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«Ein Jahr warten bringt gar nichts»

Auch der Lehrstellenmarkt ist von der Corona-Krise betroffen. Bildungsökonom Stefan C. Wolter rechnet für die nächsten fünf Jahre mit bis zu 20’000 Lehrverträgen weniger. Er rät deshalb davon ab, auf die Traumlehrstelle zu warten, denn die Lage könne sich 2021 sogar verschlechtern.
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Uni-Professor Stefan C. Wolter: «Viele Lehrverträge wurden bereits vor der Corona-Krise unterzeichnet». (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)
Herr Wolter, normalerweise beginnen rund zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz nach der obligatorischen Schulzeit eine Lehre. Hat die Corona-Krise Auswirkungen darauf?

Ohne Folgen bleibt das wegen der tiefen Rezession nicht. Unser Prognosemodell zeigt, dass wegen des Coronavirus in den nächsten fünf Jahren insgesamt rund 5000 bis 20’000 Lehrverträge weniger abgeschlossen werden könnten. Ob aus den Prognosen Realität wird, hängt vor allem von zwei Dingen ab: erstens, wie sich die Konjunktur in den nächsten Monaten und Jahren tatsächlich entwickelt, und zweitens, wie effektiv die Massnahmen der Verbundpartner zur Bekämpfung einer Lehrstellenkrise wirken.

Dennoch: Ende Juni waren bereits knapp 75 Prozent der Lehrverträge unter Dach und Fach. Dies im Vergleich zum Total im Vorjahr. Das sieht doch erfreulich aus?

Die Krise macht sich an gewissen Orten dieses Jahr noch nicht bemerkbar. Das ist sicherlich positiv. Viele Lehrverträge wurden bereits vor der Corona-Krise unterzeichnet. Das ist insbesondere in der Deutschschweiz der Fall gewesen, wo über 60 Prozent der Lehrstellen bei Ausbruch der Krise schon vergeben waren. Insgesamt rechnet das Modell für 2020 auch nur mit rund 3 Prozent weniger unterschriebenen Lehrverträgen im Vergleich zu einer Situation ohne Krise. Das entspricht etwas mehr als 2000 Ausbildungsplätzen.

Wie lässt sich diese Zahl einordnen?

Ein Lehrvertrag, der nicht unterschrieben wird, bedeutet in der Regel, dass der Staat dann ein Brückenangebot oder eine Zwischenlösung finanzieren muss. Über den Daumen gepeilt, löst das Kosten von zusätzlich mindestens 5000 Franken pro Fall aus. Bei 2000 fehlenden Ausbildungsplätzen sind das 10 Millionen Franken. Im Januar hätte das noch einen Aufschrei provoziert, aber angesichts der zweistelligen Milliardenbeiträge durch die Corona-Hilfen des Bundes kann das niemanden mehr schocken.

 

In der Genferseeregion und im Tessin könnte die Situation dramatisch werden

 

Bei den abgeschlossenen Lehrverträgen gibt es grosse regionale Unterschiede.

Ja, in der Westschweiz und im Tessin, wo traditionell die Lehrverträge später unterzeichnet werden, sieht die Situation deutlich schlechter aus als in der Deutschschweiz. Bei Ausbruch der Krise waren in der Westschweiz rund 20 Prozent und im Tessin weniger als 10 Prozent der Lehrverträge im Vergleich zum Vorjahr unterschrieben. In der Genferseeregion und im Tessin könnte die Situation somit dramatisch werden.

Weshalb gibt es diese Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der lateinischen Schweiz?

Unter anderem, weil in der französisch- und der italienischsprachigen Schweiz der Hang zur Allgemeinbildung grösser ist und man mit der Lehrstellensuche erst beginnt, wenn der Zulassungsentscheid zum Gymnasium oder für eine Fachmittelschule negativ ist. Auch die Betriebe warten mit der Vergabe der Lehrstellen, bis sich diese Jugendlichen melden.

