von einer Schweizer Firma produziert und vertrieben wird. Der oben erwähnte Urindünger wird von einem Spin-off der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereiches, produziert und in der Schweiz, Deutschland und Frankreich vertrieben.

In einem modularen Forschungs- und Innovationsgebäude in Dübendorf entwickeln Eawag-Forschende gemeinsam mit Industriepartnern verschiedene innovative Technologien und prüfen deren Funktionstüchtigkeit unter realen Bedingungen. In einem von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung mit mehreren Millionen Dollar unterstützten Projekt wird beispielsweise eine wassergespülte Toilette entwickelt, die keinen externen Anschluss an Wasser- und Abwassernetze benötigt.

Ist der Wille vorhanden?


Die schweizerische Forschung und Entwicklung im Wasser- und Abwasserbereich nimmt global eine Spitzenposition ein. Allerdings ist unklar, ob wir diese Spitzenposition auch optimal nutzen. Auf der einen Seite gilt es, die bestehenden Infrastrukturen in der Schweiz in die Zukunft zu führen – auf der anderen Seite besteht ein globaler Bedarf an innovativen Lösungen. Wenn es uns gelingt, statt reinen Werterhalts auf Innovationen zu setzen, dann erhalten wir die Möglichkeit, nicht nur einen essenziellen Service public zukunftstauglich zu machen, sondern auch eine vielversprechende Industrie aufzubauen. Ob und allenfalls wie die Schweiz künftig eine international führende Rolle in der Umsetzung innovativer Lösungen spielen kann, wird derzeit im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms (NFP 73) untersucht.[7]

Allerdings: Das Risiko, das mit dem Schaffen eines «Lead-Market» einhergeht, darf nicht allein den Gemeinden überlassen werden. Es braucht dazu Impulse auf nationaler Ebene. Aus wirtschaftspolitischer Sicht stellt sich somit die Frage: Sind wir bereit, die Schweiz als Wasser-Innovationsstandort zu positionieren?

  1. Schalcher et al. (2011). []
  2. Vgl. Hoffmann et al. (2014). []
  3. Return on Investment: Vgl. Hutton et al. (2004) sowie OECD (2011). []
  4. Larsen et al. (2016). []
  5. Binder et al. (2009). []
  6. Larsen et al. (2013). []
  7. Mehr Infos unter dem Stichwort «Comix» auf der Website des Schweizerischen Nationalfonds. []

Literaturverzeichnis

  • Binder, C. R.; de Baan, L. und Wittmer, D. (2009). Phosphorflüsse in der Schweiz. Stand, Risiken und Handlungsoptionen. Abschlussbericht. Umwelt-Wissen Nr. 0928. Bundesamt für Umwelt, Bern.
  • Hoffmann, S.; Hunkeler, D. und Maurer, M. (2014). Nachhaltige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in der Schweiz: Herausforderungen und Handlungsoptionen. Thematische Synthese 3 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 61 «Nachhaltige Wassernutzung», Bern.
  • Hutton, G.; Haller, L. und WHO (‎2004)‎. Evaluation of the Costs and Benefits of Water and Sanitation Improvements at the Global Level, Genf.
  • Larsen, T. A.; Udert, K. M. und Lienert, J. (2013). Editorial. Source Separation and Decentralization for Wastewater Management. In: T. A. Larsen; K. M. Udert und J. Lienert (Eds.), Source Separation and Decentralization for Wastewater Management (1–10), London.
  • Larsen, T. A.; Hoffmann, S.; Lüthi, C.; Truffer, B. und Maurer, M. (2016). Emerging Solutions to the Water Challenges of an Urbanizing World. In: Science 352(6288): 928–933.
  • OECD (2011). Benefits of Investing in Water and Sanitation: An OECD Perspective, OECD Studies on Water, OECD Publishing, Paris.
  • Schalcher, H.-R.; Boesch, H.-J.; Bertschy, K.; Sommer, H.; Matter, D.; Gerum, J. und Jakob, M. (2011): Was kostet das Bauwerk Schweiz in Zukunft und wer bezahlt dafür? Fokusstudie des Nationalen Forschungsprogramms 54 «Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung», vdf Verlag ETH Zürich.

Bibliographie

  • Binder, C. R.; de Baan, L. und Wittmer, D. (2009). Phosphorflüsse in der Schweiz. Stand, Risiken und Handlungsoptionen. Abschlussbericht. Umwelt-Wissen Nr. 0928. Bundesamt für Umwelt, Bern.
  • Hoffmann, S.; Hunkeler, D. und Maurer, M. (2014). Nachhaltige Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in der Schweiz: Herausforderungen und Handlungsoptionen. Thematische Synthese 3 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 61 «Nachhaltige Wassernutzung», Bern.
  • Hutton, G.; Haller, L. und WHO (‎2004)‎. Evaluation of the Costs and Benefits of Water and Sanitation Improvements at the Global Level, Genf.
  • Larsen, T. A.; Udert, K. M. und Lienert, J. (2013). Editorial. Source Separation and Decentralization for Wastewater Management. In: T. A. Larsen; K. M. Udert und J. Lienert (Eds.), Source Separation and Decentralization for Wastewater Management (1–10), London.
  • Larsen, T. A.; Hoffmann, S.; Lüthi, C.; Truffer, B. und Maurer, M. (2016). Emerging Solutions to the Water Challenges of an Urbanizing World. In: Science 352(6288): 928–933.
  • OECD (2011). Benefits of Investing in Water and Sanitation: An OECD Perspective, OECD Studies on Water, OECD Publishing, Paris.
  • Schalcher, H.-R.; Boesch, H.-J.; Bertschy, K.; Sommer, H.; Matter, D.; Gerum, J. und Jakob, M. (2011): Was kostet das Bauwerk Schweiz in Zukunft und wer bezahlt dafür? Fokusstudie des Nationalen Forschungsprogramms 54 «Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung», vdf Verlag ETH Zürich.

Zitiervorschlag: Max Maurer, Sabine Hoffmann, (2019). Sanierungsfall Abwassersystem. Die Volkswirtschaft, 21. Mai.