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«Nur ein reiches Land kann sich so ein System leisten»

Die Schweiz hat über 280 Spitäler. Das entspreche dem Bedürfnis der Bevölkerung, sagt Gregor Zünd, Direktor des Universitätsspitals Zürich. «Daran dürfen wir nicht vorbeiplanen.»

«Nur ein reiches Land kann sich so ein System leisten»

«Statt über Mindestfallzahlen müssen wir über die Qualität sprechen»: Gregor Zünd, Direktor des Universitätsspitals Zürich. (Bild: ZVG)

Herr Zünd, Sie leiten eines der grössten Spitäler der Schweiz. Wie nehmen Sie die Corona-Krise wahr?

Die Corona-Krise zeigt uns, dass wir virale Infektionen nicht im Griff haben. Wir wussten, irgendwann tritt ein neues Virus auf. Wir wussten aber nicht, wann. Schon am 27. Januar haben wir eine Covid-19-Taskforce einberufen und standen mit Wuhan und Norditalien in Kontakt. Allerdings unterschätzten wir damals das Ausmass. Wir gingen zu dieser Zeit von einer grösseren grippeähnlichen Epidemie aus.

Im März und April durften Spitäler nur noch dringende Operationen durchführen. Wie kam diese Weisung des Bundesrates bei Ihnen an?

Der Bundesrat hat das geschickt formuliert. Notwendige Behandlungen konnten wir weiterhin durchführen. Gleichzeitig konnten wir unsere Ressourcen bündeln: Knappes Schutzmaterial reservierten wir für die Betreuung der Covid-19-Patienten, und Personal disponierten wir von anderen Abteilungen um. Es nützt wenig, viele Beatmungsapparate zur Verfügung zu haben, wenn kein geschultes Personal zur Verfügung steht. Im Februar begannen wir daher mit dem Training zusätzlicher Fachpersonen.

Hat das funktioniert?

Ja, das hat sogar sehr gut funktioniert, und die Mitarbeitenden haben sich maximal engagiert. Als Beispiel: Anfang März haben wir eine zweite Notfallstation aufgebaut und dazu eine zweite und eine dritte Intensivstation vorbereitet. Mitarbeitende aus verschiedensten Disziplinen arbeiteten in neuen Teams zusammen. Das Personal war hoch motiviert – ich hatte nie Diskussionen über die Zumutbarkeit.

Von Genf bis St. Gallen muss dasselbe Qualitätsverständnis herrschen

 

Kam es Ende April, als der Shutdown vorüber war, zu einem Stau bei den verschobenen Operationen?

Nein. Wobei ich präzisieren möchte: Von aussen betrachtet, denkt man meist nur an die Operationen. Aber in einem Spital machen diese Eingriffe nur einen Teil der Arbeit aus. Genauso wichtig sind Spezialsprechstunden zum Beispiel bei Tumorpatienten. Zudem haben wir im Gegensatz zu anderen Spitälern weniger verschiebbare Behandlungen. Lungen-, Herz- und Lebertransplantationen sowie Operationen von Unfallopfern führten wir auch während des Shutdowns durch.

Sprechen wir über die Kosten. Die Schweiz hat hinter den USA die höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf. Was ist politisch zu tun?

Wenn wir uns ansehen, wie umfangreiche Leistungen wir in der Schweiz anbieten und wie viele Belegärzte wir haben, dann zeigt sich: Nur ein reiches Land kann sich so ein System leisten. Es entspricht dem Bedürfnis der Bevölkerung, und an diesem dürfen wir nicht vorbeiplanen. Das schweizerische Gesundheitssystem ist föderalistisch organisiert. Das gehört zu unserer Kultur. Dennoch, der Bund könnte sich beim Thema Qualität positionieren. Von Genf bis St. Gallen sollte dasselbe Qualitätsverständnis im Gesundheitswesen herrschen.

Was schlagen Sie vor?

Der Bund könnte Qualitätskriterien definieren und die Spitäler entsprechend überprüfen. So sehen die Kantone, welche Qualität ein Spital aufweist. Wie die Kantone mit dieser Information dann umgehen, ist ihre Sache. Zum Beispiel könnte ein Kanton sagen: Bis in zwei Jahren muss Spital X ein Qualitätsmerkmal Y erfüllen, sonst entziehen wir den Leistungsauftrag. Viele Kantone dürften ein Interesse daran haben, sich bei den Qualitätsvorgaben auf die Empfehlungen des Bundes zu stützen.

Soll der Bund diese Qualitätskontrollen selber durchführen?

