Zeigt die Schweiz von ihrer «guten» Seite: Bundesrat Alain Berset 2018 zu Besuch in einem Rohingya-Flüchtlingslager in Bangladesch. (Bild: Keystone)
Nur selten ändert jemand seine Meinung über ein Land. Das zeigt der «Anholt–Ipsos Nation Brands Index» (Index der Ländermarken, NBI), eine internationale Erhebung, die seit dem Jahr 2005 jährlich durchgeführt wird. Dabei werden jeweils zwischen 20’000 und 38’000 Personen dazu befragt, wie sie andere Länder und Städte wahrnehmen. Insgesamt wird so das Image von 71 Staaten und 78 Städten detailliert gemessen. Die Studie wird in 20 bis 30 Ländern durchgeführt und repräsentiert somit 60 Prozent der Weltbevölkerung und über 70 Prozent der weltweiten Kaufkraft.
Gemäss dem NBI ist die Wahrnehmung der Befragten äusserst stabil. Nur selten verliert oder gewinnt ein Staat im Ranking mehr als einen Platz. Die meisten Länder belegen in der Imagerangliste sogar jedes Mal exakt denselben Rang. So auch die Schweiz.
Für die Regierungen ist es wichtig, zu wissen, welchen Eindruck ihr Land erweckt. So können sie ihre Politik möglichst effizient gestalten. Relevant ist dieses Wissen etwa für die Handels- und Tourismusförderung, die kulturellen und diplomatischen Beziehungen sowie für die «Soft Power» eines Landes und seine nationale Strategie. Verschiedene Forschungsarbeiten zeigen, wie stark das Image eines Landes seine Fähigkeit beeinflusst, Produkte, Dienstleistungen, Investitionen und Tourismusangebote zu vermarkten. Zudem hilft ein gutes Image dabei, Talente anzuziehen, Ideen und Werte zu verwirklichen und die Aufmerksamkeit und den Respekt der internationalen Medien zu gewinnen. Kurz: Das Image ist wichtig – paradoxerweise ist es häufig sogar wichtiger als die Realität.
Kooperative Länder bevorzugt
2012 hat eine detaillierte Studie[1] die äusserst umfangreich erhobenen Daten des NBI analysiert. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass weder Werbung noch Öffentlichkeitsarbeit noch irgendeine andere Kommunikationsform das Image eines Landes zu beeinflussen vermag – und zwar unabhängig davon, wie intensiv sie betrieben wird. Also wollte die Studie herausfinden: Was veranlasst die Menschen dazu, gewisse Länder anderen vorzuziehen?
Wenn es um den guten Ruf geht, dominiert ein Faktor ganz deutlich: Entscheidend ist nämlich, ob ein Land als Akteur wahrgenommen wird, der sich für das Gute in der Welt einsetzt und gemeinsam mit anderen versucht, die grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Weniger Gewicht haben im Vergleich dazu Aspekte wie Macht, Reichtum, Modernität, Kultur oder Geschichte. Mit anderen Worten: Die Menschen bevorzugen «gute» Länder. Da die Menschen diese Länder gerne belohnen, indem sie vermehrt Geschäfte mit ihnen tätigen, hat sich ein interessantes Paradoxon eingestellt: Zusammenarbeit ist die wettbewerbsfähigste Strategie, die ein Land verfolgen kann.
Neuer Index der «guten» Länder
Doch wie bilden wir uns eine Meinung darüber, ob ein Land gute Absichten gegenüber dem Rest der Menschheit hegt? Und wie zutreffend sind diese Meinungen? Länder sind komplexe Gebilde, und es ist nicht einfach, zu beurteilen, ob ein Staat über seine Grenzen hinaus die Welt insgesamt zum Guten oder zum Schlechten beeinflusst. Deshalb wurde 2013 der «Good Country Index» (Index der guten Länder, GCI) ausgearbeitet. Er misst, wie viel ein Land zum Wohl der übrigen Menschheit und der Welt beiträgt. Offiziell lanciert wurde der Index 2014 anlässlich einer TED-Konferenz.
