Handelsabkommen sind fair, wenn auch Niedrigqualifizierte davon profitieren. Algerischer Bauer mit Mandarinen. (Bild: Keystone)
Handelsabkommen werden seit Längerem von kontroversen, oft emotionalen Debatten und öffentlichen Protesten begleitet. Kritiker bemängeln, diese Abkommen erhöhten die Ungleichheit. Zudem seien die Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards ungenügend, und Investitionsabkommen oder private Schiedsgerichte schränkten den nationalen Handlungsspielraum ein. Demgegenüber verweisen die Befürworter von Handelsabkommen auf die positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekte.
Aus wirtschaftsethischer Sicht ist grenzüberschreitender Handel niemals Selbstzweck – sondern immer im Hinblick auf seine Folgen für allgemeinen Wohlstand, die gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe aller und die Entwicklungsperspektiven der Armen zu beurteilen. Um Handelsabkommen aus ethischer Sicht zu beurteilen, braucht es deshalb eine sachliche Analyse der konkreten Wirkungszusammenhänge.
Wirtschaftstheorien und empirische Studien zeigen: Handelsbeziehungen bieten für die beteiligten Volkswirtschaften Chancen für mehr Wohlstand und Arbeitsplätze sowie eine Minderung von Armut. Denn der Abbau von tarifären wie nicht tarifären Handelsschranken und gemeinsame Normen und Standards vergrössern die Absatzmärkte, schaffen mehr Wettbewerb, erlauben die Produktion in grösseren Stückzahlen, was die Produktionskosten senkt und den Konsumenten ein reichhaltigeres und günstigeres Angebot ermöglicht. Für ärmere Länder bieten internationale Handelsbeziehungen die Möglichkeit, ihre wirtschaftliche Entwicklung durch mehr Exporte, ausländische Direktinvestitionen und die Nutzung neuer Technologien aus dem Ausland zu verbessern.
Globalisierungsverlierer nicht vergessen
Eine aussenwirtschaftliche Öffnung ist jedoch auch mit Risiken verbunden. Offene Volkswirtschaften sind grösseren äusseren Einflüssen – wie abrupten Veränderungen von Wechselkursen und Weltmarktpreisen – ausgesetzt, zudem sind Verteilungseffekte zu berücksichtigen, und zwar sowohl zwischen den beteiligten Ländern wie innerhalb der jeweiligen Länder. Denn offene Märkte und mehr Wettbewerb bringen fast zwangsläufig Gewinner ebenso wie Verlierer im wirtschaftlichen Sinne hervor. Vom Aussenhandel profitieren vor allem diejenigen, die über Fachwissen, Patente oder die notwendigen Grundstücke, Maschinen und Vertriebsstrukturen verfügen, weil diese Produktionsfaktoren durch den Aussenhandel stärker nachgefragt werden.
Mit fortschreitender Integration in den Welthandel beschleunigt sich der Strukturwandel – was die Dringlichkeit von Anpassungsmassnahmen unterstreicht. Sind bestimmte Produktionsfaktoren oder traditionelle Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig, drohen Betriebsschliessungen und höhere Arbeitslosigkeit.
Generell gilt: Selbst wenn Länder ihre Produktion vergleichsweise schnell auf neue, international gefragte Sektoren umstellen und so Wettbewerbsvorteile erzielen können, profitieren vor allem besser ausgebildete Arbeitskräfte von einer Marktöffnung. Folglich gehören Menschen mit geringer Qualifikation auch in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern meist zu den Verlierern, wenn es ihnen nicht gelingt, ihren Ausbildungsstand zu verbessern.
Die aussenwirtschaftliche Öffnung in den westlichen Demokratien wurde daher oft durch sozialstaatliche Massnahmen vorbereitet und begleitet. Als besonders wichtige «Stabilisatoren» haben sich eine Arbeitslosenversicherung für alle, öffentlich finanzierte Umschulungsprogramme und allgemein steigende Bildungsausgaben erwiesen. So gelang es vielen Ländern, weite Teile der Bevölkerung durch ein breiteres Warenangebot, neue Arbeitsplätze und verbesserte staatliche Leistungen an den Vorteilen des globalen Marktes teilhaben zu lassen.
