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Social Media verändert die Politik

Influencer und Webkampagnen prägen die politische Kommunikation zusehends. Parteien und Verbände müssen sich der neuen Realität anpassen.

Social Media verändert die Politik

Das Smartphone griffbereit: Laura Zimmermann, Co-Präsidentin der Operation Libero, mit Valentin Vogt, Präsident Schweizerischer Arbeitgeberverband am Abstimmungssonntag Ende September. (Bild: Keystone)

Mit ritueller Disziplin beobachten und diskutieren die politischen Kommunikatoren in der Schweiz auch diesen Herbst die US-Wahlen. Gewiss kann man die Schweiz und die USA weder demografisch noch institutionell miteinander vergleichen. Und trotzdem schaffen es vor allem digitale Methoden – mit ein paar Jahren Verzögerung – regelmässig ins Repertoire politischer Kampagnen in der Schweiz.

Die Kampagne von Ex-Präsident Barack Obama setzte vor zwölf Jahren Standards für den Einsatz von Social Media und smarter «Community Tools». Sie prägte auch die Campaigner in der Schweiz. Seit gut zehn Jahren gehören die sozialen Medien auch hierzulande zum festen Bestandteil der politischen Kommunikation. Selbstverständlich gewichten die verschiedenen politischen Organisationen sowie Abstimmungs- und Wahlkomitees die sozialen Medien im Massnahmenmix unterschiedlich. So gibt es in der Schweiz immer noch viele «offline» getriebene Kampagnen. Gleichzeitig stechen Kampagnen hervor, die einen klaren Fokus auf die digitale Kommunikation legen. Beispiele hierfür finden sich in den Aktivitäten der Operation Libero, aber auch in der Wahlkampagne der CVP im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019, als die Partei auf Facebook und in der Google-Suche intensiv Werbung schaltete.

Der Skandal um Cambridge Analytica bei den US-Wahlen vor vier Jahren hat eine Welle der Empörung ausgelöst und Unsicherheiten geschürt: Wann wird aus Wahlwerbung politische Propaganda? Können freie Wahlen fremdbestimmt werden? Was ist im Umgang mit Daten rechtlich und moralisch zulässig? Gesetzgeber, digitale Werbenetzwerke, aber auch Campaigner waren gezwungen zu reagieren. Als erste Social-Media-Plattform verbot Twitter politische Werbung. Facebook ging einen anderen Weg und setzte auf Transparenzregelungen und Verifizierungsprozesse für politische Anzeigen.

Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 nutzte die Mehrheit der Parteien diese Option von Facebook und machte damit nachvollziehbarer, welche Zielgruppen sie mit welcher Intensität bewarb. Die politische Kommunikation in der Schweiz hat ihre «wilden Jahre des Experimentierens» mit Social Media längst hinter sich gelassen. Deren Einsatz erfolgt heute mehrheitlich reflektiert und routiniert.

Digitale Demokratie


Spannend ist, was aus dem Einsatz von digitalen Tools und der Dynamik in sozialen Netzwerken neu entsteht. Die Schweizer Plattform We Collect versteht sich in eigenen Worten als «Schnittstelle zwischen Demokratie und Internet». Im Kern bietet sie eine elektronische Möglichkeit an, Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden zu sammeln.

Das Ganze geschieht nicht ohne Medienbruch: Unterschriftenbögen müssen nach wie vor physisch retourniert werden. In Kombination mit der Distributionskraft in den sozialen Netzwerken entsteht trotzdem eine ganz neue Dynamik im politischen Meinungsmarkt. Im Jahr 2018 ist es We Collect zum Beispiel gelungen, das Referendum gegen das revidierte Sozialversicherungsgesetz zu ergreifen. Diese Leistung war bis dato Parteien und etablierten politischen Organisationen vorbehalten. Das Gesetz wurde im November 2018 mit knapp 65 Prozent Ja-Stimmen deutlich vom Stimmvolk gutgeheissen, trotzdem feierte die Plattform mit dem ergriffenen Referendum einen Achtungserfolg.

Youtuber macht Schlagzeilen


In der Marketingkommunikation hat sich in den letzten Jahren die Disziplin des Influencer-Marketings einen festen Platz erarbeitet. In der politischen Kommunikation ist dieser Begriff in der Schweiz noch nicht etabliert. Im deutschsprachigen Raum sind Influencer erstmals im Vorfeld der Europawahlen 2019 in der breiten Öffentlichkeit aufgetaucht. Mit dem Video «Die Zerstörung der CDU» rechnete der Youtuber Rezo, der mit seinen Musikvideos berühmt wurde, in knapp 55 Minuten mit der Politik der CDU ab. Binnen einer Woche wurde das Video über 5 Millionen Mal angesehen – und sorgte über die Landesgrenzen hinweg für Schlagzeilen. In Erinnerung bleiben werden möglicherweise weniger das Video – über dessen Inhalt und vermeintliche Objektivität sich durchaus diskutieren lässt – und seine virale Verbreitung als die verdatterte, unbeholfene und arrogante Antwort der CDU. Um das Boulevardblatt «Bild» zu zitieren: «CDU kapituliert vor Youtuber Rezo.»

