Angespannte Lage: SP-Politiker Robert Grimm, der 1918 zum Generalstreik aufrief, spricht vor dem Bundeshaus in Bern. (Bild: Keystone)
Es war alles andere als ein Zufall, dass die Schweizer Regierung im Jahr 1920, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, das Eidgenössische Arbeitsamt geschaffen hat, das bis heute in der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) weiterlebt. Zum einen entsprach der Aufbau einer solchen Behörde der internationalen Tendenz zur Standardisierung und Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, die bereits in der Vorkriegszeit begonnen hatte und durch die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf nur ein Jahr zuvor einen weiteren Schub erlebte. Zum andern war die Schweiz mit einer Reihe von hausgemachten Problemen konfrontiert. Handlungsbedarf hatte es bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegeben, aber seit 1914 befand man sich in einem permanenten Ausnahmezustand.
Sinkende Reallöhne im Ersten Weltkrieg
Das Hauptproblem während des Ersten Weltkriegs war der dramatische Reallohnverlust durch die hohe Inflation in der Schweiz. Während der vierjährigen Kriegszeit verdoppelten sich die Konsumentenpreise (siehe Abbildung), während die Nominallöhne der Männer nur um 62 Prozent und diejenigen der Frauen nur um 57 Prozent anstiegen. Besonders drastisch war der Reallohnverlust mit rund minus 15 Prozent im Jahr 1917, als die Versorgungslage wegen des Kriegseintritts der USA und wegen Missernten in der Schweiz bereits prekär war. Danach stabilisierten sich die Reallöhne, aber sie erreichten erst 1920 wieder das Vorkriegsniveau. Es ist durchaus möglich, dass die offiziellen Lohndaten diesen Reallohnverlust übertreiben, weil sie die Gratifikationen und Teuerungszulagen, die ab 1917 immer häufiger ausbezahlt wurden, nicht vollumfänglich abbilden. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass der Kaufkraftverlust für die Arbeiterschaft und ihre Familien äusserst schmerzlich war.
Preisindex, Nominallöhne und Reallöhne in der Schweiz (1914–1921)
Quelle: Historische Statistik der Schweiz / Die Volkswirtschaft
Ein Grund für die hohe Inflation war die kriegsbedingte Verknappung vieler Güter. Aber viel wichtiger war die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die ab 1916 immer stärker zur direkten Staatsfinanzierung überging. Hintergrund dieses Paradigmenwechsels, der in allen europäischen Ländern zu beobachten war, war die finanzielle Überforderung des Bundes, der die Militärausgaben nicht mehr ausschliesslich mit Staatsobligationen und Sondersteuern decken konnte und deshalb die SNB zwang, dem Staat unter die Arme zu greifen. Als Folge der direkten Staatsfinanzierung durch die Nationalbank verdoppelte sich der Notenumlauf von 1916 bis 1918. Erst 1920 ging die Inflationsphase zu Ende.
Pessimistische Arbeitgeber
Warum passten die privaten und öffentlichen Arbeitgeber die Nominallöhne so zögerlich an? Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens verfügten die Leute über keinerlei Inflationserfahrung. Seit dem Ende der Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts war das Preisniveau dank des auf Edelmetallen basierten Währungssystems stabil geblieben. Die Aufhebung des Goldstandards im August 1914 schuf eine völlig neue Situation, die von den Zeitgenossen erst mit einer Verzögerung in ihrer Tragweite erkannt wurde.
Zweitens gab es keinen allgemein akzeptierten Konsumentenpreisindex. Einzelne Stadtbehörden begannen damals zwar mit der Sammlung von Preisen einzelner Lebensmittel, aber erst mit der Zeit wurde klar, dass der Inflationstrend bedrohliche Ausmasse annahm. Bezeichnenderweise waren es die Marktfrauen, die als Erste durch Demonstrationen im Jahr 1917 Alarm schlugen, weil sie die Preissteigerungen der Nahrungsmittel am genauesten beobachten konnten. Erst Mitte der Zwanzigerjahre einigte man sich auf die Konstruktion eines Lebenskostenindexes, wobei das Eidgenössische Arbeitsamt eine Schlüsselrolle einnahm.
