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Die wirtschaftliche Erholung beginnt im Kopf

Erkenntnisse der «Behavioral Finance» machen Hoffnung auf eine solide wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise. Insbesondere die staatlichen Stützungsmassnahmen helfen, das Vertrauen der Investoren aufrechtzuerhalten.

Die wirtschaftliche Erholung beginnt im Kopf

Telemedizin-Anbieter gehen gestärkt aus der Krise hervor. Ärztin mit VR-Brille. (Bild: Keystone)

Die Welt durchlebt momentan eine Krise, die aus wirtschaftlicher Sicht mit der Wirtschaftskrise von 1929 und aus gesundheitlicher Sicht mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 vergleichbar ist. Allerdings machen die Lockdown-Massnahmen, die finanziellen Hilfen von Regierungen und Zentralbanken – verbunden mit der rasanten Ausbreitung des Coronavirus – die Situation einzigartig.

An den Finanzmärkten sind dennoch gewisse ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie bei anderen grösseren Schocks der jüngeren Vergangenheit – womit sich auch Parallelen ziehen lassen. Ausgehend von der Finanzmarkttheorie, insbesondere der verhaltensorientierten (Behavioral Finance), drängen sich drei Fragen auf, anhand derer wir Vermutungen über mögliche Entwicklungen nach der Krise anstellen können:

  1. Waren die Marktbewegungen zu Beginn der Krise übertrieben?
  2. Wie hat das Umfeld vor der Krise unsere Wahrnehmung der Ereignisse beeinflusst?
  3. Wird sich unsere Weltsicht infolge der Krise grundlegend verändern?

Übertrieben einheitlich


Fangen wir bei den Finanzmärkten an: Der Börsencrash begann am 20. Februar 2020. Mitte März verzeichneten dann die meisten Börsen weltweit gewaltige Tagesschwankungen. So gab der Swiss Market Index (SMI) am 12. März um 9 Prozent nach, und der französische CAC 40 tauchte um 12 Prozent. Vier Tage später brach auch in den USA der Standard & Poor’s 500 um 12 Prozent ein.

War das nun eine Folge der Krise oder einfach ein Panikeffekt? Einerseits erlebte die Wirtschaft tatsächlich einen Schock, was sich auch auf die zu erwartenden Gewinne und Dividenden der Unternehmen auswirkt. Schliesslich stellen Finanztitel wie Aktien den momentanen Wert aller in der Zukunft erwarteten Erträge dar: Ein Wirtschaftsschock wie die Corona-Krise zieht somit logischerweise auch die Kurse stark in Mitleidenschaft.

Andererseits wirft die Entwicklung bei genauerem Hinsehen auch Fragen auf. Gold, das seit je als sicherer Hafen gilt, hat in diesem Zeitraum zwar erwartungsgemäss leicht zugelegt (siehe Abbildung 1). Ein Unternehmen wie Amazon hingegen, das die Ware seit je direkt nach Hause liefert und dessen Erträge weniger unter der Krise leiden sollten (oder sogar davon profitieren dürften), ist der Entwicklung des Standard & Poor’s 500 einen Monat lang gefolgt, bevor der Titel wieder zugelegt und im April sein ursprüngliches Kursniveau erreicht hat.

Abb. 1: Corona-Krise an der Börse




Quelle: Berechnungen Berrada, Yahoo Finance / Die Volkswirtschaft

Amazon ist nur ein Beispiel unter vielen. Gerade die Entwicklung dieses Titels lässt aber den Schluss zu, dass die erste Reaktion der Märkte Ende Februar übertrieben war − und zwar weniger, was das Ausmass der Bewegungen anbelangt, als vielmehr in Bezug auf die Tatsache, dass alle Titel diese Entwicklung einheitlich mitgemacht haben.