Der GCI wurde bisher fünfmal veröffentlicht. Er beinhaltet 35 Datensätze, die von den Vereinten Nationen (UNO) und anderen internationalen Organisationen bereitgestellt werden. Auf dieser Grundlage werden 163 Länder nach ihrem (positiven oder negativen) Einfluss auf die übrige Welt klassiert und nach verschiedenen Unterkategorien wie beispielsweise Frieden und Stabilität, Gesundheit, Kultur und Bildung, Umwelt und Klima, Technologie und Innovation aufgeschlüsselt.
Inwieweit decken sich die Ergebnisse des «Good Country Index» und des «Nation Brands Index»? Eine Korrelation zwischen den beiden Indizes würde die Hypothese stärken, dass ein nationales Verhalten, das auf wohlwollenden Prinzipien beruht, mit einem vorteilhafteren Image dieses Landes einhergeht (und daher auch mit einer produktiveren Zusammenarbeit mit anderen Ländern). Und tatsächlich: Der Korrelationskoeffizient zwischen der dritten Ausgabe des GCI (basierend auf Daten von 2014) und der Ausgabe 2014 des NBI liegt bei 80 Prozent. Dieser Wert ist sehr hoch.
Mehr Kooperation unverzichtbar
Wie viel ein Land zum Wohl der Welt beiträgt, ist mehr als Spekulation: Die grossen Herausforderungen, mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist, sind durchwegs von globaler Tragweite und können nur wirksam bewältigt werden, wenn die Länder lernen, sich weniger zu konkurrenzieren, und stattdessen mehr zusammenarbeiten.
Die Regierung eines «guten» Landes verbindet deshalb ihre grundlegende Verantwortung für die eigene Bevölkerung und das eigene Staatsgebiet mit der Verantwortung, die sie gegenüber der Menschheit und der Welt als Ganzes hat. Gewisse Länder tun dies bereits bis zu einem gewissen Grad – darunter auch die Schweiz, die eines der besten Beispiele dafür ist.
Dennoch: Zumeist wird davon ausgegangen, dass die Bedürfnisse der internationalen Gemeinschaft nicht mit den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung vereinbar sind. Was immer sie für ihre eigene Bevölkerung tun, so die Meinung, könnte anderen schaden. Eine wachsende Wirtschaft beispielsweise könnte die Umwelt in Mitleidenschaft ziehen; und die Hilfe, die sie anderen zukommen lassen, müsse umgekehrt auf Kosten der Hilfe für die eigene Bevölkerung gehen. Doch das muss nicht sein: Die Harmonisierung von inländischen und internationalen Verantwortlichkeiten kann den Weg zu einer besseren Politik ebnen.
Platzierungen der Schweiz im Good Country Index, nach verschiedenen Kategorien (2014-2018)
Wissenschaft und Technologie | Kultur | Frieden und internationale Sicherheit | Weltordnung | Umwelt und Klima | Wohlfahrt und Gleichheit | Gesundheit und Wohlbefinden | TOTAL | |
Ausgabe 1.3 (2018) | 17 | 3 | 64 | 10 | 2 | 28 | 6 | 7/153 |
Ausgabe 1.2 (2017) | 11 | 4 | 44 | 10 | 2 | 5 | 6 | 2/163 |
Ausgabe 1.1 (2016) | 10 | 31 | 61 | 10 | 3 | 2 | 5 | 5/163 |
Ausgabe 1.0 (2014) | 6 | 32 | 71 | 10 | 16 | 2 | 10 | 3/125 |
Quelle : GCI
Stabiles Schweizer Image
In der letzten Ausgabe des GCI im Jahr 2018 verzeichnete die Schweiz ihre bisher schwächste Platzierung: Sie belegte den 7. Rang, nachdem sie 2017 auf dem 2. und bei der ersten Ausgabe 2014 auf dem 3. Platz gelegen hatte (siehe Tabelle). Doch auch wenn der Trend damit in die falsche Richtung geht – gemessen an der Grösse ihrer Wirtschaft scheint die Schweiz mit einem Platz in den Top Ten nach wie vor über ihre eigenen Grenzen hinaus einen wichtigen Nettobeitrag zur Welt zu leisten.
