Hautnah in der Realität
«In den Gewerkschaften geben die Mitglieder den Weg vor.» (Bild: Keystone)
Als ich neulich ein Referat an einer Gewerkschaftsversammlung von Postangestellten hielt, kämpfte eine Frau mit den Tränen. Sie fürchte sich vor der Pensionierung, weil die Rente tief sei und sie sich keine 3. Säule leisten könne. Das sind sehr emotionale Momente. Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall – die Sorge um die Rente ist in der Bevölkerung viel grösser, als das beispielsweise in den Medien zum Ausdruck kommt. Analysen des Bundes mit Steuerdaten sprechen eine deutliche Sprache: Nur besser verdienende Haushalte können die Rentenlücke, die aus den sinkenden Pensionskassenleistungen entsteht, über private Vorsorge einigermassen schliessen.
Das ist für Wenigverdienende natürlich kein Trost. Als Gewerkschaftsökonom muss man den Mitgliedern Lösungen aufzeigen können. So entspannte sich die Stimmung im Saal deutlich, als ich sagte, dass die Gewerkschaften bald mit der Unterschriftensammlung für die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente starten werden.
Dieses Beispiel gibt einen guten Einblick in die Arbeit von Gewerkschaftsökonomen. Wir helfen mit, die Lage der Berufstätigen in der Schweiz zu analysieren und Probleme frühzeitig zu erkennen. Wir geben aus ökonomischer Sicht Inputs, wenn es Prioritäten festzulegen und Lösungsvorschläge auszuarbeiten gilt. Wobei hier auch generalistische Qualitäten gefragt sind.
Ein Schreckmoment in meiner Berufslaufbahn als Gewerkschaftsökonom war, als man von mir erstmals verlangte, einen Gesetzesartikel für eine bestimmte Verbesserung der Arbeitslosenversicherung zu formulieren. Das können doch nur Juristinnen und Juristen, dachte ich mir. Doch mit der Zeit wird man damit vertraut. Wobei ich auch noch heute nie etwas veröffentliche, was nicht seriös von den Kollegen aus den Rechtswissenschaften überprüft wurde.
Draht zur Basis
Das Wichtigste und Schönste an meiner Tätigkeit ist der Austausch mit den Menschen – schweizweit zählen die Gewerkschaften rund 800’000 Mitglieder. Sie stammen aus allen Berufen und Schichten: von der Malerin zum Orchestermusiker oder vom Koch zur Lehrerin. Die Gewerkschaftsbasis spiegelt die berufliche und soziale Realität in der Schweiz. Wer als Ökonom in diese Realität eintaucht, stösst auf einen Reichtum an Erfahrung und Wissen, den es wohl nirgendwo sonst gibt. Die vielen Begegnungen und Gespräche geben einen einzigartigen Einblick in ökonomische Zusammenhänge, soziale Lebenslagen und individuelle Schicksale.
Die Themen und Fragestellungen fliegen einem als Gewerkschaftsökonom mit einem manchmal beängstigenden Tempo zu. Denn Berufstätige haben viele Probleme, die sie heutzutage beschäftigen. Von der mittlerweile hohen Erwerbslosigkeit in der Schweiz über den Lohndruck und den Stress am Arbeitsplatz bis zu den grösser werdenden Rentenproblemen.
In den Gewerkschaften geben die Mitglieder den Weg vor. Vom Gewerkschaftsökonomen erwarten sie, dass er rechtzeitig auf mögliche Probleme aufmerksam macht. Er muss Lösungsvorschläge entwickeln und diese durchzusetzen helfen. Damit es den Berufstätigen im Land besser geht.
Zitiervorschlag: Lampart, Daniel (2020). Hautnah in der Realität. Die Volkswirtschaft, 18. März.