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Flankierende Massnahmen: 15 Jahre Lohnschutz

Dank den flankierenden Massnahmen konnten Missbräuche bei Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz erfolgreich bekämpft werden. In den vergangenen 15 Jahren wurde das Schutzdispositiv laufend angepasst und optimiert.
Im Baugewerbe garantieren allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge einen Mindestlohn. Grossbaustelle «The Circle». (Bild: Keystone)

Das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU führte 2002 in der Schweizer Arbeitsmarktpolitik zu einem Paradigmenwechsel. Zuvor galt auch für EU-Bürger eine generelle Bewilligungspflicht: Jeder Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer aus dem Ausland anstellen wollte, musste ein entsprechendes Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungsgesuch stellen. Geprüft wurden in jedem Einzelfall die Qualifikation, die Lohn- und Arbeitsbedingungen, und schliesslich musste auch ein Kontingentsplatz zur Verfügung stehen. Diese Einzelfallprüfungen verursachten insbesondere hohe administrative Kosten für die Arbeitgeber.[1]

Im Zuge der flankierenden Massnahmen (Flam) wurde diese Bewilligungspflicht für EU-Bürger im Jahr 2004 durch Stichprobenkontrollen abgelöst. Das Ziel der flankierenden Massnahmen ist die Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping. Überdies sollen sie für gleich lange Spiesse zwischen den inländischen Unternehmen und den ausländischen Dienstleistungserbringern sorgen. Neu war gerade die flächendeckende Arbeitsmarktbeobachtung durch die Kantone, die insbesondere auch die Kontrolle der Schweizer Betriebe beinhaltet.

Beim Aufbau der flankierenden Massnahmen wurde auf Kontinuität gesetzt, indem bestehende Instrumente so weit wie möglich übernommen und gezielt ergänzt wurden. So konnten für allgemein verbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAV) erleichtert beschlossen werden. Ferner wurden Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen geschaffen; die bisherigen Normalarbeitsverträge hatten ausschliesslich die Arbeitsbedingungen geregelt.

Überdies blieben die Sozialpartner weiterhin für den Vollzug von allgemein verbindlichen Gesamtarbeitsverträgen zuständig und wurden neu auch für die Kontrollen von entsandten Dienstleistungserbringern in Branchen mit allgemein verbindlichen GAV eingesetzt. In diesen Branchen führen Baustellen- und Lohnbuchkontrolleure die Kontrollen in den Branchen durch. Sie sind von paritätischen Kommissionen (PK) angestellt, die sich aus Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zusammensetzen. Wenn ein Mindestlohn nicht eingehalten wird, sanktionieren sie das betroffene Unternehmen («Lohnverstoss»).

In Branchen ohne allgemein verbindliche GAV beurteilen die kantonalen Tripartiten Kommissionen, welche aus Sozialpartnern und Kantonsvertretern zusammengesetzt sind, die Orts- und Branchenüblichkeit in ihren Kantonen. In ihrem Auftrag kontrollieren kantonale Inspektoren, ob die Unternehmen diese Löhne einhalten. Ist dies nicht der Fall, spricht man von einer sogenannten Lohnunterbietung. Die Arbeitsmarktentwicklung auf kantonaler Ebene wird von den Tripartiten Kommissionen beobachtet.

Generell beabsichtigte der Gesetzgeber einen nach Regionen und Branchen dezentralen Vollzug. Denn er war der Auffassung, dass die regionalen und branchenspezifischen Vollzugsstellen die Herausforderungen ihrer Teilarbeitsmärkte am besten kennen und so ihre Vollzugstätigkeit am wirksamsten ausführen können. Die Aufsicht über die Vollzugsstellen nimmt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wahr. Gleichzeitig koordiniert es die Tripartite Kommission des Bundes, welche den Arbeitsmarkt auf nationaler Ebene beobachtet.

Zunahme der kurzfristigen Einsätze


Die flankierenden Massnahmen wurden insbesondere im Hinblick auf grenzüberschreitende Dienstleistungen erlassen. Die Personenfreizügigkeit führte in der Tat zu einem starken Anstieg von grenzüberschreitenden Dienstleistungen. Zwischen 2005 und 2013 verdoppelte sich die Zahl der meldepflichtigen Kurzzeitaufenthalter – entsandte Arbeitnehmer, Selbstständige und kurzfristige Stellenantritte bei einem Schweizer Arbeitgeber – von 92’675 auf 215’985 Personen. In den darauffolgenden Jahren verlangsamte sich das Wachstum, und seit 2016 ist die Zahl der entsandten Arbeitnehmer und selbstständigen Dienstleistungserbringer rückläufig, während die Zahl der kurzfristigen Stellenantritte weiter steigt (2018: 244’077).

