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Die Schweiz ist keine Energieinsel

Die europäischen Grosshandelspreise beeinflussen den Schweizer Strommarkt massgeblich. Das Stromabkommen mit der EU brächte beiden Seiten Effizienzgewinne.
Erdgas ist in Europa nach wie vor wichtig für die Stromproduktion. Bau einer Pipeline in Mecklenburg-Vorpommern. (Bild: Keystone)

Obwohl Elektrizität aus unserem Alltag nicht wegzudenken ist, wissen die meisten wenig über die Dynamik, welche die Elektrizitätspreise im Grosshandel und damit auch den Detailhandelspreis für die Konsumenten bestimmt. Angesichts der politischen Diskussionen über die Zukunft des Elektrizitätssektors – sowohl im Hinblick auf die 2018 lancierte Energiestrategie als auch auf die steigenden Nachhaltigkeitsbedenken – besteht Aufklärungsbedarf bei der Preisgestaltung im Strommarkt: Welche Trends und Treiber beeinflussen die Elektrizitätsgrosshandelspreise in der Schweiz? Welche Rolle spielen politische Entscheidungen und geopolitische Strömungen?

Bereits heute ist der schweizerische Elektrizitätsmarkt eng mit den benachbarten Märkten verbunden – was zu substanziellen Import- und Exportströmen führt. Im Sommerhalbjahr, wenn dank der Schneeschmelze die Stromproduktion aus Wasserkraft auf Hochtouren läuft, dominieren die Nettoexporte. Demgegenüber importiert die Schweiz im Winter netto mehr Strom, da weniger Wasser verfügbar ist.

Thermische Kraftwerke bestimmen den Preis


Die Schweizer Grosshandelspreise entstehen an den europäischen Strombörsen. Die Preise variieren in einem Korridor zwischen einer Untergrenze repräsentiert durch die deutschen und einer Obergrenze in Form der italienischen Grosshandelspreise (siehe Abbildung 1). Sie bewegen sich in etwa parallel zu den französischen Grosshandelspreisen.

Ökonomisch gesprochen, beeinflussen die Grenzkosten der Stromproduktion in Deutschland und in Italien somit das Preisniveau in der Schweiz. Trotz der bemerkenswerten Steigerung der Stromgeneration aus erneuerbaren Quellen in Deutschland und Italien beeinflussen dort Kohle- und Gaskraftwerke nach wie vor die Strompreise, da sie Volatilitäten auszugleichen vermögen. Volatilitäten entstehen beispielsweise, wenn die Nachfrage schwankt oder wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint: Dann können die Wind-  und Solaranlagen nämlich keinen Strom produzieren.

Als Folge davon hängen die schweizerischen Elektrizitätspreise direkt von den Trends auf den Märkten für fossile Energie, speziell Gas und Kohle, ab. Politische Massnahmen und geopolitische Spannungen, welche diese Variablen auf europäischer Ebene beeinflussen, haben damit auch einen Einfluss auf die Dynamik der schweizerischen Grosshandelspreise und beschränken den Spielraum für die Politik und die Schweizer Elektrizitätsunternehmen.

Abb. 1: Grosshandelspreise und durchschnittliche Kosten der Stromproduktion durch Kohle und Erdgas


Quelle: IRE; EPEX, GME, ECB, Fraunhofer ISE, ARERA, ISPRA, UBA, Ökoinstitut, Destatis / Die Volkswirtschaft

Wichtiges Stromabkommen


Abgesehen von der üblichen Volatilität, die vom Wetter und den Rohölpreisen verursacht wird, gilt es vor allem drei Quellen der Unsicherheit zu beachten, welche in der nahen Zukunft einen Einfluss auf die Entwicklung der Grosshandelspreise in Europa und damit in der Schweiz ausüben werden. Eine erste Unsicherheit betrifft die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Seit der Unterzeichnung des Dritten Energiepakets 2009 verfolgt die EU eine Strategie der allmählichen Integration der nationalen Energiemärkte. Ziel ist es, einen europäischen Energiebinnenmarkt (IEM) zu schaffen, der unter anderem den wachsenden Beitrag der stark schwankenden erneuerbaren Energien effizient ins System einbindet. Bereits sind erste Effizienzgewinne erzielt worden: Elektrizität und Übertragungskapazität können nun simultan gehandelt werden. Positiv ins Gewicht fällt auch die effizientere Nutzung der Übertragungsleitungen. Als Folge sinken die Strompreise für den Endverbraucher.

