Suche

Abo

«Bisherige werden kaum abgewählt»

Die Vorstellung von gut informierten Bürgern, die Politiker mit schlechtem Leistungsausweis abwählen, sei eine Illusion, so der Politologe Georg Lutz. Ein Gespräch über die anstehenden eidgenössischen Wahlen, die Nulltransparenz bei Wahlspenden und darüber, wie Wähler ihre Wahlentscheide treffen.

«Bisherige werden kaum abgewählt»

«Wer weiss noch, welcher Kandidat was vor vier Jahren versprochen hat?» Politologieprofessor Georg Lutz. (Bild: Jonah Baumann / Die Volkswirtschaft)

Herr Lutz, die härteste Politikevaluation auf nationaler Ebene findet alle vier Jahre mit der Wahl des National- und des Ständerats statt. Wie wichtig ist der Leistungsnachweis der Parlamentarier für ihre Wiederwahl?


Theoretisch ist dieser extrem wichtig. In einer Demokratie geht man davon aus, dass die Wähler in solchen regelmässigen Wahlen die Parteien und die Regierung darauf prüfen, was sie in der vergangenen Legislatur gemacht haben. Dazu braucht es mündige, gut informierte Bürger. In der Realität ist das aber kaum so. Die Leute sind nur selektiv informiert. Viele haben beschränkte Kenntnisse über die Programme und können deshalb die Parteien und Kandidierenden kaum bewerten.

Dann ist die Einhaltung von Wahlversprechen auch nicht relevant?


Wer weiss noch, welcher Kandidat was vor vier Jahren versprochen hat? Bei den Kandidierenden haben die Bisherigen einen deutlichen Bonus. Bisherige werden kaum abgewählt. Und wenn es doch vorkommt, dann, weil ihre Liste weniger oder keinen Sitz mehr gemacht hat, und nicht, weil die Wähler sie nicht mehr wollten. Die Abwahl von Christoph Mörgeli bei den Nationalratswahlen 2015 war ein Ausnahmefall.

Sind die Wähler schlecht informiert über die Kandidaten?


Für die meisten ist Politik höchstens eine Nebenbeschäftigung. Es ist nicht das, was sie emotional bewegt. Die Politik ist im Alltag vieler Menschen relativ fern.

Eine Möglichkeit, sich genauer über die Positionen der Kandidierenden zu informieren, bietet die Website Smartvote.ch des politisch und konfessionell unabhängigen Vereins Politools. Wird diese von den Wählern genutzt?


Ja, unsere Wählerbefragungen zeigen, dass im Jahr 2015 20 Prozent der Wählenden Smartvote als Informationsquelle genutzt haben. Allerdings ist nicht ganz klar, wie stark Smartvote letztlich den Entscheid beeinflusst. Natürlich gibt es immer wieder Kritik am dahinterstehenden Algorithmus und an den selektiv ausgewählten Fragen. Darüber kann man sich streiten. Aber trotzdem: Wenn man bedenkt, dass man sonst oft einfach über den Daumen entscheidet und Leute wählt, die man sympathisch findet oder kennt, dann kann man mit Smartvote viel informierter entscheiden.

Was ist dann ausschlaggebend, wen man wählt?


Zum einen Gewohnheiten. Viele Leute haben eine relativ stabile ideologische Ausrichtung und identifizieren sich mit einer Partei. Umfragen zeigen, dass sich über 50 Prozent einer politischen Partei nahe fühlen. Diese wählen dann immer diese Partei oder zumindest innerhalb des gleichen ideologischen Blocks.

Das klingt zu einfach, dann würde es gar keine Veränderungen geben.


Natürlich gibt es auch Leute, die sich umfassend informieren. Beispielsweise ist die Themenkonjunktur wichtig. Die Parteien, welche die Themen vertreten, die auf der politischen Agenda zuoberst sind, legen oft bei den Wahlen zu.

Kandidierende mit mehr Geld machen mehr Stimmen

Welche Themen haben in den diesjährigen Wahlen Hochkonjunktur?