Die Branchenzusammensetzung der entsandten Dienstleistungserbringer hat sich über die Jahre kaum verändert: Entsandte Arbeitnehmer sind hauptsächlich in der verarbeitenden Industrie und im Baunebengewerbe tätig. Die durchschnittliche Einsatzdauer der in die Schweiz entsandten Dienstleistungserbringer fällt mit 5 Tagen pro Einsatz kurz aus. Dieser Umstand hängt unter anderem damit zusammen, dass im Personenfreizügigkeitsabkommen die Dienstleistungsfreiheit zwischen der Schweiz und der EU auf 90 Tage pro Jahr beschränkt ist. In den meisten Fällen wird dieses Limit nicht erreicht: Die Hälfte der entsandten Arbeitnehmer beansprucht zwischen 8 und 10 Tage, ein Viertel arbeitet sogar insgesamt weniger als 4 Tage in der Schweiz. Was die selbstständigen Dienstleistungserbringer betrifft, so dauern deren Einsätze durchschnittlich 8 Tage, und übers Jahr gesehen sind sie 21 bis 30 Tage in der Schweiz tätig. Die durchschnittliche Einsatzdauer für kurzfristige Stellenantritte fällt mit rund 19 Tagen pro Kalenderjahr am längsten aus.

Mehr und bessere Kontrollen


Seit 2004 haben Bund, Kantone und die Sozialpartner das System der flankierenden Massnahmen stetig weiterentwickelt (siehe Abbildung 1). Die vergangenen 15 Jahre waren insbesondere vom sukzessiven Ausbau der Kontroll- und Sanktionsinstrumente, dem schrittweisen Ausbau der Kontrollaktivität und der laufenden Verstärkung der Qualität der Kontrollen geprägt. Lücken, beispielsweise hinsichtlich Kontrollen von selbstständigen Dienstleistungserbringern respektive zur Feststellung von Scheinselbstständigkeit, wurden geschlossen und die Anreize, die Lohn- und Arbeitsbedingungen einzuhalten, erhöht.

Abb. 1: Flankierende Massnahmen: Anpassungen auf Gesetzes- und Vollzugsebene




Während in den ersten beiden Jahren nach Einführung der flankierenden Massnahmen noch kaum kontrolliert wurde, nahm die Kontrolltätigkeit stetig zu, um sich ab 2013 auf einem Niveau von um die 40’000 Kontrollen pro Jahr einzupendeln. Bis 2009 wurden nur ausländische Dienstleistungserbringer und Schweizer Arbeitgeber kontrolliert; danach kamen Kontrollen bei selbstständigen Dienstleistungserbringern hinzu.

Rund die Hälfte aller Kontrollen werden bei ausländischen Entsendeunternehmen durchgeführt, 30 Prozent der Kontrollen entfallen auf Schweizer Unternehmen und 20 Prozent auf selbstständige Dienstleister. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Natur sind diese drei Kontrollen allerdings kaum vergleichbar: Der geringere Anteil der Kontrollen bei Schweizer Arbeitgebern erklärt sich dadurch, dass im Gegensatz zu den Kontrollen bei Entsendungen die Kontrollen nachträglich über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden können. Darüber hinaus werden Schweizer Unternehmen – im Gegensatz zu Entsendeunternehmen – im Rahmen der Bekämpfung der Schwarzarbeit und der Anwendung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz kontrolliert. Bei den Selbstständigerwerbenden prüfen die Inspektoren, ob diese in der Tat selbstständig erwerbend sind oder sich nur als solche ausgeben, um die geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen zu umgehen.

Neben dem Ausbau der Kontrolltätigkeit wurden seit 2004 unter anderem die Lohntransparenz, die Arbeitsinstrumente und die Qualität der Kontrollen verbessert. Im Zuge der Einführung von flächendeckenden Audits durch das Seco zeigte sich, dass die gesetzlichen Vorgaben in den einzelnen Regionen und Branchen teilweise unterschiedlich und nicht immer wirksam respektive gesetzeskonform umgesetzt wurden.[2] Im Jahr 2016 lancierte der Bundesrat daher einen Aktionsplan, in dem er insbesondere die Verbesserung des Vollzugs respektive die Risikobasierung des Vollzugs ins Zentrum stellte. Aktuell laufen beim Seco Bestrebungen, bestehende Medienbrüche im Datenaustausch zwischen den verschiedenen Vollzugsorganen abzubauen und den Prozess der Onlinemeldungen im Rahmen des Zentralen Migrationsinformationssystems (Zemis) zu verbessern.

Fokus auf Risikobranchen


Was haben die Kontrollen ergeben? Für die Interpretation der Resultate ist es wichtig, zu wissen, dass die festgestellten Verstösse keine Durchschnittswerte sind, da in «Risikogebieten und -branchen» mehr kontrolliert wird. So liegt die Kontrollintensität in den Grenzregionen oder in exponierten Branchen wie dem Baunebengewerbe, dem Gastgewerbe oder dem Personalverleih über dem Durchschnitt. Intensiv kontrolliert werden auch Unternehmen oder Kategorien von Arbeitnehmern, die als gefährdet gelten, wie zum Beispiel Praktikanten und über Personalverleiher entliehene Mitarbeiter. Darüber hinaus kontrollieren die Kontrollorgane auch auf Verdacht oder auf konkrete Hinweise hin. Hinzu kommt: Die Entwicklung über die Zeit hängt stark von den Kontrollstrategien der Vollzugsorgane ab.

