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Wie viel Verschuldung verträgt die Schweiz?

Das Tiefzinsumfeld und die Corona-Krise erhöhen die Überschuldungsgefahr vieler Firmen in der Schweiz. Weiterhin solide steht der Staat da.
Ehrenrunde mit Meisterpokal vor leeren Rängen im Wankdorf: Viele Sportvereine leiden unter der Corona-Krise. (Bild: Keystone)

Bei den Hypothekarschulden in Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) erreicht die Schweiz einen internationalen Spitzenplatz[1]. Gleichzeitig verursacht die aktuelle Pandemie einen Schub von neuen Schulden. Wie viel Schulden sind noch tragbar? Sind wir dem Kollaps nahe?

Zunächst muss festgehalten werden: Schulden sind alltäglich – Haushalte, Unternehmen und Staat machen Schulden. Volkwirtschaftlich unterscheidet man zwischen kurzfristigen und langfristigen Schulden. Mit kurzfristigen Schulden können Unternehmen unvorhergesehene Einnahmenausfälle überbrücken und plötzliche, einmalige Ausgaben auffangen. Die Schuldner wiederum können ohne Verzögerung ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen, indem sie zeitweilige Liquiditätsengpässe ausgleichen. Das erhält die Nachfrage und stabilisiert die Wirtschaft. Der Staat schliesslich erhält in der Rezession die üblichen Ausgaben aufrecht, ersetzt die vorübergehenden Steuerausfälle mit neuen Schulden und ermöglicht so eine «automatische Stabilisierung» der Konjunktur.

Mit langfristigen Krediten stemmen die Unternehmen grosse Investitionen. Als Sicherheit dienen den Geldgebern beispielsweise grosse Vermögenswerte wie Maschinen, Bauten und andere Ausrüstungen. Die Schulden zahlen die Unternehmen später mit den Gewinnen zurück, die sie mit den Investitionen erzielt haben. Bei Eigenheimbesitzern spielt ein ähnlicher Mechanismus: Die Eigentümer sparen Mietausgaben und stärken das verfügbare Einkommen, aus dem sie die Hypothekarschulden bedienen können. Auch der Staat finanziert mit Schulden grosse Infrastrukturinvestitionen, die das Wachstum stützen und die Steuereinnahmen festigen.

Kein Schuldner ohne Gläubiger


Die Schulden der einen sind das Vermögen der anderen. Wo sollten die Banken mit dem Geld der Sparer hin, wenn es nicht Schuldner gäbe, die Kredit brauchen? Wie sollten die Pensionskassen die Vorsorgegelder investieren, wenn es nicht die Anleihen des Staates und der Unternehmen gäbe? Dabei sind Gläubiger und Schuldner aufeinander angewiesen und wechseln häufig die Rollen. Beispielsweise sparen die Haushalte über viele Jahre Eigenmittel an, um sie später zusammen mit einem grossen Kredit in Immobilien zu investieren. So werden sie von Gläubigern zu Schuldnern. Ohne Schulden sind Wachstum und Wohlstand somit kaum möglich.

Eine wichtige Rolle spielt die Sicherheit: Die Gläubiger wollen eine sichere Verzinsung und Rückzahlung. Die Banken sind ihren Einlegern verpflichtet und wollen die Kundengelder nicht gefährden. Die Arbeitenden wiederum wollen sichere Löhne und eine stete Beschäftigung.

Da ein gewisses Risiko aber unvermeidlich ist, lastet das Risiko auf dem Eigenkapital. Um Erlösausfälle aufzufangen, müssen etwa genügend Eigenmittelreserven da sein. Dabei kommt es auf das richtige Ausmass an. Wenn die Schulden im Verhältnis zu den Eigenmitteln zu hoch werden, dann gibt es für die Gläubiger keine Sicherheit mehr. Diese müssen deshalb sorgfältig die Kreditwürdigkeit prüfen, bevor sie Geld geben.

Eigenkapital als Pfand


Die Tragbarkeit der Schulden hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Erstens müssen genügend Eigenmittel und Sicherheiten da sein, die zur Bedienung der Schulden zur Verfügung stehen und im Notfall verwertbar sind, um die Gläubiger zu befriedigen. Zweitens ist die Tragbarkeit höher, wenn der Schuldner hohe künftige Einkommen erwarten kann und wenige andere Verpflichtungen erfüllen muss.

Eine absolute Sicherheit gibt es jedoch nicht. Faule Kredite, Insolvenzen und sogar Staatsbankrott gehören zum Geschäft der Banken und der Investoren auf den Kapitalmärkten. Die Höhe des Zinses passt sich dem Risiko an und entschädigt die Gläubiger für das in Kauf genommene Risiko. Kreditnehmer erster Bonität zahlen niedrige Zinsen, die gar negativ sein können. Dazu zählen etwa die Schweizer Bundesanleihen. Weniger vertrauenswürdige Schuldner – beispielsweise die Herausgeber von sogenannten Ramschanleihen – müssen hingegen deutlich höhere Zinsen zahlen.

