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Rekordgrosse Produktionslücke?

Ein wichtiger Gradmesser der Konjunktur ist die Produktionslücke – also die Differenz zwischen Wertschöpfung und Potenzial. Aufgrund der Corona-Krise erscheint diese derzeit riesig.
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Wochenmarkt an der Reuss in der Stadt Luzern Anfang Mai. (Bild: Keystone)

Stellen Sie sich einen Wochenmarkt in einer Schweizer Stadt vor: 100 Marktfahrende verkaufen jeden Samstag ihre Waren und erzielen insgesamt eine durchschnittliche Wertschöpfung von 100’000 Franken. Je nach Wetter schwankt die erzielte Wertschöpfung der Marktfahrenden von Woche zu Woche, während das Potenzial – sprich die vorhandenen Kapazitäten der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Technologie – sich über die Zeit nur langsam verändert.

Die Differenz der Wertschöpfung zum Potenzial ist die Produktionslücke. Bei einer positiven Lücke überwiegt die Nachfrage das Angebot, die Güter auf dem Markt werden knapp, und der Druck auf die Preise steigt. Das Gegenteil passiert, wenn die Lücke negativ ist, also wenn an einem regnerischen Tag nur wenige Kunden auf den Markt gehen und die Anbieter zu viele Güter anbieten.

Was anhand dieses Beispiels aufgezeigt wurde, gilt auch für die Volkswirtschaft als Ganzes. Übertrifft die tatsächliche Wirtschaftsleistung das volkswirtschaftliche Potenzial spürbar, befindet sich die Wirtschaft in einer Boomphase, in der sich Inflationsdruck aufbaut. Fällt die Wirtschaftsleistung hingegen deutlich unter das Potenzial zurück, befindet sich die Wirtschaft in einem Konjunkturabschwung oder sogar in einer Rezession. Arbeitslosigkeit und Deflationsrisiken steigen.

Sowohl eine starke Überhitzung als auch eine deutliche Unterauslastung der volkswirtschaftlichen Kapazitäten möchte die Wirtschaftspolitik durch konjunkturpolitische Massnahmen vermeiden. Beispielsweise kann die Zentralbank in einer Rezession die Zinsen senken, um die Nachfrage zu stimulieren. Oder der Fiskus erhöht die Staatsausgaben. In einem Boom wird die Zentralbank dagegen die Zinsen anheben, und der Staat kann sparen und Schulden abbauen, um eine Überhitzung und eine Inflation zu reduzieren.

Als Richtschnur für die Geld- und Fiskalpolitik dient die Produktionslücke. Sie zeigt uns, wo sich die Wirtschaft im Konjunkturzyklus befindet.

13 Ansätze in einem


Seit Dezember 2019 veröffentlicht das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die vierteljährlichen Zeitreihen zur Produktionslücke der Schweizer Volkswirtschaft. Dabei stehen wir jeweils vor einer grossen Herausforderung: Während das Bruttoinlandprodukt (BIP) als Summe der erzielten Wertschöpfung regelmässig erhoben wird, liegen zum Produktionspotenzial und damit zur Produktionslücke keine beobachtbaren Daten vor. Sie müssen daher geschätzt werden.

Da die Produktionslücke auch im Nachhinein nicht direkt gemessen werden kann, ist es schwierig, die Resultate einer Schätzmethode gegenüber einer anderen abschliessend zu beurteilen. Auch aus diesem Grund kann nicht eindeutig geklärt werden, welches das zuverlässigste Schätzverfahren ist. Das Seco stellt daher die Berechnung auf insgesamt 13 verschiedene Methoden ab. Neben verschiedenen univariaten und multivariaten Filtermethoden werden auch zwei produktionsfunktionsbasierte Ansätze verwendet. Alle unterteilen die gesamtwirtschaftliche Produktion in eine Trend- und eine Zykluskomponente. Der Trend wird dabei als Mass für das Produktionspotenzial der Wirtschaft und der Zyklus als Mass für die Produktionslücke interpretiert.[1] Anschliessend werden die Resultate als gewichteter Durchschnitt zusammengefasst und publiziert (siehe Abbildung).

Seit den Achtzigerjahren gab es drei Phasen mit einer klar positiven Produktionslücke: Ende der Achtzigerjahre, um die Jahrtausendwende und vor der internationalen Finanzkrise von 2008/2009 wies die Schweizer Wirtschaft eine deutliche Überauslastung aus. Hingegen war die Produktionslücke Mitte der Achtzigerjahre, Mitte der Neunzigerjahre, während der Dotcom-Krise von 2003/2004 sowie während der Finanzkrise negativ. Von 2010 bis 2019 bewegte sich die Produktionslücke bis zum Ausbruch der Corona-Krise relativ nahe bei null.