Sie sagten zu Beginn, dass sich die Krise in den nächsten fünf Jahren auf den Lehrstellenmarkt auswirken wird. Hat die lange Dauer mit der Rezession zu tun?

Teilweise. Aus der wissenschaftlichen Analyse der letzten dreissig Jahre wissen wir zwar, dass die Konjunktur eigentlich eine geringere Auswirkung auf den Lehrstellenmarkt in der Schweiz hat als beispielsweise demografische Aspekte wie Schülerzahlen. Weil die jetzige Krise aber enorm ist, ist dieses Mal auch der Effekt der Konjunktur grösser als bei vergangenen Krisen.

Verschärfen die steigenden Schülerzahlen in den nächsten Jahren die Situation auf dem Lehrstellenmarkt zusätzlich?

Ja. Diese demografischen Prozesse sind zwar vom einen zum anderen Jahr kaum spürbar, aber über zwei bis vier Jahre gesehen akzentuiert sich das Problem. Deshalb sollten im Moment eigentlich jedes Jahr mehr Lehrverträge abgeschlossen werden als im Vorjahr, um das aufzufangen. Aber im Moment droht das Gegenteil.

Weshalb hat die Konjunktur historisch gesehen einen schwachen Einfluss auf das Angebot und die Nachfrage nach Lehrstellen?

Die Berufsbildung hat sich in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren über alle Branchen und Berufsgruppen hinweg etabliert. Einerseits in den modernen Dienstleistungsberufen wie der Informatik, andererseits aber auch in Gesundheitsberufen. Diese krisenrobusten Branchen stabilisieren den Einfluss der Konjunktur auf den Lehrstellenmarkt. Die Abstützung war allerdings nicht immer so breit: In den Neunzigerjahren hatte der Strukturwandel die klassischen Berufsbildungsbranchen in der verarbeitenden Industrie und im Bausektor stark getroffen.

Eine Empfehlung der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) besagt, dass Lehrverträge noch bis Ende Oktober unterschrieben werden können. Welchen Zweck hat diese Massnahme?

Dadurch soll vermieden werden, dass Lernende ohne Lehrvertrag im August 2020 ein Brücken- oder ein Auffangangebot in Anspruch nehmen müssen und dadurch ein Jahr verlieren. Normalerweise werden die Lehrverträge spätestens im Juli unterschrieben, weil im August die Schulen beginnen. In der Schweiz ist es so, dass man nicht an eine Berufsfachschule kann, wenn man keinen Lehrvertrag hat. Da kratzt man also am Limit. Daraus ergeben sich natürlich auch Probleme für die Schulen, welche Klassen bilden müssen und noch nicht wissen, ob noch drei oder vier zusätzliche Lernende hinzukommen. Dass die Kantone zu solch drastischen Massnahmen schreiten, die systemisch enorm schwer zu verdauen sind, zeigt, wie ernst die Lage ist.

Der Bund unterstützt Projekte von Kantonen und Wirtschaftsorganisationen, welche Lehrstellen fördern. Zum Beispiel mittels Coaching oder Mentoring. Weshalb unterstützt der Staat nicht direkt die Firmen?

Das wäre aus zwei Gründen weniger effizient. Erstens: In den Neunzigerjahren glaubte man, dass eine Lehre ein Verlustgeschäft für einen Betrieb darstellt. Heute wissen die Betriebe, dass sie im Durchschnitt einen Gewinn machen am Ende der Lehre. Wer heute nicht ausbildet, tut dies, weil ihm im ökonomischen Sinn das Wasser bis zum Hals steht. Er kann nicht garantieren, dass er die nächsten drei bis vier Jahre Lernende ausbilden und bezahlen kann. Wenn ein solcher Betrieb also nicht ausbildet, tut er dem System der Berufsbildung vielleicht sogar einen Gefallen. Denn möglicherweise ständen diese Lernenden ein Jahr später wieder auf der Strasse, weil der Betrieb in Konkurs gegangen ist. Der zweite Grund sind sogenannte Mitnahmeeffekte: Der Staat kann nicht unterscheiden zwischen Betrieben, welche man wegen der Unterstützung zu einer Ausbildung überreden konnte, und solchen, die auch sonst ausgebildet hätten. Studien zeigen, dass die Mehrheit der Betriebe, die solche Hilfen bekommen, auch sonst ausgebildet hätte.