Der dritte Grund für die verzögerten Lohnerhöhungen war der Pessimismus der privaten Arbeitgeber, die stets damit rechneten, dass während des Kriegs oder unmittelbar danach eine grosse Wirtschaftskrise ausbrechen würde. Sie zögerten deshalb, die hohen Reserven, die sie dank einer äusserst günstigen Konjunktur in den ersten beiden Kriegsjahren aufgebaut hatten, für kräftige Lohnerhöhungen zu verwenden. Daraus ergab sich eine unhaltbare Situation: Die meisten Unternehmen befanden sich in einer guten finanziellen Position, muteten aber ihren Arbeiterinnen und Arbeitern jedes Jahr Reallohnverluste zu.
Zunehmende Arbeiterstreiks
Dieses Auseinanderklaffen zwischen den ausreichenden Reserven und der zurückhaltenden Lohnpolitik war neben dem tatsächlich eingetretenen Reallohnverlust der wichtigste Grund, warum die Streiktätigkeit 1917 sprunghaft anstieg und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in die Höhe schnellten. 1916 hatten nur 34 Streiks stattgefunden, nun waren es bereits 136 Streiks in 603 Betrieben mit einer Beteiligung von 13’309 Arbeiterinnen und Arbeitern. 1918 war das Jahr mit der höchsten Streiktätigkeit: Nicht weniger als 264 Streiks waren zu verzeichnen, wobei 1464 Betriebe davon betroffen waren und sich 24’318 Arbeiterinnen und Arbeiter daran beteiligten. Da diese Streiks in der Regel erfolgreich verliefen und die gewünschten Reallohnerhöhungen brachten, bildete sich die Streiktätigkeit 1920 zurück.
1918 war auch das Jahr des landesweiten Generalstreiks, 1919 folgten zwei lokale Generalstreiks in Basel und Zürich, wodurch politische Anliegen der organisierten Arbeiterschaft eine höhere Dringlichkeit gewannen. Vor allem die Einführung der 48-Stunden-Woche in den Jahren 1919 und 1920 dürfte durch die Machtdemonstration der Gewerkschaften beschleunigt worden sein. Allerdings fiel es den schweizerischen Arbeitgebern besonders leicht, in dieser Zeit Konzessionen bei der Wochenarbeitszeit zu machen, da sich gegen Kriegsende überall in Europa ein starker Trend zur 48-Stunden-Woche bemerkbar machte. Die Arbeitszeit in Europa lag davor im Durchschnitt bei etwa 60 Stunden. Die schweizerischen Exportindustriellen konnten angesichts dieses internationalen Wandels nicht mehr behaupten, eine Verkürzung der Arbeitszeit würde schwere Wettbewerbsnachteile nach sich ziehen.
Überhaupt standen die beiden Jahre nach Kriegsschluss im Zeichen eines sozialpolitischen Aufbruchs. Anfang 1919 setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, um die Frage einer staatlichen Altersversicherung zu prüfen, und publizierte noch vor den Sommerferien eine Botschaft. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), die 1918 ihren Betrieb aufgenommen hatte, praktizierte von Beginn weg mit Erfolg die trilaterale Kooperation zwischen Arbeitgeberverbänden, Arbeitnehmerorganisationen und den staatlichen Behörden. Die Schaffung des Eidgenössischen Arbeitsamts stellte demnach kein isoliertes Ereignis dar, sondern passte gut in die damalige Zeit. Die Kriegszeit und die Arbeitskämpfe setzten zwar auf der Linken wie auf der Rechten polarisierende Kräfte frei, die sich hassten und bekämpften, aber der Ausnahmezustand machte auch Kompromisse und Reformen möglich, weil die gemässigten Gruppen und Parteien einsahen, dass Handlungsbedarf bestand, etwa durch die Einführung von Gesamtarbeitsverträgen (siehe Kasten).