Produktionslücke der Schweiz (1980–2020)




Quelle: Seco / Die Volkswirtschaft

Historische Corona-Krise


Mit der Corona-Krise steht der Schweiz nun eine vierte Phase der deutlichen Unterauslastung bevor. Gemäss den aktuellen Prognosen wird für das Jahr 2020 der stärkste BIP-Rückgang seit Jahrzehnten erwartet. Bereits im ersten Quartal 2020 schrumpfte das BIP um 2,6 Prozent. Entsprechend öffnete sich auch die Produktionslücke und erreichte minus 2,5 Prozent – der stärkste Einbruch seit 2003. Im zweiten Quartal 2020 dürfte die Produktionslücke angesichts des erwarteten Wirtschaftseinbruchs weiter ins Minus fallen.

Allerdings muss die Produktionslücke im aktuellen Umfeld mit Vorsicht interpretiert werden. Warum? Kommen wir auf das Beispiel des Wochenmarktes zurück. Stellen Sie sich vor, dass, ausgelöst durch ein neuartiges Virus, eine Pandemie auf die Stadt zukommt. In der Folge dürfen aufgrund gesundheitspolitischer Massnahmen nur noch die Anbieter ihren Stand öffnen, die keine Fleisch- und Milchprodukte verkaufen. In diesem Fall bleibt das Potenzial gemäss den gängigen Berechnungsmethoden im Prinzip unverändert, denn es möchten ja immer noch 100 Marktfahrende ihre Produkte verkaufen. Dennoch sinkt das effektive Angebot an Gütern wegen der Beschränkungen. Gleichzeitig kommt es auch zu einem starken Nachfrageeinbruch: Aufgrund der misslichen Wirtschaftslage haben viele Kunden Einkommenseinbussen erlitten; zusätzlich verzichten die Leute wegen gesundheitlicher Bedenken auf den wöchentlichen Einkauf in der Stadt. Daher können auch die verbliebenen Stände nicht so viel verkaufen wie normal. Die erzielte Wertschöpfung am Wochenmarkt ist auch aus diesem Grund tiefer.

Das Beispiel zeigt: Gemessen am unveränderten Potenzial der 100 Marktfahrenden ist die Unterauslastung enorm, und die so gemessene Produktionslücke ist durch die Pandemie stark negativ geworden. Auf den ersten Blick erscheint der wirtschaftspolitische Handlungsbedarf in einer solchen Situation riesig.

Trotzdem ist Vorsicht geboten. Denn: Würde jetzt die Nachfrage massiv stimuliert, beispielsweise durch das Verteilen von Gutscheinen, könnte dies aufgrund des beschränkten Angebots sogar zu stark steigenden Preisen führen. Eine Politik, die sich mechanisch an der Produktionslücke ausrichtet, wäre also verfehlt.

Potenzial vorerst wenig betroffen


Auch die vom Seco verwendeten Methoden zur Schätzung der Produktionslücke gehen in der Corona-Krise vorerst von einem nur wenig durch die Krise veränderten Potenzial aus. Dies, obwohl die gesundheitspolitischen Massnahmen das effektiv zur Verfügung stehende Angebot temporär stark beschränkt haben. In der Folge widerspiegelt die Produktionslücke des Seco im aktuellen Umfeld nicht nur den Nachfrageausfall, sondern auch das reduzierte Angebot.

Während die so gemessene Produktionslücke die Einnahmeausfälle aufgrund der Corona-Krise gut abbildet, ist das Signal für die Wirtschaftspolitik derzeit mit Vorsicht zu interpretieren. Ein breites Bild aus weiteren Indikatoren, wie zum Beispiel der Kapazitätsauslastung, und wirtschaftlichen Zusammenhängen ist für die Konjunkturanalyse und Entscheidungen der Wirtschaftspolitik deshalb noch wichtiger als üblich.

Allerdings dürfte diese Problematik zeitlich begrenzt sein. Mit der Aufhebung beziehungsweise der Lockerung der gesundheitspolitischen Massnahmen werden die Produktionskapazitäten wieder hochgefahren. Entsprechend wird die Produktionslücke wieder mehr mit einer nachfragebedingten Unter- oder Überauslastung übereinstimmen und dürfte klarere Signale für die Wirtschaftspolitik und die Preisentwicklung senden.

  1. Vgl. Beitrag von Ronald Indergand und Simon Jäggi (Seco) in dieser Ausgabe. []

Zitiervorschlag: Fischer, Sarah; Schmidt, Caroline; Wegmüller, Philipp (2020). Rekordgrosse Produktionslücke? Die Volkswirtschaft, 24. Juli.