Die Wettbewerbskommission (Weko) wendet das Kartellgesetz an. Wer jetzt denkt, die Gesetzesanwendung sei nur etwas für Juristen, irrt. Ökonominnen und Ökonomen machen mit gutem Grund rund ein Drittel der Weko-Mitarbeitenden aus. Denn das Kartellgesetz anwenden heisst, den Wettbewerb zu schützen. So bekämpfen wir schädliche Kartelle, üben die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen aus und führen Fusionskontrollen durch. Angesichts dieses breiten Regulierungsspektrums macht es Sinn, dass Expertenwissen aus der Ökonomie einfliesst. Doch wie läuft dies ab?
Der Schwerpunkt unserer Arbeit besteht in der Ermittlung und der Beurteilung von Einzelfällen. Diese werden jeweils von einem Team bearbeitet, bestehend aus einem juristischen und einem ökonomischen Experten. Damit ist ein Vieraugenprinzip eingerichtet, welches nicht nur der Kontrolle zur Fehlervermeidung, sondern auch der Horizonterweiterung dient. Der Jurist verfügt über die Expertise zum rechtsstaatlichen Verfahren. Die Ökonomin hat gelernt, die Zusammenhänge hinter dem Wirtschaftsgeschehen zu erkennen, und bringt dieses Wissen ein. Mit der Zeit lernen beide voneinander, sodass auch jeder neue Fall von Beginn weg mit einem breiteren Blick angegangen werden kann.
Vier Augen sehen mehr
Nebst handwerklichen Fähigkeiten in der Ökonomik, also den Methoden für die Analyse des Wirtschaftsgeschehens, ergänzt die Ökonomin den Juristen auch mit einer anderen Perspektive. Die Ökonomie lehrt insbesondere, dass man sich nicht durch den ersten Eindruck des vermeintlich Offensichtlichen täuschen lassen sollte. So kann ein chirurgischer Eingriff in die Wirtschaft mit einem kartellrechtlichen Entscheid im Einzelfall zwar das augenscheinliche Problem beheben, führt aber möglicherweise zu unerwünschten Nebenwirkungen. Das ökonomische Auge ist geübt, diese indirekten Auswirkungen zu erspähen.
Der Wert von zwei Blickwinkeln zeigt sich beispielsweise an einer Frage aus der Uhrenindustrie, welche die Weko schon seit fast zwei Dekaden beschäftigt. In der Vergangenheit konzentrierte sich die Produktion von mechanischen Uhrwerken auf die ETA, eine Tochter der Swatch Group. Durch einen kompletten Lieferstopp könnte die ETA die Uhrenhersteller von der zentralen Vorleistung der Werke abschneiden und so den Wettbewerb in der Uhrenproduktion verzerren. Auf den ersten Blick erscheint die Lieferpflicht da als sinnvolle Massnahme. Ein zweiter Blick mit einer ökonomischen Brille deckt jedoch unerwünschte Nebeneffekte auf. Die Sicherheit des Lieferzwangs nimmt sowohl der Swatch Group als auch ihren Konkurrentinnen Anreize, selbst in die Produktion von Uhrwerken zu investieren – was den Innovationswettbewerb in der Uhrwerkproduktion hemmt.
Unter Berücksichtigung beider Standpunkte entschied die Weko im Jahr 2013, dass vorerst eine Lieferpflicht besteht, diese aber abgebaut und letztlich aufgehoben werden soll. Gegenwärtig prüfen wieder Juristen und Ökonominnen, wie es um die Massnahme steht. Mit einem möglichst breiten Blick werden die verbleibenden Vorteile gegen die Nebenwirkungen eines Lieferzwangs abgewogen.