Viele Frauen stehen vor der Frage: Unternehmen oder unterlassen? (Bild: Keystone)
Seit mehr als zehn Jahren bin ich nun selbstständig als Unternehmerin tätig und werde regelmässig eingeladen, um insbesondere jüngere Frauen zu motivieren, ihren Weg zu gehen, und sie fürs Unternehmertum zu begeistern.
Dabei ist es mir stets ein Anliegen, dass ich meinen Zuhörern gegenüber die Realität nicht schönrede. Denn ehrlich gesagt hatte ich es mir ursprünglich ganz anders vorgestellt, Unternehmerin zu sein. Nämlich: befreiend durch die Chance, eigene Vorstellungen zu verwirklichen. Einerseits trifft das natürlich zu. Andererseits gewinnt man diese Freiheit aber auf Kosten seiner Sicherheit – das war schon vor Corona so. Aber lassen Sie mich von vorne beginnen…
Die Kinderstube im Unternehmen
Ich bin in eine Unternehmerfamilie hineingeboren: Mein Vater hat mit seinem Geschäftspartner in unserer Garage ein Unternehmen gegründet. Ein klassisches Start-up, würde man heute sagen. Nach 16 Jahren, in denen aus dem «Garagenbetrieb» ein Unternehmen mit 250 Mitarbeitern entstanden war, haben sie es verkauft. Wahrscheinlich würde man heute von einem sogenannten Unicorn oder einem «Hidden Champion» sprechen – einem Start-up also, das zur Erfolgsstory wurde oder in seiner Nische einen hohen Marktwert aufweist. Für mich war es schlicht meine Kindheit.
Wie hätte ich nach diesen Erfahrungen und einem Jurastudium in einem Grossunternehmen funktionieren und jahrelang der gleichen Arbeit nachgehen können? In meinen zwei Jahren bei einer Beratungsfirma fühlte ich mich oft wie Ronja die Räubertochter, die man aus dem Wald gelockt und in ein Kostüm gesteckt hat. Mit dem Stillsitzen wurde es einfach nichts.
Effectuation: Die Entscheidungslogik
Heute weiss ich auch, warum: Mein ganzes Betriebssystem war schon immer auf Unternehmertum ausgerichtet. Erst heute, mit 40 Jahren, kann ich Ihnen den passenden Begriff dafür nennen, wie ich als Unternehmerin funktioniere, denke und entscheide: «Effectuation». Damit wird in der Wissenschaft die Entscheidungslogik von Unternehmerinnen und Unternehmern beschrieben. Entscheide werden nach dieser Logik nicht auf Daten oder Vorhersagen gemacht. Unternehmerinnen und Unternehmer denken weder kausal noch linear. Diese Logik ist der Schlüssel, Entscheide treffen zu können in einem Umfeld voller Unsicherheit oder Unklarheit. Das sollten wir uns gerade heute vergegenwärtigen. Es gibt vier wesentliche Merkmale, die unternehmerisches Denken und Entscheiden gemäss Effectuation auszeichnen:
1. Umstände und Zufälle nutzen
Ich war 30 Jahre alt und schwanger, als ich angefragt wurde, mich an einem Unternehmen zu beteiligen. Mit drei Partnern unterzeichnete ich den Kaufvertrag für Nextmarket, einen digitalen Marktplatz für Unternehmensnachfolgen. Heute heisst die Firma Companymarket.ch. Gegründet wurde das Unternehmen durch den grossen Schweizer Patron Otto Ineichen, der inzwischen verstorben ist. Nach wenigen Jahren ist ein Geschäftspartner nach Australien ausgewandert und ein zweiter ausgestiegen. Ich blieb als Geschäftsleiterin mit einer Firma, einem Schuldenberg und der Verantwortung für zwei kleine Kinder zurück. Also habe ich Tag und Nacht gearbeitet und versucht, allen Rollen irgendwie gerecht zu werden. Alles, was unterm Strich übrig blieb, habe ich sofort ins Unternehmen reinvestiert oder zum Abtragen des Schuldenbergs verwendet. Doch allzu oft fühlte ich mich der Situation nicht gewachsen.
Humor über mich selbst, die Liebe zu meiner Familie und meiner Arbeit sowie die Überzeugung, etwas Relevantes zu tun, liessen mich immer weitermachen. In den vergangenen zehn Jahren haben wir über 5000 Firmen zum Verkauf ausgeschrieben und haben damit unseren Beitrag geleistet, dass mehrere Tausend Arbeitsplätze erhalten geblieben sind.
