Brand einer Postauto-Einstellhalle in Chur: Anders als Pandemierisiken treten Feuerschäden nicht weltweit gleichzeitig auf. (Bild: Keystone)
Wann lohnt sich eine Versicherung? Rationale Entscheider schliessen dann eine Versicherung ab, wenn der Nutzen ihrer Vermögensposition mit der Versicherung höher ist als ohne. Dabei schätzen sie vor allem, dass eine Versicherung das Risiko ihrer Vermögensposition reduziert. Dies wird ermöglicht, indem der Versicherer via Kollektivbildung die Risiken vieler Versicherungsnehmer zusammenführt. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, dass die zugrunde liegenden Risiken nicht vollständig stochastisch abhängig sind.
Stochastische Unabhängigkeit bedeutet: Der Eintritt eines Schadens hat keine Auswirkung auf die Eintrittswahrscheinlichkeit eines anderen Schadens im Kollektiv des Versicherers. Liegt eine solche Unabhängigkeit vor, steigt zwar das absolute Risiko des Kollektivs[1] bei sukzessivem Hinzufügen von Risiken, das relative Risiko nimmt hingegen ab. Die Resilienz auf individueller Ebene wird dadurch gestärkt: Der Versicherungsnehmer erhält im Schadenfall eine Entschädigungsleistung, die vor allem durch die Prämien aller anderen Versicherungsteilnehmer finanziert wird, und erleidet so keine anhaltende Beeinträchtigung.
Viele Kollektive wie etwa Motorfahrzeug-, Feuer- oder Lebensversicherungen sind durch eine (weitgehende) stochastische Unabhängigkeit der darin befindlichen Risiken gekennzeichnet. Das bedeutet, dass die Risiken rein unsystematischer Natur sind und sich vollständig diversifizieren lassen. Eine wichtige Ausnahme bilden Kollektive im Bereich der Naturkatastrophen, aber auch Pandemieereignisse.
Nutzen ist für Kunden zentral
Aus Kundenperspektive ist die Teilnahme an einem Versicherungskollektiv dann sinnvoll, wenn der Prämienzuschlag nicht höher ist als der Nutzengewinn.[2] Der Prämienzuschlag ergibt sich aus der Differenz zwischen der Marktprämie und dem erwarteten Schaden und wird durch Transaktionskosten, durch die Entschädigungen des Versicherers für die Risikoübernahme, aber auch durch die Wettbewerbsintensität der Versicherungsindustrie bestimmt.
Wie die aktuelle Corona-Krise deutlich macht, sind der Versicherung von Pandemierisiken unter diesen Bedingungen enge Grenzen gesetzt. Denn die lokalen und globalen Diversifikationsmöglichkeiten dieser Risiken sind eingeschränkt. Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Diversifikation im Kollektiv gering ist, sondern führt über hohe Entschädigungen für die Risikotragung auch zu Prämien, die kaum Nachfrage erzeugen.
Corona-Risiko schwer kalkulierbar
Wie hoch die Zahl der Menschen in der Bevölkerung ist, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, und wie sich diese Zahl über die Zeit entwickelt, ist anhand der verfügbaren Daten nur sehr schwer abschätzbar.[3] Die (kumulativ) aufgeführten positiv getesteten Fälle und der darauf basierende Reproduktionsfaktor erlauben kaum Rückschlüsse auf die Zahl der tatsächlich Infizierten und ihre Entwicklung. Der Grund ist, dass eine klassische Stichprobenverzerrung vorliegt, weil die Getesteten nicht zufällig ausgewählt wurden, sondern vornehmlich Personen sind, die bereits Symptome einer Corona-Erkrankung zeigen, zu einer Risikogruppe gehören oder im medizinischen Sektor arbeiten. Zudem muss eine sinnvolle Interpretation der positiv getesteten Fälle auch berücksichtigen, wie viele Tests insgesamt gemacht wurden und wie hoch dabei die Fehlerquote ist.[4]
Auch ein sinnvoller Vergleich der positiv Getesteten und der eingetretenen Todesfälle über verschiedene Länder hinweg ist nicht leicht zu bewerkstelligen. Denn die Erfassungskriterien für Coronavirus-Todesfälle sind häufig länderspezifisch. Dies ist bedeutsam, weil der Tod einiger Personen, die positiv getestet wurden oder an Corona erkrankt sind, nicht kausal auf das Virus zurückführbar ist. Zudem ist der Anteil der Risikogruppen an der Gesamtbevölkerung unterschiedlich und hängt nicht zuletzt von der demografischen Struktur eines Landes ab. Auch wegen anderer Aspekte wie etwa der Bevölkerungsdichte eines Landes ist es selbst im Nachhinein nur beschränkt möglich, die Effizienz einer getroffenen Risikomanagementmassnahme zum Schutze der Bevölkerung zu evaluieren. Für die Versicherung von Pandemierisiken bedeutet dies, dass die Informationen über die zugrunde liegende Schadengesetzmässigkeit unvollständig sind. Dies erschwert Versicherungslösungen für Pandemien.
Versicherbarkeit aus Marktperspektive
Verschiedene Arbeiten haben Kriterien entwickelt, die für eine Versicherbarkeit erfüllt sein müssen.[5] Dazu gehören insbesondere Anforderungen an die Informationstransparenz, die Messbarkeit eines Risikos sowie deren stochastische Abhängigkeitsstruktur. Doch die in der Literatur genannten Kriterien sind nicht ausreichend trennscharf. Deshalb plädiere ich für eine Definition von Versicherbarkeit, die auf Marktüberlegungen basiert: Die Zahlungsbereitschaft der Versicherungsnehmer muss über dem Grenzpreis des Anbieters liegen.
Überträgt man diese Forderung auf Modelle der Versicherungs-Nachfrage- und -Angebotstheorie, lassen sich im Kontext des Coronavirus einige grundsätzliche Feststellungen treffen. So ist etwa die Zahlungsbereitschaft risikoscheuer Versicherungsnehmer hoch, da der nicht diversifizierbare Teil des Schadenrisikos erheblich ist. Denn der Schaden für die Versicherungsnehmer im Falle einer Pandemie bedeutet typischerweise, dass auch das eigene Vermögen an Wert verliert und die persönlichen Einkommensmöglichkeiten reduziert werden. Trotzdem reicht die Zahlungsbereitschaft häufig nicht aus, die notwendigen Prämienzuschläge des Versicherers zu decken. Diese Prämienzuschläge sind deshalb so hoch, weil die Möglichkeiten zur Diversifikation innerhalb dieses Risikotyps im Kollektiv gering sind und eine negative Korrelation zwischen Schäden und Kapitalmarktentwicklung vorliegt.
Unter dem Strich bedeutet das: Für Kundengruppen, die nicht bereit oder in der Lage sind, solch hohe Prämien zu bezahlen, kann die Resilienz im Pandemiefall nicht durch private Versicherungslösungen hergestellt werden. Dies schliesst aber nicht aus, dass eine Kombination aus Finanzierungsinstrumenten und Versicherung – beispielsweise mittels Public-Private-Partnership-Konzepten – der richtige Weg ist, den finanziellen Folgen einer Pandemie zu begegnen.
- Dieses lässt sich beispielsweise anhand der Schadenvarianz messen. []
- Vgl. hierzu Gatzert und Schmeiser (2012) und die dort zitierten Primärquellen. []
- Vgl. hierzu ausführlich: Schmeiser, Hato (2020). []
- So wurden in der Schweiz z. B. in der 10. Kalenderwoche 2020 4801 Personen getestet, in der 20. Kalenderwoche 33’191, in der 30. Kalenderwoche 35’171 und in der 35. Kalenderwoche 73’509. Vgl. hierzu: Bundesamt für Gesundheit (2020). []
- Vgl. z. B. Berliner (1982); Berliner (1985); Karten (1997). []
Literaturverzeichnis
- Berliner, Baruch (1982). Limits of Insurability of Risks.
- Berliner, Baruch (1985). Large Risks and Limits of Insurability, Geneva Papers on Risk and Insurance, Vol 10, Nr. 37: 313–329.
- Bundesamt für Gesundheit (2020). Situationsbericht zur epidemiologischen Lage in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein – Woche 35 (24.–30.08.2020).
- Gatzert, Nadine und Schmeiser, Hato (2012). The Merits of Pooling Claims Revisited, The Journal of Risk Finance, Vol. 13, No. 3: 184–198.
- Karten, Walter (1997). How to Expand the Limits to Insurability, Geneva Papers on Risk and Insurance, Vol. 22, Nr. 85: 515–522.
- Schmeiser, Hato (2020). Covid-19: Unsichere Datenlage hemmt erfolgreiches Risikomanagement, Gastbeitrag Schweizerischer Versicherungsverband SVV, April 2020.
Bibliographie
- Berliner, Baruch (1982). Limits of Insurability of Risks.
- Berliner, Baruch (1985). Large Risks and Limits of Insurability, Geneva Papers on Risk and Insurance, Vol 10, Nr. 37: 313–329.
- Bundesamt für Gesundheit (2020). Situationsbericht zur epidemiologischen Lage in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein – Woche 35 (24.–30.08.2020).
- Gatzert, Nadine und Schmeiser, Hato (2012). The Merits of Pooling Claims Revisited, The Journal of Risk Finance, Vol. 13, No. 3: 184–198.
- Karten, Walter (1997). How to Expand the Limits to Insurability, Geneva Papers on Risk and Insurance, Vol. 22, Nr. 85: 515–522.
- Schmeiser, Hato (2020). Covid-19: Unsichere Datenlage hemmt erfolgreiches Risikomanagement, Gastbeitrag Schweizerischer Versicherungsverband SVV, April 2020.
Zitiervorschlag: Schmeiser, Hato (2020). Wie funktioniert eine Versicherung? Die Volkswirtschaft, 21. Oktober.