 

Selbst in einer Hochkonjunktur hat man bis zu 10’000 offene Lehrstellen

 

Trotz Krise gibt es weiterhin Lehrbetriebe, die keine Lernende finden. Gemäss der Lehrstellen-Datenbank Lena sind rund 16’000 Lehrstellen noch nicht besetzt.

Das spricht nicht gegen eine Krise. Selbst in einer Hochkonjunktur hat man bis zu 10’000 offene Lehrstellen und gleichzeitig ein Mehrfaches an Jugendlichen, die keine Lehrstelle fanden und in eine Zwischenlösung gingen. Kurz: Wenn alle Jugendlichen eine Lehrstelle finden sollen, braucht es einen sehr grossen Überhang an Lehrstellen.

Was ist der Grund für dieses Mismatching?

Angebot und Nachfrage passen sowohl geografisch als auch in Bezug auf den spezifischen Beruf nicht immer zusammen. Wenn man Jugendliche fragt, wo sie eine Lehrstelle haben möchten, dann würden alle am liebsten nur in der eigenen Gemeinde arbeiten. Aber die Lehrberufe sind natürlich regional enorm unterschiedlich verteilt, wenn man nur schon an die Branchencluster denkt.

Sie sagen also, die Lehrstellensuchenden müssten über ihren Schatten springen und auch eine weiter entfernte Stelle annehmen oder eine Lehre in einem anderen Beruf machen?

Es gibt viele Jugendliche, die damit rechnen, dass sie in einem Jahr die besseren Chancen für ihre Traumlehrstelle haben. Leider geht dieser Plan meistens nicht auf. Wenn ich sage, dass sich die Jugendlichen nun ein bisschen weniger wählerisch verhalten sollen, dann werde ich in den Medien als zynisch bezeichnet. Aber in der gegenwärtigen Situation ist es leider eben so. Unsere Prognosen zeigen: In einem Jahr wird die Situation voraussichtlich nicht besser sein, sondern vielleicht sogar schlechter. Ein Jahr warten bringt gar nichts. Denn dann steht man wieder im Wettbewerb mit den frischen Schulabgängern mit guten Noten, die um dieselben knappen und sehr beliebten Lehrberufe buhlen.

Trotzdem: Die Wahl des Lehrberufs ist eine wichtige Weichenstellung für das weitere Berufsleben.

Überhaupt nicht. Unser Berufsbildungssystem ist sehr flexibel, was die weiteren beruflichen und bildungsmässigen Entwicklungen nach der Lehre anbelangt. Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass fünf Jahre nach der Lehre ein Grossteil der Lernenden nicht nur den Beruf gewechselt hat, sondern ein Viertel dank dem Berufswechsel einen beruflichen Aufstieg geschafft hat. Zudem kommt dann noch die Möglichkeit hinzu, sich an der Fachhochschule oder der höheren Berufsbildung weiterzuentwickeln. Deshalb sollte man jetzt nicht ein bis zwei Jahre verlieren, nur weil man seine Traumlehre nicht bekommen hat. Diese Zeit investiert man besser später in eine Weiterbildung oder in den beruflichen Aufstieg.

 

Wer gleich nach der Lehre arbeitslos wird, kann viele Jahre an den Folgen leiden

 

Härter als die angehenden Lehrlinge könnte die Corona-Krise die Berufseinsteiger nach der Lehre treffen. Sehen Sie das auch so?