2. Leistbare Verluste statt erwarteter Ertrag
Der Markt für Unternehmensnachfolgen bewegte sich in den letzten zehn Jahren stark. Zwei Grossbanken traten mit viel Kapital und grossen Werbekampagnen auf den Markt und kauften einen Mitbewerber. Zu dieser Zeit bekam ich unser drittes Kind. Ich arbeitete weiter, um alles sofort wieder zu reinvestieren und irgendwie in diesem Tumult zu bestehen. Doch so plötzlich, wie die Grossbanken aufgetreten waren, so unverhofft zogen sie ihre Marktpräsenz wieder zurück. Sei es, weil die erwarteten Erträge ausblieben oder interne Umstrukturierungen stattfanden.
Ich war unschlüssig, wie dies zu interpretieren war. So machte ich das, was ich konnte: weiterarbeiten. Mit viel Aufwand, aber wenig Kapital, neuen Ideen und viel Guerilla-Marketing: So investierte ich 2018 etwa in den «Nachfolgebus»[1], der seither erfolgreich durch die Schweiz tourt und interessierten Unternehmenskäufern und -verkäufern Gelegenheit bietet, sich mit Experten zu ihrem Unternehmen und einem anstehenden Firmenverkauf auszutauschen. Ohne Vorkenntnisse, aber mit Nächten voller Youtube-Tutorials schnitt ich zudem einen Trailer und dann einen Film, der uns unerwartete Reichweite verschaffte. Mittlerweile verfügen wir über umfangreiche Datenbanken und Algorithmen, um «Stille Suchen[2]» und «Erhaltungsverkäufe[3]» zu begleiten. Jährlich publizieren wir das «Nachfolge-Magazin», in dem wir unter anderem Geschichten von Unternehmen erzählen, die vor genau 100 Jahren im Handelsregister eingetragen wurden. Denn nachhaltiges Unternehmertum überdauert ein Leben.
3. Partnerschaften statt Konkurrenz
Mitten in dieser turbulenten Zeit fragte mich eine Kollegin an, gemeinsam mit ihr die Nachfolge einer weiteren Firma anzutreten. Ich kannte die Firma vom Hörensagen: Getdiversity. Das Unternehmen war 2007 gegründet worden und hatte sich seither mit der Vermittlung von Frauen in Verwaltungsräte einen Namen gemacht. Das Thema interessierte mich brennend.
Obwohl meine Tage mit meiner bestehenden unternehmerischen Tätigkeit bereits ausgefüllt waren, stellte ich mir während unseres Gesprächs genau eine Frage: «Bereue ich es, wenn ich es nicht mache?» Nach 20 Minuten sagte ich zu Esther-Mirjam de Boer: «Ja, lass uns das machen.» Zwei Monate später hatten wir den Vorvertrag unterzeichnet, und ich habe es seither keine Sekunde bereut, diesen Zufall genutzt zu haben. Ich wusste, egal wie unterschiedlich Esther und ich in unseren Persönlichkeiten sind, so werden uns die Liebe und die Leidenschaft zum Unternehmertum, zur Diversität und zu unseren gemeinsamen Visionen immer verbinden und antreiben.
4. Mittelorientierung statt Zielorientierung
Als wir 2016 Getdiversity übernahmen, stellten wir fest, dass wir beide über dieselbe Profiling-Ausbildung verfügten. Basierend auf diesem Wissen, entwickelten wir einen neuen Prozess, bei dem alle verzerrenden Elemente und Aspekte in der Vermittlung von Kandidatinnen und Kandidaten für die Besetzung von Verwaltungsrats- und Geschäftsleitungspositionen verschwinden: die «Digital Blind Audition». Die Rekrutierenden wissen dabei nicht, ob die Person hinter einem vorgelegten Kandidatenprofil männlich, weiblich, alt, jung etc. ist. So werden ausschliesslich die Persönlichkeit und die Qualifikationen auf die Unternehmensstrategie abgeglichen. Denn wer will nicht einfach die passendste Person in seinem Verwaltungsrat – unabhängig davon, ob es eine Frau oder ein Mann ist?