Die anfängliche Kursentwicklung spiegelt somit zumindest teilweise ein Herdenverhalten der Investoren in einer unsicheren Zeitphase. Eine solche Reaktion ist in gewissen Situationen durchaus rational, hat in diesem Fall die einheitliche Abwärtsbewegung der Kurse aber wohl verstärkt. Zu Beginn verlief die Entwicklung für völlig unterschiedliche Industriesektoren ähnlich, obwohl nicht alle von der Krise betroffen sind. In der Telemedizin tätige Technologieunternehmen hätten beispielsweise gefragt sein müssen, da sie neue Tools zur Kontrolle und Prävention von Ansteckungen entwickeln. Somit wurden Tech-Konzerne zu Beginn der Krise an der Börse ohne triftigen Grund abgestraft.

Da einige Branchen die Krise wohl rascher überwinden als andere, werden die Kursverläufe in der Erholungsphase stärker voneinander abweichen als beim Krisenausbruch.

Umfeld vor der Krise


Kommen wir nun zur zweiten Frage: Wie hat das Umfeld vor der Krise unsere Wahrnehmung der Ereignisse beeinflusst? Zunächst lässt sich feststellen, dass die unkonventionelle Geldpolitik der Zentralbanken im Anschluss an die Subprime-Krise von 2008 die Finanzmärkte mit Liquidität geschwemmt und die Aktienkurse künstlich aufgeblasen hat.

Von 2009 bis 2020 verzeichneten die Finanzmärkte ein starkes Wachstum und eine moderate Volatilität. In den USA bildet der Volatility Index (VIX) der Chicago Board Options Exchange die für die nächsten 30 Tage auf den US-Aktienmärkten zu erwartende Volatilität ab. Gemäss diesem «Angst»-Index, der anhand der Kurse verschiedener Derivate berechnet wird, war das erwartete Finanzrisiko seit der Subprime-Krise relativ gering (siehe Abbildung 2). Hat dies die extreme Reaktion der Märkte in den ersten Wochen der Krise zusätzlich verstärkt?

Abb. 2: «Angst»-Index VIX (2009–2020)




Quelle: CBOE / Die Volkswirtschaft

Hilfreich ist ein Beispiel aus der Wahrnehmungspsychologie: Beobachtet man einige Zeit lang einen Wasserfall und richtet den Blick dann auf die umliegenden Felsen, hat man einen Moment lang den Eindruck, diese würden sich nach oben bewegen. Es handelt sich hierbei um eine gut bekannte optische Täuschung, die durch die Funktionsweise unserer Nervenzellen verursacht wird (motion after-effect).

Eine Reihe von Experimenten hat gezeigt, dass der Mensch bei der Risikowahrnehmung zu einer ähnlichen Reaktion neigt.[1] Ein Marktumfeld mit einem normalen Risiko wird von uns als extrem volatil wahrgenommen, wenn es auf ein schwach volatiles Umfeld folgt. Dieses als «variance after-effect» bezeichnete Phänomen wirkt bei einer Schockserie, wie wir sie zu Beginn der Krise beobachtet haben, als mechanischer Reaktionsverstärker. Wir wollen hier nicht das Ausmass der aktuellen Krise kleinreden, doch es scheint realistisch, dass das besonders günstige Umfeld an den Finanzmärkten vor der Krise die Ausschläge in den ersten Wochen der Krise zusätzlich verstärkt hat.

Zwischen Risiko und Ambiguität


So viel zur Situation vor der Pandemie. Doch wie wird es danach weitergehen? Wird sich unsere Weltsicht infolge dieser Covid-19-Episode grundlegend verändern? Bewegen wir uns in Richtung eines riskanteren oder eines unsichereren Umfelds?

Aus theoretischer Sicht gilt grundsätzlich: Risiko ist messbar und hängt von der Eintrittswahrscheinlichkeit verschiedener Szenarien ab. Als Risikoanalogie dient klassischerweise der Würfel: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der sechs Zahlen gewürfelt wird, ist für jede Zahl gleich hoch. Ein weiteres Beispiel: Zieht man eine Kugel aus einem Behälter, der 50 rote und 50 gelbe Kugeln enthält, lässt sich genau berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit man eine bestimmte Farbe ziehen wird.

