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Die Kosten haben die gesundheitspolitische Diskussion jahrelang dominiert. Die Corona-Pandemie gibt Gelegenheit, das Gesundheitswesen aus anderen Blickwinkeln zu beurteilen.
Jürg Schlup, Dr. med., Präsident der Verbindung der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz (FMH), Bern

Standpunkt

Die Politik der Kostendämpfung des Departements des Innern (EDI) hat die gesundheitspolitische Diskussion in den letzten sieben Jahren geprägt. Angefangen hat diese Politik im Jahr 2013 mit einer Zielvorgabe von 20 Prozent Kostenersparnis. 2017 folgte ein Expertenbericht, und 2019 überwies der Bundesrat dann die Botschaft zum ersten Kostendämpfungspaket ans Parlament. Am 21. Februar 2020 begann – mit dem einstimmigen Eintreten auf dieses erste Kostendämpfungspaket (inklusive einer Globalbudget-ähnlichen Massnahme) durch die Gesundheitskommission des Nationalrats – die Gesetzgebung dazu. Die Detailberatung sollte gleich im März erfolgen und die Beratung in der Sondersession im Mai. Der Ausbruch der Corona-Pandemie stoppte das Vorhaben.

Zehn Tage nachdem der Bundesrat die besondere Lage gemäss Epidemiengesetz verkündet hatte, reichte die CVP am 10. März die Volksinitiative für eine Kostenbremse im Gesundheitswesen ein. Doch bereits Ende März sagte die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, befragt zu künftigen Anpassungen des Pandemieplans, im «Aargauer Tagblatt»: «Da dürfen wir nicht mehr bloss auf den tiefsten Preis schauen, wir müssen die Versorgungssicherheit garantieren.»

Im Mai segneten die Räte – statt über kostensenkende Massnahmen zu beraten – in einer ausserordentlichen Session milliardenschwere Massnahmen zur Abfederung der Auswirkungen des Coronavirus auf Wirtschaft und Gesellschaft ab.

Öffentlichkeit erwacht

Wird Versorgungssicherheit bei der Beurteilung von Kosten und Nutzen des Gesundheitswesens ein neues wichtiges Kriterium? Erste Hinweise, die zeigen, wie sensibel die Bevölkerung reagieren kann, sind sichtbar. Ende März haben die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) und die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) Richtlinien für Triage-Entscheidungen auf Intensivstationen veröffentlicht. Diese wurden – auch in der Öffentlichkeit – intensiv diskutiert. Das Bewusstsein dafür, dass bei zu knappen Ressourcen nicht alle Menschen angemessen behandelt werden könnten, ist gross.

Es ist davon auszugehen, dass das EDI im Rahmen des schon länger angekündigten zweiten Kostendämpfungspakets früher oder später eine Vernehmlassung zu Zielvorgaben oder Globalbudgets eröffnen wird. Dies, obschon erwiesen ist, dass Globalbudgets die medizinische Versorgung der Bevölkerung verschlechtern und ungeeignete Instrumente zur Kostendämpfung sind. Ebenso denkbar – und ebenso fatal – wäre, dass eine unverbindliche Zielvorgabe präsentiert wird. In diesem Fall wäre das obligatorische «Gatekeeping» möglicherweise das neue Vorzeigeobjekt des Bundes. Hundert Prozent der Bevölkerung würden die gesundheitliche Erstberatung an einer neu zu gründenden medizinischen Anlaufstelle erhalten.

Wir sind aber zuversichtlich, dass nach den bisherigen Erfahrungen mit der Corona-Krise weder das Parlament noch die Bevölkerung Experimente durchführen und das gute Funktionieren und die Qualität der Versorgung aufs Spiel setzen wollen.

Zitiervorschlag: Jürg Schlup (2020). Standpunkt: Gesundheitspolitischer Perspektivenwechsel. Die Volkswirtschaft, 22. Juni.