Ob Private im Auftrag des Bundes oder der Bund selbst die Qualitätskontrollen durchführt, ist eigentlich sekundär. Aus meiner persönlichen Sicht wäre die Forschungsanstalt Empa dazu besonders geeignet. Sie überprüft die Qualität ja bereits in der Industrie, ist vertraut mit nationalen und internationalen Qualitätsstandards und weist eine hohe akademische Akzeptanz auf. In vielen anderen Bereichen sind wir in Bezug auf Qualität viel weiter als im Gesundheitswesen.

Wichtig ist aber auch die Praxis: Wer regelmässig operiert, erbringt bessere Leistungen. Der Kanton Zürich schreibt deshalb seit 2019 eine Mindestfallzahl an Operationen vor. Was halten Sie davon?

Übung macht den Meister – das ist unbestritten. Trotzdem: Man kann auch etwas in einer schlechten Qualität häufig durchführen. Statt über Mindestfallzahlen müssen wir deshalb über die Qualität sprechen. Entscheidend ist beispielsweise eine tiefe Infektionsrate. An unserem Spital wollen wir die «in-hospital infection rate» von heute 5,9 auf 5 Prozent senken. 2016 waren wir noch bei 8,8 Prozent. Ein unheimlicher Aufwand, der sich aber lohnt. Der Durchschnitt der Schweizer Unispitäler liegt bei 7,9 Prozent und gilt international als eher hoch. Allerdings muss man sehen, dass die Raten im Ausland teils gar nicht oder nicht gleich gemessen werden.

Gibt es in der Schweiz zu viele Spitäler?

Das föderale System der Schweiz funktioniert bottom-up: von den Gemeinden über die Kantone bis hin zum Bund. Es geht darum, die Bürgerinnen und Bürger zu fragen: Welche Lebensqualität wollt ihr? Volksabstimmungen zeigen wiederholt, dass die Bürger ein Spital in ihrer Nähe wollen. Es wäre falsch, die Kultur des Föderalismus auszuhebeln. Es klingt vielleicht banal, aber unser Leben ist durch Geburt und Tod bestimmt. Dazwischen wollen wir eine möglichst hohe Lebensqualität. Es geht nicht darum, möglichst alt zu werden, sondern bis ins hohe Alter eine hohe Lebensqualität zu geniessen. Würde das Instrument der Qualitätskriterien implementiert, gäbe es vielleicht auch weniger Spitäler.

Eine Zwei- oder Dreiklassenmedizin scheint mir nicht erstrebenswert

 

Sollte der Bund allenfalls entscheiden, welche Spitäler hoch spezialisierte Medizin anbieten?

Nein. Im Föderalismus ist das schlicht nicht realisierbar.

Ökonomen sagen, die Überregulierung im Gesundheitswesen wirke kostentreibend. Wie nehmen Sie Regulierungen wahr?

Es ist plakativ, von Überregulierung zu sprechen. Die Regulierung bürgt für Qualität. Wenn Sie diese abbauen, müssen Sie Qualitätseinbussen in Kauf nehmen. Mir stellt sich vielmehr die Frage: Wie geht eine Kultur mit sozial schwächer gestellten und kranken Menschen um? Derzeit haben in der Schweiz alle Zugang zum Gesundheitswesen – diese Errungenschaft dürfen wir nicht gefährden. Sie sichert uns unsere Stabilität. Eine Zwei- oder Dreiklassenmedizin scheint mir nicht erstrebenswert.

Sie argumentieren gesellschaftlich – nicht ökonomisch.

Auch ökonomisch gesehen geht es bei der Regulierungsdiskussion letztlich immer um die Frage: Zu welcher Qualität soll eine Leistung erbracht werden?

Heute teilen sich die Kantone und die Krankenversicherer die Kosten im stationären Spitalbereich. Ambulante Leistungen zahlt der Patient respektive der Krankenversicherer allein. Der Bundesrat schlägt eine einheitlichere Finanzierung vor. Was halten Sie davon?

Sinnvoller wäre es, für eine Leistung X einen Betrag Y zu bekommen. Wie ein Spital die Leistung erbringt, soll es selbst bestimmen. Es werden noch viele Behandlungen stationär durchgeführt, die man problemlos auch ambulant durchführen könnte. Aber nicht der Gesetzgeber, nicht die Krankenversicherung sollte entscheiden, ob ambulant oder stationär behandelt werden soll. Andere europäische Länder sind diesbezüglich weiter als wir. Bei uns erhält ein Arzt jedoch mehr Geld für einen stationären als für einen ambulanten Eingriff – das ist der falsche Anreiz.