Für einige Wähler sind gewisse Themen konstant wichtig: die hohen Gesundheitskosten, die Altersvorsorge oder die Ängste vor einer Überfremdung. Bei anderen Wählern verändert sich der Themenschwerpunkt teilweise stark. So hat etwa die Klimafrage im letzten Jahr stark an Bedeutung gewonnen. Umgekehrt war vor vier Jahren die Migration für sehr viele wichtig. Im Moment ist dieses Thema aber deutlich weniger häufig auf der politischen Prioritätenliste.

Wem spielt das in die Hände?


Ganz klar den Grünen und den Grünliberalen. In unseren Befragungen haben wir festgestellt, dass die Wähler das Thema Umweltpolitik kaum mit der SP oder anderen Parteien verbinden. Extrem gesagt: Wenn die SP beispielsweise einen Klimawahlkampf machen würde, dann würde auch das den Grünen helfen.

Das heisst, auch die FDP kommt zu spät, wenn sie sich jetzt noch mit der Klimapolitik profilieren will?


Ich glaube, hier gibt es noch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Diese Positionen kann man nicht so kurzfristig aufbauen.

Spielt die Taktik der FDP letztlich den Grünen in die Hände?


Ja, vermutlich. Denn es befördert die Stimmung, dass das Klima eines der wichtigsten Themen ist. Und weil es eines der wichtigsten Themen ist, begünstigt es die grünen Parteien. Vor vier Jahren war es das Gleiche mit dem Migrationsthema: Die anderen Parteien wussten, egal wie sie sich positionierten, es spielte der SVP in die Hände.

Also noch wichtiger als die Kandidierenden sind die Profile der Parteien?


Es ist beides. Die meisten Leute wählen in erster Linie Parteien und treffen dann noch eine Auswahl innerhalb dieses Spektrums für bestimmte Kandidaten. Die wenigsten schreiben zehn neue Namen auf die Liste, sondern streichen oder kumulieren nur einzelne. Und dort spielen dann oft andere Faktoren eine Rolle: Einige wählen nur Frauen, andere wählen jemanden, der den gleichen Beruf hat. Und wieder andere finden es sympathisch, dass ein Kandidat Kinder hat oder einen militärischen Grad.

Wann spielt die Konjunkturlage eine Rolle?


In anderen Ländern ist sie relevant. Beispielsweise in den USA: Im Moment sind die konjunkturellen Aussichten gut, und wenn das jetzt noch ein Jahr anhält, dann ist das ein wichtiger Faktor für die Wahlchancen von Donald Trump. In der Schweiz spielt dieser Mechanismus nicht, weil alle grossen Parteien in der Regierung sind und man niemanden dafür verantwortlich machen kann. Er findet aber indirekt über die Themenkonjunktur statt: Bei wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit profitieren Parteien wie die FDP und die SP. Ihre Forderungen nach einem besseren wirtschaftlichen Umfeld oder einem starken sozialen Sicherheitsnetz sind für die Wähler glaubwürdiger.

Wenn Sie eine Bilanz ziehen über die vergangene Legislaturperiode – war das eine Legislatur zum Vergessen?


So weit würde ich nicht gehen. Aber es ist sicher nicht eine Legislatur, in der man es geschafft hat, wichtige Reformen anzugehen. Bei den grossen Herausforderungen – dem Verhältnis zu Europa, der Altersvorsorge, den Gesundheitskosten sowie der Klimapolitik – haben die grossen Würfe gefehlt. Gerade das Europadossier ist eine riesige Baustelle. Weder Bundesrat noch die Parteien haben es geschafft, eine tragfähige Vorwärtsstrategie durchzusetzen. Immerhin bei der Unternehmenssteuerreform hat man mit der AHV-Kompensation einen Abstimmungserfolg feiern können.

Vor vier Jahren gab es einen Rechtsrutsch, und die Erwartungen an liberale Projekte waren gross.


Ich habe nie zu denen gehört, die glaubten, die knappe Mehrheit von FDP und SVP im Nationalrat würde grundlegend etwas ändern. Dafür gibt es plausible Gründe: Erstens machen FDP und SVP nicht systematisch Koalitionen, sondern allenfalls punktuelle Absprachen. Und auch dann sind die Mehrheiten im Nationalrat so knapp, dass sie nicht immer tragfähig sind. Hinzu kommt, dass die SVP im Ständerat eine marginale Rolle spielt. Zudem wird man an der Urne sowieso zurückgepfiffen, wenn man allzu radikale Forderungen stellt.