Ja, Berufseinsteiger nach der Lehre trifft der Wirtschaftseinbruch doppelt hart. Einerseits, weil sie jetzt keine Stelle finden, und andererseits, weil sie an diesen Einstiegsproblemen noch Jahre leiden können, selbst dann, wenn die Wirtschaft wieder rund läuft. Wer gleich nach der Lehre arbeitslos wird, kann viele Jahre an den Folgen leiden, etwa in Form tieferer Löhne oder eines erhöhten Risikos für Arbeitslosigkeit. Diese Vernarbungseffekte kann ein junger Mensch zwar reduzieren, wenn er später den Job wechselt. Aber das können nur die Besten.

In normalen Zeiten bleiben rund 40 Prozent der Lernenden nach dem Abschluss im Lehrbetrieb. Könnte diese Zahl in der Rezession deutlich sinken?

Eher das Gegenteil wird der Fall sein. Grosse und mittlere Firmen, die einerseits sogenannte interne Arbeitsmärkte anbieten können, wie grosse Detailhändler, Banken, Versicherungen, SBB oder Post, können ihren Lernenden Stellen an den unterschiedlichsten Standorten und in den unterschiedlichsten Bereichen anbieten. Andererseits werden die meisten grösseren Betriebe die Krise auch besser verkraften können als Klein- und Kleinstbetriebe. Ein weiterer Effekt wird sein, dass einige dieser Jugendlichen, die unter normalen Umständen nicht geblieben wären, jetzt in der Krise bleiben, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Ein dritter, gegenläufiger Effekt hat zur Folge, dass mehr Lernende sofort in eine weitere Ausbildung wechseln – sei dies die Berufsmaturität nach der Lehre oder, falls sie die Berufsmaturität schon haben, der direkte Übertritt an Höhere Fachschulen oder Fachhochschulen. Längerfristig gesehen ist dieser letzte Punkt einer der wenigen positiven Aspekte dieser Krise.

Weshalb?

Weil der Entscheid, aufgrund einer guten konjunkturellen Lage auf ein Studium zu verzichten, auf lange Sicht nie ein guter Entscheid war. Denn ein Studium ist eine Investition in die nächsten vierzig Jahre. So gesehen kann es sein, dass diese Jugendlichen – über das Leben betrachtet – als Gewinner aus der Krise hervorgehen.

Seit Beginn der Corona-Krise schnellt die Jugendarbeitslosigkeit überdurchschnittlich in die Höhe – woran liegt das?

Dieser Effekt ist nicht Corona-spezifisch, er hat nun einfach früher im Jahr stattgefunden. Die Lage wird sich aber nach den Sommerferien nochmals akzentuieren. Jugendliche, die zum ersten Mal auf den Arbeitsmarkt treten, profitieren in Wachstumsphasen von den zusätzlich geschaffenen Stellen, und diese offenen Stellen fehlen jetzt. Hinzu kommt: Überproportional viele junge Menschen sind in befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt, die jetzt dummerweise gerade auslaufen können. Auch die freiwilligen Fluktuationsraten spielen eine grosse Rolle. In einem normalen Jahr wechseln rund 10 bis 15 Prozent der ganzen Erwerbsbevölkerung ihre Stelle. Von dieser Stellenrotation auf dem Jobkarussell haben die Jugendlichen bisher profitiert: Immer wenn jemand abgesprungen ist, wurde eine Stelle frei. Nun ist die Situation so, dass alle auf dem Karussell sitzen bleiben und niemand mehr absteigt.

Zitiervorschlag: Tesar, Nicole (2020). «Ein Jahr warten bringt gar nichts». Die Volkswirtschaft, 21. Juli.

Stefan C. Wolter

Der Bildungsökonom Stefan C. Wolter ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) in Aarau. Er verantwortet den nationalen Bildungsbericht, der alle vier Jahre erscheint. Der 54-Jährige ist zudem Professor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter an der Universität Basel.