Besteht bei Ihrem Vorschlag nicht das Problem der Mengenausweitung – Spitäler müssen hohe Fixkosten decken?

Das stimmt. Deshalb spielt die Indikationsqualität eine wichtige Rolle. Ob ein Eingriff durchgeführt wird, darf nicht eine Einzelperson entscheiden. Am Universitätsspital haben wir ein Indikationsboard eingerichtet, das sich bei jedem Eingriff an internationalen Empfehlungen orientiert. Wird dort entschieden, dass bestrahlt werden soll, dann wird nicht operiert. Mit einem Indikationsboard kann man Mengenausweitung verhindern. Hohe Kosten im Gesundheitswesen entstehen übrigens nicht durch medizinische Apparaturen und Medikamente, sondern primär durch Personalkosten.

Wie arbeiten Sie mit anderen Spitälern zusammen?

Rein von unserer Mentalität her sind wir international ausgerichtet: Lombardei, King’s College in London, Charité in Berlin. Mit der Universität Harvard haben wir erst unlängst im Fachmagazin «The Lancet» publiziert. Aber auch mit den anderen Schweizer Universitätsspitälern tauschen wir uns regelmässig und intensiv aus.

In welchen medizinischen Bereichen stehen Sie im Wettbewerb?

In der spezialisierten und der hoch spezialisierten Medizin stehen wir national im Wettbewerb. Dieser Bereich macht 80 Prozent unserer Leistungen aus. Aber auch international herrscht hier Wettbewerb – etwa, wenn es darum geht, ausländische Spezialisten für Zürich zu verpflichten.

Unser Leben ist durch Geburt und Tod bestimmt – dazwischen wollen wir eine möglichst hohe Lebensqualität

 

Wie finden Sie die besten Köpfe?

Früher haben wir offene Stellen traditionell ausgeschrieben. Heute stützen wir uns vermehrt auf Headhunting. Es ist wichtig, dass wir die jeweiligen Kandidaten und Kandidatinnen an ihrer Heiminstitution aufsuchen und befragen, um ein umfassenderes Bild zu erhalten.

Als Spitaldirektor sind Sie Chef von vielen eigenwilligen Persönlichkeiten. Wie gelingt es Ihnen, diese Leute zu führen?

Das Universitätsspital ist eine klassische Expertenorganisation. Eine solche können Sie nicht top-down führen. Das wäre eine Illusion. Meine Aufgabe ist es, den Experten innerhalb der Regularien und Weisungen des Unternehmens so viel Freiheit wie möglich zu geben, damit sie sich entfalten können. Und sie optimal untereinander zu vernetzen.

Sind manche nicht in erster Linie um den persönlichen Ruhm bemüht?

Ja, aber dies kommt immer seltener vor. Wir fördern den Wettbewerb untereinander. Trotzdem: Heute ist die Medizin – im Gegensatz zu früher – eine Teamleistung, die es zu fördern und zu unterstützen gilt.

In Zürich entsteht bis 2028 das neue Hauptgebäude des Universitätsspitals. Worauf freuen Sie sich?

Ich freue mich auf den Neubau. Beispielsweise werden wir nur noch Einzelzimmer haben. Das wird uns helfen, die Infektionsrate niedrig zu halten. Die Gebäude sollen eine maximale Flexibilität ermöglichen, denn die einzige Konstante in der Medizin ist der rasante Wandel. Die ambulanten Kliniken platzieren wir an den Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs – diesen Herbst verlagern wir die Hälfte der ambulanten Sprechstunden an den verkehrstechnisch optimal erschlossenen Flughafen: Wir müssen zur Bevölkerung gehen – und nicht umgekehrt.

Zitiervorschlag: Guido Barsuglia (2020). «Nur ein reiches Land kann sich so ein System leisten». Die Volkswirtschaft, 18. Juni.

Gregor Zünd

Seit vier Jahren leitet der 61-jährige Gregor Zünd die Spitaldirektion des Universitätsspitals Zürich (USZ). Zuvor stand er der Forschungs- und Lehrtätigkeit am USZ vor. Der habilitierte Herz- und Gefässchirurg arbeitete in den Neunzigerjahren am Texas Medical Center in Houston und an der Harvard Medical School in Boston, USA. Mit 8500 Mitarbeitenden, 980 Spitalbetten und einem Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Franken ist das USZ eines der grössten Spitäler der Schweiz.