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Krise und Reform der WTO: Gedanken zum Engagement der Schweiz

Protektionistische Massnahmen gefährden das multilaterale Handelssystem und die Schweizer Exporte. Die Schweiz setzt sich deshalb für die Reform der WTO ein. Gleichzeitig sollte sie ihre Handelspolitik überdenken.
Wie rettet man den Multilateralismus? Christine Lagarde (IWF), Jim Yong Kim (Weltbank), Roberto Azevêdo (WTO) und José Angel Gurría (OECD), von links, an einer Konferenz in Bali 2018. (Bild: Keystone)

Der ehemalige Schweizer Botschafter bei der Welthandelsorganisation (WTO), Luzius Wasescha, brachte es 2009 auf den Punkt: «Wir haben in diesem Haus ein Juwel zu bewahren: Es ist der Multilateralismus, der jedes schwache Mitglied zu einem starken Mitglied und jedes starke Mitglied zu einem zivilisierten Wesen macht.» An dieser Vision des Multilateralismus hat sich seither nichts geändert. Das im Rahmen der WTO entwickelte Handelssystem – transparent, offen und regelbasiert – gewährleistet vorhersehbare und diskriminierungsfreie Handelsbedingungen für alle Mitglieder. Es ist das beste System gegenüber dem Gesetz des Stärkeren.

Die WTO ist ein unverzichtbares Bollwerk gegen Protektionismus. Sie fördert Werte der internationalen Zusammenarbeit im weitesten Sinne und geht damit über ihre rein handelspolitische Dimension hinaus. Ihre Ursprünge liegen in der Unterzeichnung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) im Jahr 1947. Dieser Vertrag war eine direkte Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und verkörpert den Wunsch, ein solches Ereignis nie wieder erleben zu müssen.

Die Glaubwürdigkeit der WTO und ihre Fähigkeit, die Handelspraktiken ihrer Mitglieder zu regulieren, werden im derzeitigen Klima der Handelsstreitigkeiten infrage gestellt. Die Schweiz setzt sich deshalb dafür ein, mit Reformen die Funktionsfähigkeit der Organisation zu erhalten und zu stärken. Parallel dazu sollte die Schweiz bestimmte Grundsätze ihrer Handelspolitik überdenken, da die aktuellen Entwicklungen hin zu einseitigen handelsbeschränkenden Massnahmen auf eine markante Veränderung in den internationalen Handelsbeziehungen hindeuten.

Der Motor gerät ins Stocken


Die Krise der WTO und des multilateralen Handelssystems dauert nun schon mehrere Jahre. Angesichts der handelspolitischen Spannungen – insbesondere zwischen China und den Vereinigten Staaten – hat sich die Krise seit 2018 verschärft. Die Zunahme der handelsbeschränkenden Massnahmen und Gegenmassnahmen ist besorgniserregend. So erheben die USA unter anderem Zölle auf die Einfuhr von Stahl- und Aluminiumprodukten, die sie mit der Gefährdung der nationalen Sicherheit begründen. Diese Zölle wirken sich direkt auf die Schweizer Exporte aus. Zudem haben die USA weitere Massnahmen ergriffen, die auf chinesische Einfuhren aus Gründen der Verletzung des geistigen Eigentums abzielen.[1]

In der WTO wird das Streitbeilegungsverfahren infrage gestellt. Seit Ende 2016 blockieren die USA den Ernennungsprozess für Mitglieder der Berufungsinstanz systematisch. Wenn diese Situation andauert, wird das Gremium Ende dieses Jahres beschlussunfähig.

Doch das ist nicht die einzige Sorge der WTO. Eine Allianz zwischen den USA, der EU und Japan stellt die Zweckmässigkeit der Institution und ihrer Regeln infrage. Nach Ansicht der Verbündeten sind die WTO-Regeln nicht an die chinesischen Herausforderungen wie massive Industriesubventionen, staatliche Unternehmen und erzwungenen Technologietransfer angepasst. Zudem erfordert die Modernisierung der WTO nach Ansicht der drei Wirtschaftsmächte transparentere Handelspraktiken der Mitglieder sowie eine glaubwürdigere Differenzierung zwischen den Entwicklungsländern.