Was erwarten Sie bei der Wahlbeteiligung im Herbst?


Sie könnte eher wieder etwas zurückgehen, nachdem sie seit dem Tiefpunkt 1995 bei den Wahlen 2015 auf fast 50 Prozent angestiegen ist. Der Aufstieg der SVP hat polarisiert und eine Gegenbewegung erzeugt, die ein mobilisierender Faktor war. Das wird in den diesjährigen Wahlen nicht der Fall sein, weil die SVP kriselt.

Zum Wahlkampf: In der Wahlstudie «Selects» haben Sie ausgerechnet, dass ungefähr 40’000 Franken pro gewählten Kandidaten ausgegeben wurden. Rechnen Sie 2019 mit einer Zu- oder einer Abnahme?


Diese Zahlen sind Schätzungen und Hochrechnungen, die nur die Kandidierenden betreffen. Was die Parteien und Interessenverbände ausgeben, ist nicht enthalten. Ich gehe davon aus, dass die Ausgaben tendenziell weiter steigen. Wie stark, ist aber extrem schwer abzuschätzen, weil es keine Transparenz über Politikfinanzierung in der Schweiz gibt.

Die Alten und die Jungen sind nicht auf Facebook

Sollte mehr Transparenz bei den Wahlkampfbudgets herrschen?


In einer Demokratie gilt der Grundsatz der Gleichheit. Dieser bedeutet zum einen das allgemeine Wahlrecht, aber auch, dass theoretisch alle die gleichen Chancen haben sollten, sich in den politischen Diskurs einzubringen. Geld verzerrt das massiv. Unsere Zahlen zu den Ausgaben von Kandidierenden zeigen: Kandidierende mit mehr Geld machen mehr Stimmen. Denn bei den Kandidierenden ist die Währung, um gewählt zu werden, die Bekanntheit. Und die kann man mit Kampagnen erhöhen. Um diese Ungleichheit zu korrigieren, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man beschränkt das Geld für Wahlkämpfe insgesamt oder limitiert die zulässigen Spenden pro Person, wie das Belgien oder Frankreich machen. Oder man macht zumindest transparent, wer sich Öffentlichkeit mit Geld erkaufen kann. In der Schweiz war man bisher mehrheitlich der Meinung, dass keine dieser Möglichkeiten sinnvoll ist.

In den Kantonen Schwyz und Freiburg sind solche Forderungen aber bereits angenommen worden.


Ja, im Moment kippt die Stimmung, überraschenderweise auch in bürgerlichen Kantonen. In den nächsten 15 Jahren wird die Forderung nach Transparenz vermutlich lauter und möglicherweise auch mehrheitsfähig.

Würde es mit einer Transparenzlösung Verschiebungen bei den Wähleranteilen geben?


Ich denke nicht, denn bei den Parteien ist die Kampagne selber weniger zentral für den Wahlerfolg. Allenfalls wegfallende Grossspenden wird man zumindest teilweise mit Kleinspenden kompensieren können. Wichtiger sind das aktuelle Image und die Positionierung. Anders ist es bei den Kandidierenden. Dort haben Kampagnen einen direkteren Effekt auf die Wahlchancen. Ein Kandidat hat ein Reputationsrisiko, wenn er grosse Spenden annimmt von einer Einzelfirma und die Wähler wissen, dass er in der letzten Legislatur genau zu diesem Thema einen Vorstoss gemacht hat. Deshalb sind auch viele gegen mehr Transparenz, weil sie Angst haben, dass ihnen die Einnahmen wegbrechen.

Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz bei den Wahlkampfausgaben pro Wähler weit vorne. Wieso?


Die Schweiz ist ein reiches Land. Und überall, wo reguliert wird – sei es in der Agrarwirtschaft oder im Gesundheitsbereich –, besteht ein Interesse, Geld ins politische System zu pumpen und den Einfluss zu erhöhen. Gemessen an der Zahl der Wählenden sind die Wahlkampfausgaben in der Schweiz durchaus vergleichbar mit den absurd hoch erscheinenden Geldmengen in amerikanischen Wahlkämpfen.

