Müssen Inflationsziel einhalten: SNB-Direktoriumsmitglieder Thomas Jordan, Fritz Zurbrügg und Andréa Maechler (v. l.). (Bild: Keystone)
Tiefe Zinsen sind eine Herausforderung für die Wirtschaft: Ein Sparheft wirft kaum noch Ertrag ab, Pensionskassen suchen nach neuen Anlagemöglichkeiten, Regulatoren warnen vor risikoreichen Anlagestrategien und Finanzmarktblasen, Banken beklagen sich über Negativzinsen, und Zentralbanken greifen vermehrt zu neuen, unkonventionellen Massnahmen wie Anleihen- und Devisenkäufen. Viele Industriestaaten scheinen von einer «Japanisierung» der Wirtschaft – tiefe Zinsen, tiefe Inflation, aufgeblähte Zentralbankbilanzen, mässiges Produktivitätswachstum – betroffen zu sein. Doch warum sind die Zinsen so tief?
Zuerst müssen wir zwischen Real- und Nominalzinsen unterscheiden. Reale Zinsen sind um die Inflationsentwicklung, genauer die Inflationserwartungen bereinigt. Sie werden von mehreren Faktoren beeinflusst. Eine wichtige Ursache für den weltweit zu beobachtenden Zinsrückgang ist die Präferenz für sichere Anlagen.[1] Einerseits kann eine erhöhte Sparneigung – zum Beispiel aufgrund der demografischen Entwicklung oder durch die Wirtschaftspolitik in aufstrebenden asiatischen Ländern – zu einem Rückgang des weltweiten Realzinsniveaus führen.[2] Da diese Ersparnisse angelegt werden müssen, steigt die Nachfrage nach sicheren Anlagen, wie zum Beispiel Staatsanleihen von Industriestaaten. In der Folge sinken die Realzinsen dieser Anlagen, sofern das Angebot sich nicht verändert.
Andererseits haben die seit der Finanzkrise gestiegene Unsicherheit, regulatorische Anforderungen im Bankensektor und auch die Wertpapier-Kaufprogramme der Zentralbanken die Nachfrage nach sicheren Anlagen verstärkt. Zum Beispiel erholt sich die Eurozone von der Schuldenkrise nur schleppend, und Banken müssen neue risikoreiche Kredite mit mehr Eigenkapital unterlegen.
Schliesslich trägt auch ein seit längerer Zeit rückläufiges Produktivitätswachstum zum Zinsrückgang bei. Langfristige Realzinsen widerspiegeln nicht zuletzt die erwartete Rendite von neuen Investitionen. Diese Rendite hängt massgeblich davon ab, wie stark diese Investitionen die Produktivität erhöhen.
All diese Faktoren treten jedoch in den meisten Industriestaaten auf. Sie können daher nicht der alleinige Grund sein, warum die Zinsen in der Schweiz tiefer sind als im Ausland.
Abb. 1: Durchschnittliche Inflation vor und nach der Finanzkrise
Quelle: OECD; Berechnungen Kaufmann / Die Volkswirtschaft
Empirische Untersuchungen für die Schweiz zeigen, dass der Nominalzinsrückgang seit den Siebzigerjahren ungefähr je zu einem Drittel auf internationale Faktoren, den Rückgang der inländischen Inflation sowie auf weitere inländische Faktoren, zum Beispiel die sinkende Staatsverschuldung, zurückzuführen ist.[3]
Unterschiedliche Inflationsziele
Im Folgenden beschränke ich mich auf die Rolle des Inflationsrückgangs und dessen geldpolitische Auswirkungen. Ein wichtiger Grund für die geringere Teuerung ist, dass viele Zentralbanken seit den Neunzigerjahren zu einer Politik der Inflationsstabilisierung («Inflation Targeting») übergegangen sind. Dadurch sind die Inflationsraten weltweit auf ein historisch tiefes Niveau gesunken.
Trotzdem unterscheidet sich die Teuerung zwischen den Ländern, weil diese unterschiedliche Inflationsziele haben. Das gewählte Inflationsziel beeinflusst wiederum die Höhe der Geldmarktzinsen, welche von den meisten Zentralbanken zur Implementierung der Geldpolitik verwendet werden. Es lohnt sich daher, die Inflationsraten und den Zusammenhang mit den Zinsen in verschiedenen Ländern genauer zu untersuchen.
Bereits vor der Finanzkrise wies die Schweiz eine der tiefsten Inflationsraten auf (siehe Abbildung 1). Diese entsprach 2000 bis 2007 fast punktgenau der Preisstabilitätsdefinition der SNB. In der Botschaft zum Nationalbankgesetz steht: «Aus heutiger Sicht herrscht in der Schweiz Preisstabilität, wenn die jährliche Teuerung 1 Prozent pro Jahr beträgt.»[4] Da eine präzise Steuerung der Inflation nicht möglich sei, solle die SNB eine Inflationsrate zwischen 0 und 2 Prozent gewährleisten.