Die aktuelle Krise ist auf die unvorhersehbare Politik der US-Regierung und die akuten Handelsturbulenzen zwischen den USA und China zurückzuführen. Ironischerweise ist gerade jenes Land, welches das multilaterale Handelssystem seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich geprägt hat, ein Hauptakteur der Krise.

Reformbedarf bei der WTO


Als Reaktion auf die Krise in der WTO haben die Forderungen nach einer Reform zugenommen. Insbesondere die G-20 verlangt, die WTO sei dringend an die aktuellen handelspolitischen Herausforderungen anzupassen. Es gelte, die Handelsregeln und die Funktionsweise der Organisation zu modernisieren. Zudem müsse die Krise im Zusammenhang mit dem Streitbeilegungsmechanismus gelöst werden.

Die Inhalte der Reform sind noch nicht genau definiert, da diese zwischen allen WTO-Mitgliedern ausgehandelt und vereinbart werden muss. Ein künftiges Reformpaket wird jedoch vermutlich diejenigen Punkte beinhalten, die von den grossen Handelsmächten als vorrangig angesehen werden. Für die USA, die EU und Japan sind dies insbesondere die oben erwähnten Einwände gegenüber China. Für Schwellen- und Entwicklungsländer stehen Entwicklungsfragen und günstige Handelsbedingungen («besondere und differenzierte Behandlung») im Vordergrund. Auch Reformen im Landwirtschaftsbereich sind nicht auszuschliessen – ein Thema, das für viele WTO-Mitglieder von grosser Bedeutung ist.

Die nächste Ministerkonferenz findet im Juni 2020 in der kasachischen Hauptstadt Nursultan statt. Sie wird eine bessere Einschätzung der Modernisierungsbestrebungen in der WTO erlauben, denn das «Paket» dieser Konferenz könnte bereits Elemente der Reform enthalten. So scheint ein positives Verhandlungsergebnis bei den Fischereisubventionen möglich. Mit Blick auf die UNO-Nachhaltigkeitsziele (SDG) sollen bestimmte Subventionsformen, die zu Flottenüberkapazitäten und Überfischung beitragen, eliminiert werden. Gleiches gilt für Subventionen, die zu einer nicht gemeldeten und nicht regulierten illegalen Fischerei beitragen. Das Ergebnis dieser Verhandlungen wird zeigen, wieweit diese Organisation heute multilaterale und moderne Regeln entwickeln kann.

Schweiz direkt betroffen


Das multilaterale Handelssystem bildet eine zentrale Säule der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik. Für eine offene und mittelgrosse Wirtschaft wie die Schweiz ist es unerlässlich, dass die WTO angesichts der wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts ihre Bedeutung und Glaubwürdigkeit beibehält. Die Schweiz unterstützt und beteiligt sich daher aktiv an der Reform. Das Endergebnis ist jedoch nach wie vor schwer vorherzusagen, sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf den Zeitrahmen.

In jedem Fall werden die künftigen Entwicklungen als eine Folge der internationalen Handelskrise zu betrachten sein, die in den letzten Jahren durch eine Zunahme der handelsbeschränkenden Massnahmen eskalierte. Diese Situation hat Auswirkungen auf die Schweiz. In rechtlicher Hinsicht schaffen die US-Massnahmen, welche die USA mit der Gefährdung ihrer nationalen Sicherheit begründen, neue Unsicherheiten im internationalen Handelsrecht. Sollte sich herausstellen, dass diese Massnahmen mit den WTO-Regeln vereinbar sind, könnte dies die Tür für weitere protektionistische Massnahmen öffnen, die unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit verhängt werden.

Die Schweiz ist direkt von den Handelsschutzmassnahmen der USA betroffen: Neben den erwähnten Stahl- und Aluminiumzöllen, welche die Schweizer Exporte beeinträchtigen, führten die Vereinigten Staaten 2018 auch einen Antidumpingzoll speziell gegen Schweizer Unternehmen ein.