Influencer sind auch in der Schweiz ein fester Bestandteil der Medienlandschaft. Vereinzelt nehmen sie Stellung zu politischen und gesellschaftlichen Themen: Die Berner Musiker Lo und Leduc schlossen sich der Forderung an den Bundesrat an, sich für die Räumung des Flüchtlingslagers auf Lesbos einzusetzen. Fitness-Guru Anja Zeidler setzt sich für den Veganismus ein, und die ehemalige Miss-Kandidatin und Bloggerin Kristina Bazan teilt auf ihrer Plattform Botschaften von Klimaaktivistin Greta Thunberg.

Das Gros der Schweizer Influencer hält sich aber politisch zurück. Das hat gute Gründe. Ihre Glaubwürdigkeit in einem spezifischen Thema macht unter anderem ihren Markenwert und damit ihre Attraktivität für kommerzielle Auftraggeber aus. Und Glaubwürdigkeit in Fragen von Mode, Reisen, Fitness, gesunder Ernährung lässt sich nicht in jedem Fall auf politische Sachfragen und den «Jargon» von Parteien übersetzen.

Influencer sind in der Politik eigentlich kein modernes Phänomen. Abstimmungs- und Wahlkomitees haben schon immer auf die Unterstützung von Persönlichkeiten gesetzt, um ein Thema besonders wirkungsvoll in gesellschaftlichen Gruppen vertreten zu können, die sonst vielleicht nicht oder weniger glaubwürdig erreicht worden wären. Im Kern entspricht das dem Wesen des Influencer-Marketings.

Politische Elite erhält Konkurrenz


Die nächsten Jahre werden zeigen, welche Rolle Influencer bei politischen Kampagnen spielen. Massgebend dafür sind weniger Entwicklungen auf deren Spielwiese, den sozialen Netzwerken. Entscheidend sind vielmehr Autoritätsverlagerungen im politischen Meinungsmarkt: Politisches Gehör in Bundesbern fanden bisher vor allem die etablierten Parteien, relevante Verbände, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen. Im Ringen um Argumente und in der Deutungshoheit von Dossiers und Vorlagen erhalten diese klassischen Akteure aber zunehmend Konkurrenz.

Im Jahr 2016 hat die damals in weiten Kreisen unbekannte Operation Libero der grössten Partei des Landes – der SVP – die Stirn geboten und im Abstimmungskampf um die Durchsetzungsinitiative an der Urne obsiegt. #MeToo, #FrauenStreik, #FridaysForFuture und #BlackLivesMatter sind weit mehr als Hashtags; sie sind Anliegen, die breite Kreise interessieren und teilweise neu politisieren. Sie stehen für Bewegungen, die sich nicht entlang von Parteiprogrammen oder Verbandspositionen, sondern ad hoc und mit ganz eigener Handlungslogik und sehr selbstbewusst um bestimmte Themen formieren. Unabhängig von den klassischen politischen Gatekeepern küren diese Bewegungen ihre Meinungsführer selbst, verschaffen sich Gehör, gestalten Debatten, etablieren sich als neue politische Akteure und mobilisieren Unterstützer.

Selbstverständlich haben die etablierten politischen Akteure weiterhin Gewicht, aber die politische Autorität verschiebt sich immer öfter von Parteien, Verbänden und Gewerkschaften hin zu dezentralen, zivilgesellschaftlichen Bewegungen.

Diese Verlagerung wird auch die Arbeit der politischen Campaigner in der Schweiz tangieren. Konnten in der Vergangenheit im Parteienverbund Mehrheiten geschmiedet werden, könnten dazu künftig vermehrt Schulterschlüsse mit Bewegungen nötig werden. Das wird einen Einfluss auf die Organisation, die Mechanik und die Tonalität künftiger Kampagnen haben. Und politische Kommunikatoren werden lernen müssen, wie man beide «Welten» eint, für dasselbe Ziel separat auftreten lässt oder bei unterschiedlichen Positionen kontert. Es ist davon auszugehen, dass künftig vermehrt Politiker und Influencer «miteinander» oder «gegeneinander» auftreten werden.

Zitiervorschlag: Michel Grunder (2020). Social Media verändert die Politik. Die Volkswirtschaft, 20. Oktober.