Dieses Ziel unterscheidet sich von demjenigen des Federal Reserve, der Bank of England und der Europäischen Zentralbank – die Inflationsziele um rund 2 Prozent verfolgen. Es gibt auch Staaten mit höheren Zielen, wie zum Beispiel Neuseeland (1 bis 3%), Polen (2,5%) sowie Mexiko und Chile (je 3%). Diese Länder weisen tatsächlich höhere Inflationsraten als die Schweiz auf.
Geldpolitik gefordert
Die tiefen Nominalzinsen schränken den Handlungsspielraum der Zentralbanken ein. Betrachtet man den Kurzfristzins im Jahr 2007, dann zeigt sich: Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise war der Handlungsspielraum für Länder mit tiefen Inflationsraten deutlich geringer als für Länder mit höheren Inflationsraten – wobei Japan und die Schweiz mit besonders tiefen Zinsen und Inflationsraten herausstechen (siehe Abbildung 2). Der Zinssenkungsspielraum wäre für die SNB um rund 2 Prozentpunkte höher gewesen, hätte die Schweiz statt eines Inflationsziels von 1 Prozent ein ähnliches Inflationsziel wie andere europäische Länder verfolgt.
Darüber hinaus führt der eingeschränkte Zinssenkungsspielraum dazu, dass die Zentralbankbilanzen durch unkonventionelle Massnahmen aufgebläht werden. So hat sich die Geldmenge in der Schweiz im Verhältnis zum BIP zwischen 2007 und 2018 verdoppelt (siehe Abbildung 3). Würde statt der Geldmenge M1, die auch von Banken geschaffene Liquidität beinhaltet, die enger gefasste monetäre Basis verwendet, wäre der Anstieg noch deutlich stärker. Da Anleihenkäufe und Devisenmarktinterventionen zu einer Ausweitung der Geldmenge führen, ist dies ein Mass dafür, wie stark die verschiedenen Zentralbanken von unkonventionellen Massnahmen Gebrauch gemacht haben. Wie sich zeigt, haben vor der Finanzkrise Länder mit tieferen Nominalzinsen – und dadurch kleinerem Zinssenkungsspielraum – mehr unkonventionelle Massnahmen getätigt.
Abb. 2: Zusammenhang zwischen Inflation und Kurzfristzins vor Krise
Quelle: OECD; Berechnungen Kaufmann / Die Volkswirtschaft
Abb. 3: Kurzfristzins und Geldmengenausweitung nach Krise
Quelle: OECD; Berechnungen Kaufmann / Die Volkswirtschaft
Spielraum eingeschränkt
Tiefe Zinsen schränken den Handlungsspielraum der Zentralbanken aus drei Gründen ein. Erstens stellen Zentralbanken sowohl elektronisches Geld (Sichtguthaben im Bankensektor) als auch physisches Geld (Münzen und Noten) zur Verfügung. Physisches Geld wirft jedoch keinen Ertrag, also keinen Zins, ab. Aufgrund von Kosten für Lagerung, Versicherung und Abnutzung dürfte der Ertrag leicht negativ sein. Nun kann der Zins auf elektronischem Geld, das heisst der Geldmarktzins, nicht unter den Ertrag auf physischem Geld fallen. Sonst würden die Bankkunden beginnen, elektronisches Geld in physisches Geld umzuwandeln.
Zweitens stellt die Nullzinsgrenze eine psychologische Hürde dar. Da die Wirkung von Negativzinsen auf den Bankensektor und die Wirtschaft weitgehend unbekannt ist, gehen die Zentralbanken sehr zögerlich vor. Die Zentralbanken reagieren weniger stark und weniger oft auf Veränderungen der Wirtschaft, als dies im positiven Zinsumfeld der Fall war.
Drittens stellt die Nullzinsgrenze eine politische Restriktion dar. Negativzinsen werden in Politik und Bevölkerung als etwas Unnatürliches oder gar Schädliches angesehen. Daher überlegen sich die Zentralbankiers zweimal, ob sie die Zinsen deutlich in den negativen Bereich drücken sollen.
Technisch wären wohl deutlich negativere Geldmarktzinsen möglich. Trotzdem stellt die Nullzinsgrenze –aufgrund von ökonomischen, psychologischen und politischen Grenzen – eine Restriktion für die Nationalbank dar. Dies kann man an den Veränderungen des Zinsziels ablesen, mit dem die SNB Änderungen ihrer Zinspolitik kommuniziert. Zwischen 2000 und 2007, als die Zinsen noch deutlich positiv waren, passte die SNB ihre Zinspolitik im Schnitt 2,4 Mal pro Jahr an. Seit 2008 fiel dieser Schnitt auf 0,6 Anpassungen pro Jahr. In den vergangenen zehn Jahren hat die SNB die Zinspolitik sogar nur 4 Mal modifiziert. Offensichtlich reagiert die SNB im Negativzinsumfeld viel zögerlicher auf wirtschaftliche Veränderungen, als sie dies noch vor der Krise getan hat.