Qualifizierte Frauen, das wissen wir aus unseren umfangreichen Datenbanken, gibt es mehr als genug. Eine Liste mit 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männern zu erstellen, ist immer möglich. Dennoch hält sich hartnäckig die Falschannahme, dass man nicht genügend fachkundige Kandidatinnen finden könne.[4]
Mit Getdiversity sind wir in kurzer Zeit stark gewachsen und konnten das Unternehmen massiv ausbauen. Insbesondere in die Technologie haben wir von Anfang an viel investiert, um den Markt zu verstehen und zu erfassen. Das dokumentiert unser Diversity Report 2020[5], in dem wir die erste Vollerhebung über alle Schweizer Aktiengesellschaften mit mehr als 50 Mitarbeitern gemacht haben. Die Realität ist: 67 Prozent dieser Gesellschaften haben 0 Prozent Diversität im Verwaltungsrat – und verpassen so enorm viel an Inspiration und Perspektiven.
Traue ich es mir zu?
Immer und immer wieder die Balance zu finden zwischen Sicherheit, Amortisation und Investition, ist nicht einfach. Es bleibt auch eine strategische und emotionale Herausforderung. Was ist möglich, und was traue ich mir zu? Diese emotionale Herausforderung ist die besondere Knacknuss für uns Unternehmerinnen. Trauen wir es uns wirklich zu? Vergessen wir nicht, dass wir die erste Generation Frauen sind, die ohne Einwilligung des Ehegatten arbeiten darf, denn die entsprechende gesetzliche Bestimmung wurde erst 1976 aufgehoben. Erst seit 1991 dürfen wir ein Konto führen ohne Einwilligung des Mannes.
Auch wenn in den vergangenen Jahren konstant 25 Prozent der Firmengründungen in der Schweiz von Frauen gemacht wurden[6] und Frauen zu 23 Prozent in Geschäftsleitungen und in der Eigentümerschaft vertreten sind, führen Frauen nur 10 Prozent der KMU[7]. Es kommt also nicht von ungefähr, dass unsere Rollenbilder und Emotionen noch nicht ganz auf dem Stand unserer Möglichkeiten sind.
Darum mein Tipp an alle angehenden Unternehmerinnen: Wenn du aus tiefstem Herzen unternehmerisch denkst und handelst, dann weisst du, dass jede Veränderung eine Chance birgt. Die Frage ist, was du daraus machst. Du weisst, dass jeder Tag 24 Stunden hat, und wenn es schon eine Grenzkostenabwägung zur verbrachten Zeit mit deinen Kindern ist, dann mach das, was für dich Sinn macht, was du gerne machst, was dich antreibt. Denn als Unternehmerin wirst du schrecklich viel davon machen. Ergreif die Chancen, die sich eröffnen, und bilde Allianzen, Freundschaften und Partnerschaften, die dich weiterbringen. Beende die Beziehungen, die dir Energie rauben. Denn beim Effectuation-Ansatz gibt es kein Richtig oder Falsch, es gibt nur Unternehmen oder Unterlassen. Und wenn du eine Unternehmerin bist, dann verstehst du das genau. Es gibt immer einen Weg – nämlich genau deinen. Die Erfolgsaussichten von unternehmerischen Vorhaben sind nicht kalkulierbar. Das waren sie nie. Also hör auf, dir nichts zuzutrauen, du kannst es eh nur bedingt beeinflussen. Das Unerwartete ist aber eine Quelle – unsere Quelle der Inspiration. Nutze sie und hilf damit der Schweiz aus dieser Krise.
- www.nachfolgebus.ch []
- Bei einer stillen Suche werden Käufer oder Verkäufer direkt angesprochen, das entsprechende Unternehmen, das im Verkauf ist, wird nie öffentlich ausgeschrieben. Der Verkauf sowie die Vertragsverhandlungen laufen also im Stillen ab. []
- Ein Erhaltungsverkauf zeichnet sich dadurch aus, dass ein Unternehmen zeitnah und meist mit tiefer Bewertung verkauft werden muss. []
- Wie der Diversity Report 2020 zeigt, brauchte es nur gerade 0,18 Prozent aller Frauen in der Schweiz, um die Verwaltungsräte aller Aktiengesellschaften mit mehr als 50 Mitarbeitern in der Schweiz mit einem 30-prozentigen Frauenanteil zu auszustatten. []
- Siehe Diversityreport.ch. []
- Gemäss dem Institut für Jungunternehmen. Siehe hier. []
- Vgl. Credit Suisse (2016). Unternehmensnachfolge in der Praxis, Herausforderung Generationenwechsel. []
Zitiervorschlag: Kaufmann, Carla (2020). Geschäftsfrau: Logik in unsicheren Zeiten. Die Volkswirtschaft, 23. Dezember.