Wenn die Schuldenlast zu gross wird, droht die Insolvenz. Dann übernehmen die Gläubiger die Kontrolle. Das Insolvenzrecht bestimmt, in welcher Reihenfolge die Gläubiger zum Zug kommen. Dabei ist eine schwierige Abwägung zwischen Gläubigerschutz und Neustart mit einer zweiten Chance für die Schuldner zu treffen. Innovatives Unternehmertum ist unvermeidlich mit Scheitern verbunden. In der Praxis ist der zweite Versuch sogar oft erfolgreicher als der erste.

Die Banken und andere Gläubiger versuchen ihre Verluste zu minimieren, indem sie das vorhandene Vermögen klug verwerten. So müssen sie im Einzelfall etwa entscheiden, ob ein Schuldennachlass mit einer Restrukturierung die bessere Option ist als eine vollständige Liquidierung einer Firma. Im Falle der Liquidation gilt es, aus den Verwertungserlösen einen möglichst hohen Anteil der Kredite zurückzubekommen, damit die Mittel in Form von neuen Krediten an andere Unternehmen mit besseren Aussichten fliessen können. Der Neueinsatz des Kapitals steigert dabei vielfach die Produktivität.

Gefahr einer Finanzkrise


Wenn allerdings Haushalte, Unternehmen und Staat systematisch überschuldet sind, dann steigt die Gefahr einer Finanzkrise. Überschuldung heisst dabei nichts anderes, als dass es den Schuldnern an risikotragenden Eigenkapitalreserven mangelt. Steigt die Zahl der Insolvenzen stark, geraten auch Banken und andere Gläubiger, die über wenig Eigenkapital verfügen, in Gefahr: Sie können die Ausfälle nicht mehr verkraften. Bei einer systematischen Überschuldung kommt es dabei rascher zu einem Vertrauensverlust und zu Panikreaktionen. Wenn Staats- und Unternehmensanleihen bei einem panikhaften Abverkauf massiv an Wert verlieren, geraten Banken und Investoren deshalb in existenzielle Gefahr, wenn sie nicht schnell genug handeln. Ein plötzlicher Vertrauensverlust – als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung – kann daher rasch zu einer Finanzkrise ausufern.

Der beste Schutz vor einer Finanzkrise ist deshalb eine massvolle Verschuldung. Sicherheit bietet eine robuste Ausstattung mit risikotragenden Eigenmitteln. Dieses Gleichgewicht ist im gegenwärtigen Tiefzinsumfeld jedoch gefährdet, da die Schuldenfinanzierung attraktiv ist, während das Eigenkapital teuer bleibt. Mit einer vorgeschriebenen Mindestkapitalquote versuchen die Regulatoren deshalb eine Überschuldung der Banken zu verhindern, und einer Überschuldung der Eigenheimbesitzer versucht man mit Belehnungsgrenzen und antizyklischen Kapitalvorschriften für Immobilienkredite vorzubeugen.

Allerdings bestehen in der Schweiz nach wie vor gefährliche Fehlanreize. So begünstigt die steuerliche Abzugsfähigkeit von Zinsen auf Fremdkapital und Hypothekarkrediten die Verschuldung, während dem risikotragenden Eigenkapital dieser Zinsabzug verwehrt bleibt.  Diese Anreize zur Überschuldung untergraben die Krisenrobustheit der Wirtschaft.

Corona als Schuldentreiber


Einen neuen Schuldenschub bringt auch die Covid-19-Krise. Mit Kurzarbeit und direkten Ersatzzahlungen hat der Staat einen Teil der Einkommensausfälle der Unternehmen und ihrer Beschäftigten übernommen. Mit den neuen Staatsschulden werden die Lasten über die Zeit gestreckt und zwischen heutigen und künftigen Generationen verteilt, damit sie tragbar bleiben. Im Vergleich zu anderen Ländern verfügt die Schweiz dank rekordniedriger Verschuldung dabei über einen grossen fiskalischen Spielraum.

Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dürften allerdings die Ausfälle bei Immobilien- und Konsumkrediten zunehmen. Auch bei den Unternehmen sind grössere Probleme zu erwarten, da die Erlösausfälle während des Lockdowns vielfach das Eigenkapital aufgebraucht haben. Die Notkredite steigern die Überschuldungsgefahr zusätzlich. So entsteht ein Teufelskreis: Der entstehende Mangel an Eigenkapital beeinträchtigt die Kreditwürdigkeit und kann die Investitionen blockieren. Nach der Krise sollte die Politik deshalb mit Priorität die Eigenkapitalstärkung der Unternehmen unterstützen, damit diese rasch ihre volle Kreditfähigkeit wiedererlangen und wieder investieren können.

Steht die Schweizer Volkswirtschaft also kurz vor einem Verschuldungskollaps? Nein. Davon ist sie glücklicherweise weit entfernt. Allerdings verursachen zunehmende Insolvenzen mehr Arbeitslosigkeit und vernichten viel Vermögen. Die Überschuldung aus Mangel an risikotragendem Eigenkapital macht die Wirtschaft zudem krisenanfälliger und droht das Wachstum zu lähmen.

  1. Siehe dazu Beiträge von Stefan Fahrländer und Anastassios Frangulidis in diesem Schwerpunkt. []

Zitiervorschlag: Christian Keuschnigg (2020). Wie viel Verschuldung verträgt die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 21. September.

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