Die verhaltene Zinspolitik beeinflusst auch den Wechselkurs und die Bilanz der SNB. Vor der Krise nutzte die SNB das Zinsinstrument nicht nur, um die Inflation zu stabilisieren, sondern auch, um auf übermässige Aufwertungsschübe zu reagieren.[5] Wertete sich der Franken zu stark auf, senkte die SNB den Leitzins, um Frankenanlagen etwas weniger attraktiv zu machen. Dadurch wertete sich der Franken weniger auf als ohne Zinsanpassung. Gerade in unsicheren Phasen wertet sich der Franken, der als «safe haven» gilt, auf. Spätestens seit der Aufhebung des Euro-Mindestkursziels im Jahr 2015 wird das Zinsinstrument kaum mehr verwendet, um auf Aufwertungsschübe zu reagieren. Stattdessen fallen diese Aufwertungsschübe entweder heftiger als vor der Krise aus, oder die SNB weitet ihre Bilanz mit Devisenkäufen aus.
Gibt es Alternativen?
Angesichts des eingeschränkten Zinssenkungsspielraums sprechen sich einige Ökonomen für höhere Inflationsziele aus.[6] Dabei müssen jedoch die Kosten einer höheren Inflation gegen den Nutzen eines vergrösserten Zinssenkungsspielraums abgewogen werden.
Für die SNB ist ein permanent höheres Inflationsziel sowieso nicht ohne Weiteres umsetzbar, da in der Botschaft zum Nationalbankgesetz klar spezifiziert ist, dass Preisstabilität mit einer Inflation von 1 Prozent gleichgesetzt wird. Ohne Auftrag des Gesetzgebers ist daher unklar, ob die Nationalbank diese Vorgabe ändern könnte.
Die Definition der Preisstabilität ist jedoch flexibel genug, dass die SNB für eine gewisse Dauer eine Inflation nahe am oberen Bereich der Definition der Preisstabilität, das heisst 2 Prozent, anstreben könnte. Eine solche Politik hätte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem temporären Preisniveauziel oder einem temporären Wechselkursziel.[7] Sie würde das Problem der Nullzinsgrenze mindern, den Zinssenkungsspielraum erhöhen und den Franken abschwächen – ohne dabei das Mandat der SNB zu verletzen. Entscheidend ist jedoch, dass die SNB eine solche Politik klar und im Voraus kommuniziert. Ansonsten wird sich die Schweiz bis auf Weiteres auf tiefe oder sogar negative Zinsen einstellen müssen.
Literaturverzeichnis
- Bäurle, Gregor und Daniel Kaufmann (2018). Measuring Exchange Rate, Price, and Output Dynamics at the Effective Lower Bound, Oxford Bulletin of Economics and Statistics.
- Bean, Charles, Christian Broda, Takatoshi Ito, und Randall Kroszner (2017). Low for Long? Causes and Consequences of Persistently Low Interest Rates, Geneva Reports on the World Economy 17, ICMB.
- Bundesrat (2002). Botschaft über die Revision des Nationalbankgesetzes, SR 02.050.
- Del Negro, Marco, Domenico Giannone, Marc Giannoni, Andrea Tambalotti (2018). Global Trends in Interest rates, VOX CEPR Policy Portal.
- Gagnon, Joseph E. und Christopher G. Collins (2019). The Case for Raising the Inflation Target Is Stronger than You Think.
- Kaufmann, Daniel (2019a). Le franc fort et le rôle de la politique monétaire, Présentation à la CVCI Lausanne, 26 septembre 2019.
- Kaufmann, Daniel (2019b). Nominal Stability over Two Centuries, Swiss Journal of Economics and Statistics.
- Svensson, Lars E.O. (2001). The Zero Bound in an Open Economy: A Foolproof Way of Escaping from a Liquidity Trap, Monetary and Economic Studies.
Bibliographie
- Bäurle, Gregor und Daniel Kaufmann (2018). Measuring Exchange Rate, Price, and Output Dynamics at the Effective Lower Bound, Oxford Bulletin of Economics and Statistics.
- Bean, Charles, Christian Broda, Takatoshi Ito, und Randall Kroszner (2017). Low for Long? Causes and Consequences of Persistently Low Interest Rates, Geneva Reports on the World Economy 17, ICMB.
- Bundesrat (2002). Botschaft über die Revision des Nationalbankgesetzes, SR 02.050.
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- Svensson, Lars E.O. (2001). The Zero Bound in an Open Economy: A Foolproof Way of Escaping from a Liquidity Trap, Monetary and Economic Studies.
Zitiervorschlag: Kaufmann, Daniel (2020). Mut zu höherer Inflation. Die Volkswirtschaft, 21. April.