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Was heisst finanzierbare Gesundheitspolitik?

Das schweizerische Gesundheitswesen ist überreguliert. Dies gefährdet seine nachhaltige Finanzierung.

Was heisst finanzierbare Gesundheitspolitik?

Spatenstich in Zürich anlässlich des Baus des neuen Kinderspitals 2018. M. Vollenwyder, Eleonorenstiftung, F. de Vries, Steuerausschuss, C. Binswanger, Herzog & de Meuron, T. Heiniger, damaliger Gesundheitsdirektor, und F. Sennhauser, Ärztlicher Direktor (v. l.). (Bild: Keystone)

Bereits im Jahr 1983 prognostizierte das Politische Jahrbuch, dass «… die jährlichen Prämienzahlungen bald einmal einen vollen Monatslohn einer vierköpfigen Familie mit durchschnittlichem Einkommen beanspruchen (werden)».[1] Seither sind die Gesundheitskosten um das Fünffache gestiegen. Trotzdem ist die Krankenversicherung in Sachen Finanzierung eine löbliche Ausnahme bei den Sozialversicherungen. Statt Schulden gibt es Reserven und Rückstellungen. Also alles im Lot? Nicht ganz, aber die Unkenrufe von Politik und Medien verfehlen des Pudels Kern.

Auch im Gesundheitswesen gilt: Je höher die Kosten sind, desto schwieriger wird die Finanzierung. Trotzdem sind hohe Kosten per se nicht weiter tragisch, wenn man sie finanzieren kann und einen angemessenen Wert dafür bekommt. Kostendiskussionen sollten daher immer den Nutzen der Leistungen mit einbeziehen. Leider wird das selten gemacht, weil nur die Kosten transparent ausgewiesen sind, die Leistungen dagegen nicht. Das erklärt den Fokus auf die Kosteneindämmung. Doch niemand kennt das optimale Kostenniveau.

Im Gegensatz zu den Leistungen ist die Finanzierung transparent und kann politisch gut gesteuert werden. Zudem ist finanzielle Solidarität unabdingbar, weil gesundheitliche Probleme schnell zum finanziellen Ruin führen können. Kein Wunder, ist die Finanzierung des Gesundheitswesens seit je eine genuin politische Variable.

Hat das Schweizer Gesundheitswesen ein Finanzierungsproblem? Häufig werden Vergleiche gezogen, die zu einer Fehlbeurteilung führen. So wird behauptet, die Lohnentwicklung oder das Bruttoinlandprodukt (BIP) hinkten der Kostenentwicklung hinterher und wir hätten deshalb ein Finanzierungsproblem. Die im März eingereichte CVP-Initiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» fordert beispielsweise Kostendämpfungsmassnahmen, falls die Steigerung der durchschnittlichen Pro-Kopf-Kosten mehr als ein Fünftel über der Entwicklung der Nominallöhne liegt.

Ein Megatrend


Doch wieso sollen Löhne oder BIP gleich stark steigen wie die Gesundheitskosten? Gesundheit ist ein Megatrend wie beispielsweise die Digitalisierung. Megatrends binden zwangsläufig immer mehr Ressourcen. Es käme niemandem in den Sinn, Bundesabgaben für digitale Projekte an die Lohnentwicklung oder ans BIP zu knüpfen. Trotzdem: Wenn die Bevölkerung die Prämien nicht mehr bezahlen kann, dann haben wir ein Problem.

Dies ist zum Glück nicht der Fall. Gemäss Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) steigt die Belastung der Haushalte durch die Grundversicherungsprämien zwar kontinuierlich an – allerdings auf recht tiefem Niveau. Im Jahr 2017 betrugen die obligatorischen Prämien 6,5 Prozent des Haushaltsbudgets (siehe Abbildung). Dies entspricht einem Viertel aller obligatorischen Transferausgaben von insgesamt 27,7 Prozent – stärker ins Gewicht fallen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Die Finanzierung des Gesundheitswesens ist also nicht gefährdet, obwohl seine Kosten seit Jahren stärker wachsen als Löhne und BIP. Das liegt an den absoluten Werten, die sich auf sehr unterschiedlichem Niveau befinden.

Finanzlast der Haushalte (2017)


Weniger Geld zur Verfügung


Seit der Jahrtausendwende haben die obligatorischen jährlichen Gesundheitskosten um 17 Milliarden Franken zugenommen. Im gleichen Zeitraum stieg das BIP um 230 Milliarden Franken, wobei die Lohnsumme (Arbeitnehmergeld) 150 Milliarden Franken ausmachte. Somit gab die Schweiz 11,3 Prozent des Lohnwachstums für die Grundversicherung aus.