Was das Image angeht, hat die Schweiz im Ranking des NBI ihren 8. Rang stets behauptet: Sie gehört damit zu den weltweit am meisten bewunderten Ländern. Bleibt die Frage, ob sie ihren Rang verbessern kann und ob es ihr überhaupt etwas nützt, wenn sie dies anstrebt? Sinnvoller wäre es für die Schweiz nämlich, ihr Profil und ihren Einfluss aufgrund dieser Klassierung möglichst verantwortungsvoll zu nutzen, anstatt zu versuchen, in der Rangliste vorzurücken oder ihren Platz zu verteidigen. Bei der Nutzung dieses Images ergeben sich unweigerlich auch kompetitive Aspekte. Denn für die Schweizer Wirtschaft ist es weiterhin wichtig, den Handel, den Tourismus und die ausländischen Investitionen auszubauen. Und die «Soft Power» der Schweiz ist dafür eine wesentliche Voraussetzung.
Eine Diskussion über Verantwortung scheint häufig produktiver als eine Diskussion über Chancen. Ihre internationale Attraktivität verleiht der Schweiz eine hohe moralische Autorität: Sie kann eine engere und qualitativ bessere Zusammenarbeit zwischen den übrigen Ländern fördern, mit gutem Beispiel vorangehen und internationale Konflikte lösen, statt diese zu verschärfen, weil sie Partei ergreift oder ihre Eigeninteressen voranstellt. Ihre «Soft Power» gibt der Schweiz die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und sich nicht damit zu begnügen, möglichst erfolgreich mitzuspielen.
Wir leben in einer Zeit, in der eine solche Führungsrolle dringend notwendig ist. Und eine solche kann nur von Staaten ausgehen. Weder Einzelpersonen noch gewinnorientierte Unternehmen oder konturlose Institutionen scheinen in der Lage, eine solche Position wahrzunehmen.
Mit anderen Worten: Wenn sich die Schweiz eine Welt wünscht, in der jedes Land seine eigenen egoistischen Interessen auf Kosten der übrigen Staaten und der gemeinsamen Umwelt verfolgt, muss sie selber ebenfalls ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgen. Wenn sie sich hingegen eine Welt wünscht, in der die Länder mit dem Ziel zusammenarbeiten, Frieden, Wohlstand und Stabilität für alle herbeizuführen, sollte sie bei all ihren Handlungen den neuen Formen der Kooperation Priorität einräumen.
Neue kooperative Governance
Verschiedene Forschungsarbeiten und die Erfahrungen der letzten 20 Jahre haben gezeigt, dass es für den Aufstieg eines Landes im Ranking nur ein mögliches Verhalten gibt. Die Menschen interessiert es nicht, wie reich, zufrieden, erfolgreich oder gut geführt andere Länder sind. Vielmehr interessieren sie sich dafür, ob diese Länder zum Wohlergehen der Welt, in der sie leben, und zur Zukunft, die sie sich wünschen, beitragen – oder ob sie ihr im Gegenteil schaden.
Das gute Image eines Landes ist ein Erfolg und ein Aktivposten. Aber gerade in diesen stürmischen Zeiten ist es auch eine Verantwortung: die Verantwortung, weltweit einen Kulturwandel in der Governance herbeizuführen – weg vom traditionellen Konkurrenzdenken und hin zu mehr Kooperation. Ein Vorrücken im Ranking des NBI-Indexes wird dann lediglich ein anekdotischer Nebeneffekt sein für die Länder, die bei einer solchen zentralen Neuausrichtung mitwirken.
- Anholt S. (2012). Soft Power as Moral Authority: A New Model of National Influence. []
Zitiervorschlag: Anholt, Simon (2020). Die Schweiz: «Gutes» Land mit gutem Image. Die Volkswirtschaft, 23. März.