Das schweizerische Elektrizitätssystem kann allerdings nicht vollständig von diesen Verbesserungen profitieren. Obwohl das nationale Übertragungsnetz für die Integration bereit wäre, ist die Schweiz wegen eines fehlenden bilateralen Stromabkommens seit 2014 vom Energiebinnenmarkt ausgeschlossen. Als Folge davon kumulieren sich gemäss einer Analyse der EU-Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (Acer) beidseits der Grenze jährliche Verluste in der Höhe eines zweistelligen Millionenbetrags. Die Unterzeichnung des Stromabkommens ist derzeit blockiert, da die EU das Abkommen an das institutionelle Rahmenabkommen koppelt.

Aus ökonomischer Sicht ist klar: Eine effizientere Nutzung der Übertragungsleitungen verringert den Investitionsbedarf für neue Kraftwerke und Stromleitungen. Die vollständige Marktöffnung würde die Integration neuer Solar- und Windanlagen im In- und Ausland erleichtern und zudem eine profitable Absatzmöglichkeit für Wasserkraftwerke bieten. Weil sich die Grosshandelspreise den effizientesten Produktionskosten angleichen, verringern sich die Gesamtkosten der Elektrizitätsproduktion. Davon profitieren auch die Konsumenten.

Brexit als Risiko


Eine zweite Quelle der Unsicherheit, welche den schweizerischen Elektrizitätsmarkt, wenn auch in geringerem Ausmass, beeinflussen könnte, ist der Brexit. Eine Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2017 argumentiert, dass sich Grossbritannien in Bezug auf den Elektrizitätsmarkt zwischen zwei Varianten entscheiden muss. Gemäss der ersten Variante behält es die Kontrolle über die Regulierung des eigenen Elektrizitätsmarktes bei, verliert aber den Zugang zum EU-Energiebinnenmarkt. Ein solcher «harter Brexit» für den britischen Elektrizitätssektor würde zu einem signifikanten Effizienzverlust führen. Ohne Zugang zum EU-Energiebinnenmarkt müsste Grossbritannien Effizienzverluste in Kauf nehmen, da erstens der Zugang zu günstigeren Ressourcen verloren ginge und zweitens höhere Investitionen in Energieproduktion und Verteilungsnetze notwendig wären, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Die zweite Möglichkeit für Grossbritannien ist es, den Zugang zum EU-Energiebinnenmarkt beizubehalten – verbunden mit einer passiven Übernahme der EU-Regulierung des Elektrizitätsmarktes ohne Möglichkeit einer Einflussnahme. Bei diesem Szenario würden Effizienzverlust und Investitionsbedarf vermieden, die Selbstbestimmung bei der Regulierung des nationalen Elektrizitätssektors wäre jedoch stark eingeschränkt.

Ein harter Brexit trifft auch die EU-Länder: Aufgrund der reduzierten Marktliquidität entstünden auf den europäischen Elektrizitätsmärkten – wenn auch deutlich kleinere – Effizienzverluste. Am stärksten betroffen wäre Irland: Weil die Stromverbindung zum Kontinent durch Grossbritannien verläuft, riskiert Irland, zu einer Energieinsel mit beträchtlichem Verlust von Effizienz und Versorgungssicherheit zu werden.