Die Wirkungen grenzüberschreitender Handelsbeziehungen auf die Wirtschaft und die Lebensbedingungen der Bevölkerung hängen also entscheidend von den nationalen Rahmenbedingungen ab: Insbesondere eine solide Wirtschafts- und Sozialpolitik verbessert die Chancen breiter Bevölkerungskreise, vom internationalen Handel zu profitieren, und federt die Risiken ab, die mit der Integration in den Welthandel verbunden sind. Zentral sind auch Fragen der politischen Teilhabe und der demokratischen Legitimation. Gerade die derzeitigen Erfolge zweifelhafter Demagogen und populistischer Bewegungen führen uns vor Augen, wie wichtig es ist, dass alle Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, nicht nur wirtschaftlich «versorgt zu sein», sondern eben auch dazuzugehören und gehört zu werden.
Massstäbe der Gerechtigkeit
Was ist aus wirtschaftsethischer Sicht zu tun? Klar scheint: Um die erwähnten Chancen und Risiken gleichmässiger zu verteilen, sind verallgemeinerbare Massstäbe der Gerechtigkeit nötig. Danach müssen sich die Handelsabkommen ausrichten.
Erstens braucht es eine «Tauschgerechtigkeit». Das heisst, alle Beteiligten nehmen gemäss ihrer Leistung an den gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekten teil. Dazu muss die Wettbewerbskontrolle gestärkt werden, und Subventionszahlungen sind einzuschränken.
Die «Verfahrensgerechtigkeit» verlangt zweitens eine grösstmögliche Transparenz und eine angemessene Beteiligung der jeweiligen Länder wie der betroffenen Bevölkerung. Denn faire Handelsbeziehungen hängen in hohem Masse davon ab, wie Regeln zustande kommen und wer entscheidet, welche Regeln wann gelten beziehungsweise ausser Kraft gesetzt werden.
Drittens sind die Regeln von Handelsabkommen darauf hin zu prüfen, ob sie den nationalen Gestaltungsspielraum für soziale Sicherungssysteme erhalten und eine flächendeckende Grundversorgung gewährleisten. Prioritär sind dabei die Ernährungssicherheit sowie der Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen für alle. Hier geht es um die sogenannte Bedarfsgerechtigkeit, welche die Befriedigung von Grundbedürfnissen anstrebt. In Handelsvereinbarungen kann dies zum Beispiel durch angemessene Bestimmungen zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und anderer Grundbedürfnisse erreicht werden.
Die «Chancengerechtigkeit» rechtfertigt viertens eine zeitlich begrenzte Vorzugsbehandlung ärmerer Länder bei Agrarprodukten oder anderen Gütern, die für die Grundversorgung wichtig sind, also eine «positive Diskriminierung» bei einzelnen Regeln, um fairen Wettbewerb bei ungleichen Ausgangschancen zu gewährleisten. Der Massstab der Generationengerechtigkeit verweist schliesslich darauf, dass Handelsabkommen auch ökologische Anliegen stärken sollen, indem man etwa ihre Regeln kohärent auf international verbindliche Ziele, wie die Globalen Nachhaltigkeitsziele 2030, abstimmt.
Spielraum ausloten
Diese Massstäbe bieten zunächst nur eine Grundorientierung. Für eine konkrete Umsetzung bedürfen sie einer umfassenden Problemanalyse. Sonst besteht die Gefahr, dass die Bezugnahme auf solche Massstäbe sich in unverbindlichen moralischen Appellen erschöpft oder vorschnell zu falschen Schuldzuweisungen führt.
Die Ergebnisse solcher – auch gründlichen – Analysen sind jedoch selten eindeutig, sondern es kann zu in der Sache begründeten und darum legitimen Meinungsunterschieden kommen. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die Handlungsebene, denn aus ein und derselben Analyse lassen sich oft verschiedene politische Optionen ableiten. Wenn überhaupt keine Einigung möglich ist, sollte man auch bedenken, was die Folgen von andauernden Handelskonflikten sind oder wie das Ergebnis ohne die Berücksichtigung der erwähnten Massstäbe aussehen würde. Für ein begründetes Urteil sind daher nicht nur mögliche negative Folgen des Abkommens zu berücksichtigen, sondern auch die Konsequenzen von Handelsbeziehungen ohne Ordnungsrahmen abzuwägen.
Zitiervorschlag: Wallacher, Johannes (2019). Ethische Massstäbe für eine Ordnung des Welthandels. Die Volkswirtschaft, 18. Juli.