Setzen sich die Trends fort wie bisher, benötigen wir in gut 130 Jahren das gesamte Lohnwachstum für die zusätzlich anfallenden Gesundheitskosten in der Grundversicherung. Anderes Konsumwachstum ist danach nicht mehr möglich. Was bedeutet das?

Einerseits ist offensichtlich, dass wir in absehbarer Zeit kein Finanzierungsproblem in der Grundversicherung haben. Andererseits gibt es doch einige Alarmzeichen: Die Prämien sind eben, wie bereits erwähnt, nicht die einzigen Zwangsabgaben. Mit steigenden Prämien werden wir daher immer weniger Geld zur freien Verfügung haben.

Steigende Regulierung


Darüber hinaus beobachten wir seit Jahren ein beunruhigendes Phänomen: Die Wachstumsraten von freien und obligatorisch finanzierten Gesundheitsausgaben unterscheiden sich stark. Während im Jahr 1985 die Hälfte der Gesundheitsausgaben frei war, so ist es heute nur noch gut ein Drittel. Ein immer grösserer Teil der Ausgaben wird also stark reguliert und mit obligatorischen Transferausgaben finanziert. Dies ist ein Hinweis, dass in der Gesundheitspolitik etwas schiefläuft.

Gemäss der Bundesverfassung ist bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten. Sprich: Der Staat soll nur dort eingreifen, wo nicht anders möglich. Dieser Grundsatz wird bei einem Jahresumsatz des staatlich geprägten Gesundheitswesens von insgesamt gut 50 Milliarden Franken – dem BIP eines Landes wie Slowenien – kaum mehr eingehalten.

Stark regulierte Branchen sind zudem teuer und ineffizient. Es ist deshalb keine Überraschung, dass die Gesundheit, neben der Bildung und den landwirtschaftlichen Gütern, zu den teuersten Branchen im Vergleich zum Ausland gehört. Ferner gibt es mehrfache Hinweise auf eine Überregulierung. Zur Illustration der Regulierungsdichte kann die Anzahl Parlamentsgeschäfte im Gesundheitsbereich herangezogen werden. Diese haben sich seit der Jahrtausendwende mehr als verfünffacht und führten insgesamt zu einer Verdoppelung der Gesetztestexte.

Des Pudels Kern


Die Corona-Krise hat uns zwei Sachen gezeigt: Erstens müssen wir zum Gesundheitswesen Sorge tragen, denn es ist systemrelevant. Zweitens ist konstantes Wirtschaftswachstum nicht gegeben. Es muss tagtäglich erarbeitet werden.

Offensichtlich führte die Gesundheitspolitik der letzten Jahre in erster Linie zu einer vermehrt staatlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens. Notwendige Reformen auf der Finanzierungsseite wurden dabei versäumt. Dies betrifft die einheitliche Finanzierung stationärer und ambulanter Leistungen, die Anpassung der Kostenbeteiligungen an die Kostenentwicklung oder die Entflechtung der finanziellen Aufgaben von Bund und Kantonen, beispielsweise bei der Prämienverbilligung. Reformen hin zu einem werteorientierten Gesundheitswesen blieben ebenfalls auf der Strecke.[2]

Der Gesundheitssektor wird in einer modernen Volkswirtschaft immer grösser und wichtiger. Heute liegt sein Anteil in der Schweiz bei 12,2 Prozent des BIP. Dieser Wert wird bis 2060 auf 20 Prozent steigen, vorausgesetzt, das Wirtschaftswachstum bewegt sich im Rahmen der letzten 20 Jahre. Fällt das Wachstum geringer aus, beispielsweise nur 1 Prozent pro Jahr, macht das Gesundheitswesen bereits im Jahr 2037 ein Fünftel der Volkswirtschaft aus.

Wenn aber gegen zwei Drittel der Gesundheitsausgaben stark oder gar überreguliert sind, dann schwächt dies die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und damit wiederum die wirtschaftlichen Wachstumsaussichten. Und nun schliesst sich der Kreis: Um das Gesundheitswesen in Zukunft finanzieren zu können, brauchen wir ein hohes Wirtschaftswachstum, das steigende Einkommen erlaubt. Nur so können wir das Gesundheitswesen finanzieren. Und genau hier liegt das eigentliche Problem der finanziellen Nachhaltigkeit des Gesundheitswesens. In der Post-Corona-Zeit ist dies wichtiger denn je.

  1. Année politique Suisse (1983): Sozialpolitik[]
  2. Olmsted Teisberg, E. (2008). Nutzenorientierter Wettbewerb im schweizerischen Gesundheitswesen: Möglichkeiten und Chancen. Hrsg: Economiesuisse, Klinik Hirslanden, Interpharma, Schweizerischer Versicherungsverband, Swisscom. []

Zitiervorschlag: Fridolin Marty (2020). Was heisst finanzierbare Gesundheitspolitik. Die Volkswirtschaft, 17. Juni.