Im Jahr 2018 blieb die bei den Schweizer Arbeitgebern festgestellte Lohnunterbietungsquote mit 13 Prozent ebenso wie die Quote der Verstösse gegen Mindestlöhne mit 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr stabil (siehe Abbildung 2). Im Entsendebereich betrug die Lohnunterbietungsquote 15 Prozent, während die Verstossquote bei 20 Prozent lag.

Die Unterbietungsquoten haben sich in den letzten Jahren unterschiedlich entwickelt: Bei den Schweizer Unternehmern ist ein Aufwärtstrend zu verzeichnen, während sich im Entsendebereich seit 2015 ein Abwärtstrend zeigt. Bei den Schweizer Unternehmen kann das Ergebnis allerdings nicht als Folge eines Trends zu einem Anstieg des Fehlverhaltens der Schweizer Unternehmen interpretiert werden. Vielmehr hat der Anstieg mit der erwähnten risikobasierten Vorgehensweise zu tun, welche laufend verbessert wurde. Hinzu kommt, dass der Kontrollschwerpunkt jedes Jahr auf anderen Branchen liegt.

Abb. 2: Lohnunterbietungs- und Mindestlohnverstossquoten (2008 bis 2018)






Quelle: Seco (2019) / Die Volkswirtschaft

Die abnehmenden Lohnunterbietungs- und Mindestlohnverstossquoten bei den Entsendebetrieben sind primär auf zwei Faktoren zurückzuführen: Erstens ist ein grosser Teil der Dienstleistungserbringer regelmässig in der Schweiz tätig und kennt dadurch die geltenden Regeln. Zweitens werden Unternehmen, die sich nicht an die Bestimmungen gehalten haben, meist nicht mehr in der Schweiz tätig, oder sie passen ihr Verhalten im Nachgang zu den Kontrollen an.

Kein Abdriften der tiefen Löhne


Anlässlich der Einführung der Personenfreizügigkeit und angesichts des grossen Lohngefälles zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedsstaaten wurde befürchtet, dass die Löhne in der Schweiz stark unter Druck geraten könnten. Ein ausgeprägter Lohndruck insbesondere im Tieflohnbereich hätte eine ausgewogene Lohnverteilung gefährdet und wäre nicht zuletzt auch aus sozialpolitischen Überlegungen problematisch gewesen.

Gemäss den neusten Daten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik hat sich diese Befürchtung jedoch nicht bewahrheitet: In den letzten 15 Jahren sind niedrige Löhne ähnlich wie der Medianlohn gestiegen (siehe Abbildung 3). Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Ländern gab es in der Schweiz keine Entkoppelung der Niedriglöhne vom Medianlohn; im Allgemeinen sind die niedrigen Löhne sogar stärker gewachsen als der Medianlohn. Diese erfreuliche Entwicklung geht auf verschiedene Faktoren zurück. Ein Teil lässt sich sicherlich auch mit der Einführung der flankierenden Massnahmen erklären. Letztere haben ihre Rolle als Schutzdispositiv gegen missbräuchliche Lohn- und Arbeitsbedingungen für in- und ausländische Arbeitnehmer in den letzten 15 Jahren wahrgenommen.

Abb. 3: Jährliche Lohnentwicklung in der Privatwirtschaft nach Lohnquantilen (2002 bis 2016)




Quelle: BFS, LSE, Auswertung der Autoren / Die Volkswirtschaft

Lesebeispiel: Beim 20-Prozent-Quantil wird der Lohn von 20 Prozent der Arbeitnehmenden untertroffen und von 80 Prozent übertroffen. Dieser Lohn wuchs zwischen 2002 und 2016 im Jahresdurchschnitt um 1,1 Prozent.

Der Rückblick auf die vergangenen 15 Jahre zeigt: Die flankierenden Massnahmen zeichnen sich durch eine hohe Flexibilität aus. Das System konnte sich an die verschiedenen Herausforderungen anpassen, die sich im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit gezeigt haben. Erfolgsentscheidend war dabei die eingespielte Zusammenarbeit von Sozialpartnern, Bund und Kantonen. Die verschiedenen Gesetzesanpassungen und Projekte zur Vollzugsverbesserung haben zu einem effizienten, effektiven und risikobasierten Vollzug geführt. Die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Vollzugsorganen und die Optimierung der verfügbaren Instrumente bleiben auch in Zukunft eine Priorität.

  1. Vgl. B.S,S (2013). []
  2. Siehe Merckx (2016). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Ursina Jud Huwiler, Valentine Mauron, (2019). Flankierende Massnahmen: 15 Jahre Lohnschutz. Die Volkswirtschaft, 20. Juni.