Handelspolitische Instrumente?


Scheitert die WTO-Reform, werden die globalen Handelsbeziehungen zunehmend beeinträchtigt – wovon auch der Schweizer Aussenhandel betroffen wäre. In Anbetracht dieses Szenarios muss die Schweiz bestimmte Praktiken ihrer Handelspolitik neu bewerten. Konkret stellt sich die Grundsatzfrage, ob die Schweiz die handelspolitischen Instrumente der WTO optimal zur Verteidigung ihrer Interessen nutzt. Tatsächlich hat die Schweiz einige dieser Instrumente nie oder nur wenig eingesetzt. Dies gilt sowohl für den Streitbeilegungsmechanismus als auch für die handelspolitischen Schutzmassnahmen (Schutz-, Antidumping- oder Ausgleichsmassnahmen).

Was den Streitbeilegungsmechanismus der WTO betrifft, so hat die Schweiz erst in zwei Fällen die Einsetzung eines «Panels» beantragt. Ein Panel ist ein Ausschuss, der feststellt, ob der Beschwerdegegenstand mit den WTO-Regeln vereinbar ist. In beiden Fällen ging es um US-Massnahmen, nämlich 2002 um Stahlschutzmassnahmen und 2018 ebenfalls um Schutzmassnahmen bei Stahl- und Aluminiumprodukten, die in diesem Fall aus Gründen der nationalen Sicherheit ergriffen wurden.

Auch bei den Handelsschutzmassnahmen übt sich die Schweiz in Zurückhaltung: Sie wendet keine Schutz-, Antidumping- oder Ausgleichsmassnahmen gegenüber den Einfuhren von Industrieprodukten an. Diese Bestimmungen, die de facto handelsbeschränkend sind, sehen die vorübergehende Anwendung von Zöllen vor. Mit Handelsschutzmassnahmen will ein Staat etwa einen schädlichen Anstieg der Einfuhren in eine bestimmte einheimische Industrie abmildern, den Praktiken der Handelsunterbietung entgegenwirken oder die Auswirkungen der von einem Ausfuhrland gewährten Subventionen ausgleichen.

Ökonomisch gesehen, hat die Schweiz wenig Interesse daran, ihre Importe zu begrenzen oder durch zusätzliche Zölle zu verteuern, denn sie produziert und exportiert Fertigwaren mit hoher Wertschöpfung, die den Import von Vorprodukten erfordern. Wenn die Kosten für diese Vorleistungen steigen, büssen die Exportunternehmen an Wettbewerbsfähigkeit auf dem Schweizer Markt und auf den Auslandsmärkten ein.

Aus politischer Sicht stellt sich schliesslich die Frage, ob die Schweiz in einer Welt des internationalen Handels, in der die Zusammenarbeit zunehmend auf Machtverhältnissen basiert, zusätzliche Instrumente verfügbar machen sollte, um sich gegen einseitige Handelspraktiken zu verteidigen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken – sowohl unter Berücksichtigung der traditionellen Handelsoffenheit der Schweiz als auch der beträchtlichen Ressourcen, die für solche Instrumente erforderlich wären.

Obwohl das Ergebnis der WTO-Reform und die Entwicklung der globalen Handelsbeziehungen kaum vorhersehbar sind, muss die Schweiz von einer Verschärfung der Spannungen ausgehen. Es könnte eine tiefe institutionelle Krise entstehen, in der die Grossmächte entgegen den Regeln des multilateralen Handelssystems ihre eigene Handelspolitik betreiben. Die Schweiz muss auch auf diesen Fall vorbereitet sein und die notwendigen Konsequenzen ziehen.

  1. Als Ergebnis dieser sogenannten Section-301-Massnahmen des Trade Act von 1974 unterliegen nicht weniger als 360 Milliarden US-Dollar der jährlichen bilateralen Handelsflüsse zwischen den USA und China Zöllen von bis zu 25 Prozent. []

Zitiervorschlag: Frédéric Payot (2019). Krise und Reform der WTO: Gedanken zum Engagement der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 18. Juli.