Umgekehrt sind allerdings die Wahlkampfbudgets der Parteien relativ klein – weshalb?


Nun, ich traue diesen Zahlen nicht ganz. Denn gerade für Wahlkämpfe werden viele Gelder nicht über die Parteibudgets geschleust, sondern über Kampagnenbudgets, Stiftungen oder direkt von Interessengruppen bezahlt.

Welche Rolle spielt das Engagement der Parteimitglieder?


In den letzten 60 bis 70 Jahren ist sie wegen der Massenmedien tendenziell zurückgegangen. Parteien brauchen zwar auch Mitglieder für die Kampagnen, aber sie können fehlende Mitglieder teilweise mit Geld substituieren. Inzwischen fliesst sehr viel Geld in Social-Media-Kampagnen. Dort braucht es gute Kommunikationsagenturen und keine Parteimitglieder. In den USA und Grossbritannien gehen die Parteimitglieder von Tür zu Tür und machen Werbung für ihre Partei. Auch in der Schweiz haben Parteien wie die SP und die SVP versucht, diese persönlichen Kontakte zu nutzen. Die SP hat Telefonanrufe dafür eingesetzt. Allerdings: Für personalisierte Werbung braucht man gute Datenbanken. Und wenn man solche in der Schweiz hat, dann ist man rechtlich in einer Grauzone.

Für die BDP stellt sich bereits die Überlebensfrage

In welche sozialen Medien fliesst das Geld?


An der Spitze liegt Facebook, aber auch andere Kanäle werden systematisch für die Wahlen und für Kampagnen genutzt. Allerdings: Wenn man nur auf Social Media setzt, dann erreicht man nicht alle Wählersegmente. Denn die Alten und die Jungen sind nicht auf Facebook.

Bei den Ständeratsmitgliedern treten in diesem Jahr fünf der insgesamt sechs bisherigen Frauen ab. Wird es schwierig, den aktuellen Frauenanteil zu halten?


Das ist schon eine spezielle Konstellation bei einem sowieso tiefen Frauenanteil im Ständerat. Aber einige der abtretenden Frauen werden ziemlich sicher durch Frauen ersetzt, etwa in Basel-Stadt und im Jura. Und in Neuenburg und Uri gibt es vermutlich zusätzliche Frauensitze, sodass der Frauenanteil zumindest auf tiefem Niveau stabil bleibt.

Wagen wir einen Blick in die Kristallkugel. In der Wahlstudie «Select» machen Sie zwar keine Wahlprognosen. Trotzdem die Frage: Wie sieht Ihre persönliche Prognose aus?


Die jüngsten kantonalen Wahlen und Umfragen legen nahe, dass die grünen Parteien zulegen werden. Das geht diesmal nicht auf Kosten der anderen linken Parteien wie der SP. Zudem wird die SVP Mühe haben, den hohen Wähleranteil zu halten. Die FDP wird vermutlich stagnieren. Die CVP hat auch weiterhin ein strukturelles Problem, das sie nicht gelöst hat: Der Wähleranteil in den Stammlanden geht laufend zurück, neue Wählerschichten kann sie nicht erschliessen. Und für die BDP stellt sich bereits die Überlebensfrage. So weit die Trends, die ich für plausibel halte. Unter dem Strich bleibt aber eine relativ grosse Stabilität. Ich erwarte jedenfalls keine grossen Verschiebungen.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2019). «Bisherige werden kaum abgewählt». Die Volkswirtschaft, 16. September.

Georg Lutz

Der 47-jährige Georg Lutz ist seit 2016 Direktor des Schweizer Forschungszentrums für Sozialwissenschaften (Fors) und Professor für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne. Zudem ist er Projektleiter des Forschungsprojekts «Voto», das nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung die Beweggründe für die Teilnahme und die Entscheide der Schweizer Stimmberechtigten erhebt. Von 2008 bis 2016 war Lutz Projektleiter der Schweizer Wahlstudie «Selects». Er studierte an den Universitäten Bern, Genf und am Trinity College in Dublin. 2004 promovierte er an der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten das Wählerverhalten, Wahlbeteiligungen, Wahlsysteme sowie Schweizer Politik und Umfragemethodik.