Bei einem Grossteil unserer Tätigkeiten neigen wir, wenn wir die Wahl haben, zu der am wenigsten riskanten Option. Es sei denn, wir werden für die riskantere Option genügend entschädigt. Übertragen auf die Finanzanlagen, bedeutet das, dass wir unsere Anlageentscheide ändern, wenn das Risiko einer Anlagekategorie, sagen wir von Aktien, steigt. Sprich: Wir reduzieren den Aktienanteil in unserem Portfolio zugunsten von Titeln, die als solider gelten, bleiben aber dennoch breit diversifiziert. In der Regel rechtfertigt ein höheres Risiko nicht, dass man sich komplett aus einer Anlagekategorie zurückzieht.

Eine andere Realität beschreibt die Unsicherheit[2] (manchmal auch «Ambiguität» genannt). Hier ist die Eintrittswahrscheinlichkeit verschiedener Szenarien nicht bekannt: Zieht man beispielsweise eine Kugel aus einem Behälter mit 100 roten und gelben Kugeln, ohne zu wissen, wie viele rote und wie viele gelbe Kugeln im Behälter sind, so lässt sich nicht berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit man eine bestimmte Farbe ziehen wird.

Haben wir die Wahl zwischen einer unsicheren und einer riskanten Option, tendieren wir gemäss zahlreichen Verhaltensstudien dazu, die Option zu wählen, bei der wir die Risiken kennen – selbst wenn sie hoch sind. Der Grund ist unsere Abneigung gegenüber der Unsicherheit.[3] Eine zunehmende Ambiguität kann uns deshalb bei unseren Anlageentscheiden dazu veranlassen, unseren Anlagestil komplett zu überdenken: Womöglich beschliessen wir, uns fortan auf die Anlageklassen zu konzentrieren, bei denen die Unsicherheit am geringsten ist.

Somit sind nach der Krise zwei Szenarien denkbar: Das eine ist von mehr Risiko geprägt, das andere von stärkerer Unsicherheit. Bei letzterem könnte es zu massiven Kapitalabflüssen aus den Märkten kommen, da diese nicht nur als riskanter, sondern vor allem als unsicherer wahrgenommen werden.

Vor diesem Hintergrund zielt die derzeitige Geldpolitik der Notenbanken und Regierungen darauf ab, die Liquidität zu erhöhen. Dadurch sinkt die Unsicherheit, und die potenzielle Kapitalflucht aus den Aktienmärkten kann eingedämmt werden. Dieses Auffangnetz hat zwar seinen Preis, ist auf kurze und mittlere Sicht aber sicherlich notwendig, um eine solide Erholung zu gewährleisten. Auf diese Weise lässt sich auch das Vertrauen der Investoren aufrechterhalten, was eine zwar nicht fassbare, aber dennoch unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren unseres Finanzsystems ist. Denn: Der Aufschwung beginnt im Kopf.

  1. Siehe Payzan-LeNestour, Balleine, Berrada und Pearson (2016). []
  2. Gemäss Knight (1921). []
  3. Ellsberg (1961). []

Literaturverzeichnis

  • Ellsberg D. (1961). Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms. The Quarterly Journal of Economics.
  • Knight F. H. (1921). Risk, Uncertainty, and Profit. Boston.
  • Payzan-LeNestour E., Balleine B. W., Berrada T. und Pearson J. (2016). Variance After-Effects Distort Risk Perception in Human. Current Biology, Bd. 26, 11.

Bibliographie

  • Ellsberg D. (1961). Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms. The Quarterly Journal of Economics.
  • Knight F. H. (1921). Risk, Uncertainty, and Profit. Boston.
  • Payzan-LeNestour E., Balleine B. W., Berrada T. und Pearson J. (2016). Variance After-Effects Distort Risk Perception in Human. Current Biology, Bd. 26, 11.

Zitiervorschlag: Tony Berrada (2020). Die wirtschaftliche Erholung beginnt im Kopf. Die Volkswirtschaft, 19. Mai.