Ungelöster Gasstreit


Die dritte Risikoquelle ist der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine. Russland ist der grösste Gaslieferant der EU; es liefert rund ein Drittel aller kontinentalen Pipelineimporte. Die Ukraine spielt dabei eine Schlüsselrolle als Transitland für russisches Gas. Die angespannten Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine während der letzten fünfzehn Jahre haben verschiedentlich zu Unterbrechungen der Zufuhr geführt; Streitpunkte sind die Transitkosten und der Gaspreis, den die Ukraine bezahlen muss. Durch die russische Annektierung der Halbinsel Krim im Jahr 2014 wurde der Konflikt verschärft.

Die EU wandte verschiedene Strategien an, um eine Eskalation des Konflikts und weitere Zufuhrunterbrechungen zu vermeiden. So diversifizierte sie die Zahl der Zulieferer und der Transportwege. Weiter investierte sie in die existierenden Gasnetze, um sogenannte Reverse Flows, das heisst Gaslieferungen von Westen nach Osteuropa inklusive der Ukraine, zu ermöglichen. Sie verbesserte die Gastransport-Regulierung, um einen effizienten Netzzugang zu ermöglichen, und schliesslich vermittelte sie diplomatisch zwischen den zwei Ländern.

Trotz diesen Anstrengungen stagnieren die Verhandlungen zur Erneuerung des Transitabkommens zwischen Russland und der Ukraine, welches Ende 2019 ausläuft. Während die Ukraine höhere Transitgebühren zur Finanzierung dringender Renovationen der Pipelines verlangt, strebt Russland ein Abkommen mit geringeren Mengen und mit einer geringeren Laufzeit an. Russland hofft, die Ukraine umgehen zu können, wenn die neue Nord-Stream-2-Pipeline durch die Ostsee fertig gebaut ist. Schon nächstes Jahr soll Gas nach Deutschland fliessen. Allerdings ist unklar, ob die existierenden und neuen Alternativrouten die gesamte von westeuropäischen Käufern bestellte Gasmenge aufnehmen können.

Die Unsicherheiten rund um die Erneuerung des Transitabkommens könnten die Gas-Grosshandelspreise bereits in der zweiten Jahreshälfte 2019 in die Höhe treiben. Dieser Trend würde sich höchstwahrscheinlich in eine Erhöhung der Grosshandelspreise für Elektrizität übersetzen. Besonders exponiert ist Italien, dessen Stromproduktion stark auf Gas beruht und das mehr als ein Drittel seines Gases aus Russland über die Ukraine bezieht (siehe Abbildung 2). Aus Schweizer Sicht sind Preisspitzen vor allem während der Wintermonate zu erwarten, da dann Storm importiert werden muss.

Abb. 2: Woher stammt das Erdgas in den Nachbarstaaten der Schweiz?


Quelle: IRE; BP Statistical Review of World Energy 2019 / Die Volkswirtschaft

Volatilität nimmt zu


Unabhängig von diesen politischen Herausforderungen gilt für die Schweiz: Ein Elektrizitätsmarkt, der mit jenen der Nachbarländer verbunden ist, erlaubt es, Überinvestitionen in Produktion und Übertragung von Elektrizität zu vermeiden. Zudem können Schweizer Wasserkraftwerke ihre Vorteile europaweit besser ausspielen.

Die Teilnahme an einem grösseren Markt ermöglicht eine Senkung der Elektrizitätskosten, bringt aber erhöhte Variabilität der Preise mit sich, da der nationale Markt stärker von Schwankungen auf kontinentaler und globaler Ebene abhängt. Auch Schweizer Elektrizitätsunternehmen könnten von der Teilnahme an einem grösseren Markt profitieren. Investitionen in ICT und intelligente Netze erlauben ein effizientes Management von Nachfrage und Angebot: Dadurch können die Zukäufe zu Spitzenzeiten minimiert werden, und die Verkäufe können gesteigert werden, wenn die Preise hoch sind.

Ein grösserer Markt und intelligente Netze schaffen auch Vorteile für die Konsumenten, die saubereren Strom zu tieferen Preisen erhalten.

Zitiervorschlag: Alessandra Motz, Rico Maggi, (2019). Die Schweiz ist keine Energieinsel. Die Volkswirtschaft, 18. Juli.