Kurze «Goldene Zwanziger»
Der sozial- und lohnpolitische Frühling war jedoch von kurzer Dauer. Die Konjunktur kippte bereits 1920 und mündete im folgenden Jahr in eine schwere Wirtschaftskrise, die mit hoher Arbeitslosigkeit, einem dramatischen Preissturz und einer starken Aufwertung des Schweizer Frankens verbunden war. Als Folge davon stiegen die Schweizer Lohnkosten im internationalen Vergleich deutlich an, sodass die Exportindustriellen darauf drängten, die 48-Stunden-Woche wieder aufzuweichen. In der Tat nahmen die Bewilligungen für verlängerte Arbeitszeiten deutlich zu. Auch die nominalen Stundenlöhne wurden in den Jahren 1922 und 1923 gesenkt. 1923 resultierte dadurch gar ein Reallohnverlust. Die organisierte Arbeiterschaft versuchte ihre Mitglieder dagegen zu mobilisieren, hatte jedoch angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nur wenig Erfolg. Denn viele Arbeitsuchende waren froh, überhaupt eine Anstellung zu finden, sodass die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen nicht durchsetzen konnten. Erst 1924, als die Konjunktur wieder anzog, kam es zu Streiks in der Metall- und Maschinenindustrie.
Ab 1924 bildete sich die Arbeitslosigkeit wieder zurück, weil endlich die Stabilisierung der europäischen Währungsverhältnisse gelungen war. Nun setzten die «Goldenen Zwanzigerjahre» ein. Nach einer zehnjährigen Periode, in der Krieg und Krise dominiert hatten, brach eine neue Periode an.
Literaturverzeichnis
- Degen, B. (1991). Abschied vom Klassenkampf. Die partielle Integration der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung zwischen Landesstreik und Weltwirtschaftskrise (1918–1929), Basel: Helbing & LIchtenhahn.
- Jaun, R.; Straumann, T. (2016). Durch fortschreitende Verelendung zum Generalstreik? Widersprüche eines populären Narrativs, in: Der Geschichtsfreund 169, S. 19–51.
- Abegg, W.; Baltensperger, E. (Hg.) (2007). Schweizerische Nationalbank 1907–2007, Zürich: NZZ Libro.
Bibliographie
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Zitiervorschlag: Straumann, Tobias (2020). Ein Kind seiner Zeit. Die Volkswirtschaft, 14. September.
Ansätze zur einvernehmlichen Regelung von Konflikten gab es in der Schweiz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zählte unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg 412 Gesamtarbeitsverträge mit rund 45’000 Arbeitern, hauptsächlich in der Uhren- und Metallindustrie, dem Holzgewerbe, der Typografie und dem Schneidergewerbe. In den Jahren 1917 bis 1920, als das Eidgenössische Arbeitsamt gegründet wurde, kamen viele neue Gesamtarbeitsverträge hinzu. Es wäre jedoch falsch, von einem Durchbruch der Sozialpartnerschaft in jener Zeit zu sprechen, zumal die Schweizer Stimmberechtigten es an der Urne ablehnten, dem Eidgenössischen Arbeitsamt die Kompetenz zu geben, Gesamtarbeitsverträge für verbindlich zu erklären und Normalarbeitsverträge aufzustellen. Auch das sogenannte Friedensabkommen in der Metall- und Maschinenindustrie von 1937, das ohne Beteiligung des Eidgenössischen Arbeitsamts zustande kam, kann nicht als Geburtsstunde, sondern nur als Zwischenetappe in der Geschichte der Sozialpartnerschaft bezeichnet werden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich der moderne Gesamtarbeitsvertrag, zunächst auf der Grundlage eines 1941 erlassenen dringlichen Bundesbeschlusses, ab 1956 auf der Basis des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen.