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Detailhandel als Konjunkturindikator

Die Detailhandelsumsätze liefern wertvolle Angaben zum Konjunkturverlauf. In der Corona-Krise beeinflussen aber Substitutionseffekte das Bild.
Die Gastronomie leidet stark unter der Pandemie. Restaurant im Kanton Luzern. (Bild: Keystone)

Am 17. März 2020 mussten in der Schweiz viele Dienstleistungsbetriebe und die meisten Läden schliessen. Der Konsum vieler Güter wurde damit per bundesrätlicher Anordnung verunmöglicht beziehungsweise deutlich erschwert. Gleichzeitig führten steigende Arbeitslosen- und Kurzarbeitszahlen trotz staatlicher Unterstützungsmassnahmen zu Einkommenseinbussen bei den Haushalten.

Für Prognostiker stellten sich damals unter anderem folgende Fragen: Wie schnell erholt sich der Konsum vom Lockdown-bedingten Absturz, sobald die Geschäfte wieder geöffnet haben? Auf welches Niveau kehren die Konsumausgaben zurück? Werden die ausgefallenen Käufe nachgeholt, oder bleiben die Konsumausgaben aufgrund der Einkommensausfälle begrenzt?

Nützliche Informationen liefern die Detailhandelsumsätze[1], die monatlich vom Bundesamt für Statistik (BFS) publiziert werden. Zum einen handelt es sich um sogenannte harte Daten, also um tatsächlich erwirtschaftete Umsätze, die – im Gegensatz zu «weichen» Daten wie Stimmungsumfragen – einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem tatsächlichen Konsum und der Wertschöpfung haben. Zum anderen werden sie monatlich und – zumindest im Vergleich zu anderen harten Daten – relativ zeitnah publiziert.

Die Detailhandelsumsätze liefern damit wertvolle Informationen nicht nur zur Entwicklung der Branche selber, sondern auch zur Konjunkturlage insgesamt. Diese müssen aber in den jeweiligen Kontext eingebettet werden. Im aktuellen Umfeld muss insbesondere berücksichtigt werden, dass die Corona-Krise auch das Konsumverhalten der Bevölkerung beeinflusst. Historische Zusammenhänge gelten daher nur bedingt.

Konsum als Ganzes betrachten


Mit einer Bruttowertschöpfung von knapp 25 Milliarden Franken macht der Detailhandel 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz aus.[2] Wertschöpfungsmässig ist er damit beispielsweise deutlich kleiner als der Industriesektor oder der Grosshandel. Auf der Verwendungsseite des BIP gehört der Detailhandel zum Konsum der privaten Haushalte, der 354 Milliarden Franken und damit etwa die Hälfte des Schweizer BIP ausmacht. Ungefähr ein Viertel der privaten Konsumausgaben entfällt auf den Detailhandel – den Vertrieb von Waren (ohne Kraftfahrzeuge) zuhanden von Konsumentinnen und Konsumenten (siehe Abbildung 1).

Der Löwenanteil der Konsumausgaben – 45 Prozent – entfällt auf Dienstleistungen wie Gesundheitsdienste, Finanzdienste sowie Kultur- und Freizeitdienste. Ein weiteres Viertel wird für Wohnen und Energie, das heisst Mieten, Wohnnebenkosten und Strom, ausgegeben.

Dabei handelt es sich um eine approximative Abschätzung: Im Einzelfall kann ein Detailhändler auch Dienstleistungen vertreiben, und ein Dienstleistungsunternehmen kann umgekehrt auch Waren verkaufen, es zählt dann aber trotzdem nicht zu den Detailhändlern im engeren Sinne. Im Konsum sind zudem Produkte enthalten, die im Ausland gekauft werden. Trotz dieser Unschärfe macht die Abschätzung klar: Konsumausgaben sind nicht gleich Detailhandel. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung fallen Dienstleistungen stärker ins Gewicht, und Wohnen und Energie sind ebenso bedeutend wie der Detailhandel.

Abb. 1: Anteile verschiedener Bereiche an den Konsumausgaben der Haushalte (Mittelwert 2016–2019)




Quelle: BFS, Seco / Die Volkswirtschaft

In der alltäglichen Wahrnehmung der Bevölkerung ist der Detailhandel weitaus stärker präsent – jeder Haushalt steht regelmässig in Kontakt mit dieser Wirtschaftsbranche. Auch die konjunkturelle Bedeutung des Detailhandels geht über dessen relativ geringen direkten Anteil an der Wertschöpfung und am Konsum hinaus. So hängen beispielsweise auch Zulieferbetriebe, insbesondere der Grosshandel, aber auch die Herstellerbetriebe der Landwirtschaft und der Industrie von den Umsätzen der Detailhändler ab. Zudem sind etwa 6 Prozent aller Beschäftigten im Detailhandel tätig. Deshalb sind die Detailhandelsumsätze ein wertvoller Indikator für den Konjunkturverlauf.

Verschiebungen in der Krise


Im März 2020 brachen die Detailhandelsumsätze[3] gegenüber dem Vorjahresmonat um 5 Prozent ein; im April waren es sogar 18 Prozent (siehe Abbildung 2). Bereits im Mai erholte sich der Detailhandel aber wieder deutlich. Obwohl viele Läden erst am 11. Mai wieder öffnen durften, war der Umsatz des gesamten Monats fast 10 Prozent höher als im Vorjahr. Seither liegen die Umsätze durchgehend über dem Vorjahresniveau, wenn auch in einem geringeren Ausmass. Vergleicht man die kumulierten Umsätze von Januar bis September mit dem Vorjahr, resultiert für den Detailhandel insgesamt eine schwarze Null. Die Ausfälle von März und April konnten somit insgesamt wettgemacht werden. Dies gilt aber nicht für alle Bereiche: Während die Nahrungsmittelverkäufe deutlich im Plus sind, liegen die Umsätze von Bekleidung und Schuhen zwar wieder ungefähr auf Vorjahresniveau, die Ausfälle vom Frühjahr wurden bisher aber nicht kompensiert.

Die insgesamt relativ positive Entwicklung im Detailhandel hängt auch mit Änderungen im Konsumverhalten zusammen. Zum einen wurde das Verhalten stark durch Homeoffice und die Schliessung der Landesgrenzen beeinflusst. Zum anderen waren während des Lockdowns gewisse konsumorientierte Bereiche der Wirtschaft zeitweise geschlossen oder stark eingeschränkt, sodass die Haushalte auf Alternativen ausweichen mussten. Beispielsweise wurden deutlich mehr Mahlzeiten zu Hause eingenommen als üblich, weil die Restaurants (mit Ausnahme von Take-aways) geschlossen waren, der Unterricht in den Schulen und damit die Mittagsverpflegung der Schüler ausfiel und weil Homeoffice empfohlen wurde. Dementsprechend legten die Verkäufe von Nahrungsmitteln, Getränken und Tabak, die über 40 Prozent der Detailhandelsumsätze ausmachen, kräftig zu, während die Ausgaben für Mahlzeiten in Restaurants einbrachen. Die geschlossenen Grenzen wiederum führten zu einem abrupten Stopp des Einkaufstourismus und generell zu weniger Einkäufen im Ausland, wovon Schweizer Supermärkte profitierten. Der boomende Onlinehandel trug auch dazu bei, den Rückgang der Detailhandelsumsätze während des Lockdowns zu begrenzen.

Auch in anderen Konsumbereichen führte die Pandemie zu Verschiebungen: Homeoffice und der Ausfall vieler Freizeitveranstaltungen stärkten die Nachfrage nach Elektronikgütern, dafür gingen die Ausgaben im öffentlichen Verkehr stark zurück. Anstelle von Auslandreisen wurden vermehrt Ferien im Inland und Tagesausflüge gemacht, was wiederum auch gewissen Bereichen des inländischen Detailhandels zugutekam.

Abb. 2: Veränderung der realen Detailhandelsumsätze 2020 im Vorjahresvergleich




Quelle: BFS / Die Volkswirtschaft

Vorsicht geboten


Bei der Interpretation der Detailhandelsumsätze für die Konjunkturprognose ist gerade in der aktuellen Krise Vorsicht geboten. Beispielsweise kann man nicht von den hohen Umsätzen der Lebensmittelgeschäfte auf den gesamten Lebensmittelkonsum schliessen, sondern muss auch die Gastronomieumsätze mit einbeziehen.

Aufgrund solcher Substitutionseffekte zwischen Konsumbereichen, die in ihrer Tragweite einmalig sind, können die in der Vergangenheit beobachteten Zusammenhänge zwischen Detailhandel und Konsum beziehungsweise BIP nicht eins zu eins auf die aktuelle Lage übertragen werden. Die positive Entwicklung des Detailhandels in den letzten Monaten ist zwar ein sehr erfreuliches Signal für die Konjunktur, bedeutet aber nicht, dass sich der Konsum insgesamt oder das BIP im gleichen Ausmass erholt haben. Während die Detailhandelsumsätze seit Monaten über den Vorjahresniveaus liegen, dürften sowohl der private Konsum als auch das BIP noch weit davon entfernt sein.

  1. Reale, kalenderbereinigte Umsätze ohne Treibstoffe. []
  2. Mittelwert 2016 bis 2019. []
  3. Reale, kalenderbereinigte Umsätze, ohne Treibstoffe. []

Zitiervorschlag: Andreas Bachmann, Felicitas Kemeny, (2020). Detailhandel als Konjunkturindikator. Die Volkswirtschaft, 19. November.