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«Grenzgänger sind für die Schweiz unverzichtbar»

In einigen Kantonen machen Grenzgänger mehr als ein Viertel der Arbeitskräfte aus. Weshalb die grenzüberschreitende Beschäftigung immer weniger auf die Konjunkturentwicklung reagiert, erklärt der Neuenburger Professor Olivier Crevoisier im Interview.
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«Es findet eine doppelte Stigmatisierung der Grenzgänger statt»: Wirtschaftsprofessor Olivier Crevoisier in seinem Büro in Neuenburg. (Bild: David Marchon)

Herr Crevoisier, Sie sind Professor an der Universität Neuenburg. Wie läuft es dort derzeit mit dem Unterricht?

Die Situation ist schwierig. Das andauernde Sitzen am Computer ermüdet viele. Den Studierenden fehlt zudem die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Diese soziale Dimension der Lehre und des Studiums darf man nicht unterschätzen. Manche Studierenden klinken sich aus den Onlinekursen aus, was mich ziemlich beunruhigt. Vielleicht verfolgen sie die Unterrichtseinheiten aber auch einfach zeitversetzt. Klar ist: Die Stundenpläne und die Begegnungsorte haben einiges von ihrer strukturgebenden Funktion eingebüsst.

Finden sich unter Ihren Studierenden auch Grenzgänger?

In den vielen Jahren meiner Tätigkeit an der Universität Neuenburg habe ich in der Region keine Studierenden mit Grenzgängerstatus kennen gelernt. In Genf oder Basel ist ihre Zahl wahrscheinlich höher, weil es in diesen Agglomerationen eine entsprechende Tradition gibt.

Die Zahl der Grenzgängerbeschäftigten in der Schweiz steigt seit 1999 stetig. Heute zählt die Schweiz rund 340’000 Grenzgänger. Was sind die Gründe dafür?

Erstens schafft die Schweizer Wirtschaft nach wie vor Arbeitsplätze. Zweitens hat der Franken seit Ende der 1970er-Jahre kontinuierlich an Wert gewonnen. Dadurch steigen insgesamt auch die Löhne im internationalen Vergleich, woraus die Kaufkraftunterschiede zwischen der Schweiz und ihren Nachbarländern resultieren. Ausserdem ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz im Vergleich zum benachbarten Ausland relativ niedrig, wobei die Grenzregionen in dieser Hinsicht anfälliger sind.

Die grenzüberschreitende Beschäftigung reagiert tendenziell immer weniger auf die Konjunkturentwicklung, wie eine von der Universität Neuenburg durchgeführte Analyse zeigt. Wie lässt sich das erklären?

Vor 25 bis 30 Jahren arbeiteten Grenzgänger hauptsächlich in der Exportindustrie, wobei die einheimischen Arbeitskräfte prioritär behandelt wurden. Seitdem ist eine starke Diversifizierung des Grenzgängerprofils zu beobachten. Mittlerweile sind in zahlreichen Sektoren immer mehr Frauen und qualifizierte Arbeitskräfte tätig. Die Grenzgänger sind somit nicht mehr nur in einem bestimmten Arbeitsmarktsegment aktiv, sondern werden zunehmend wie einheimische Arbeitskräfte eingesetzt. Deswegen sind sie nicht mehr so anfällig für konjunkturelle Schwankungen.

Grenzgänger werden zunehmend wie einheimische Arbeitskräfte eingesetzt

 

Kritiker sagen, Grenzgänger nähmen den Einheimischen die Arbeitsplätze weg oder übten  Druck auf die Löhne aus. Stimmt das?

Zur Grenzgängerbeschäftigung gibt es zwei Thesen. Laut der ersten These ergänzen sich die einheimischen Arbeitskräfte und die Grenzgänger. Letztere sind demnach eher in konjunkturabhängigen Sektoren oder in Berufen tätig, die Schweizer nicht ausüben wollen. In der Vergangenheit traf diese Sichtweise zu. Es gab eine unterschiedliche rechtliche Behandlung sowie eine Konzentration von Grenzgängern in bestimmten Tätigkeitsbereichen. Auch heute würden manche Firmen im Tessin oder im Jurabogen ohne die Grenzgänger nicht überleben – beispielsweise im Textilbereich.

Und die andere These?

Sie besagt, dass sich Grenzgänger und einheimische Arbeitskräfte immer stärker ähneln und somit in Konkurrenz zueinanderstehen. Die Unterscheidung zwischen Grenzgängern und einheimischen Arbeitskräften verblasst laut dieser These zunehmend. Die Präsenz der Grenzgänger bringt im Übrigen einige Vorteile mit sich – allen voran ein Wachstum, das ohne Grenzgängerbeschäftigung nicht möglich wäre. Es gibt also für die einheimische Bevölkerung indirekt auch positive Auswirkungen.

Sind die Sorgen also unbegründet?

Die Grenzgänger sind jünger, mobiler und immer besser ausgebildet und stehen daher tatsächlich zunehmend mit den einheimischen Arbeitskräften im Wettbewerb. Einige Faktoren führen aber nach wie vor zur Diskriminierung von Grenzgängern auf dem Arbeitsmarkt. In Umfragen sagen Grenzgänger, ihre Arbeitsplätze seien weniger stabil und man setze sie als Ergänzungskräfte ein. Meines Wissens gibt es aber keine Untersuchungen, die diese Sonderstellung belegen.

Was hat sich für die Grenzgänger seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 verändert?

Diese institutionelle Entscheidung ist Teil eines globalen Phänomens: In den Neunziger- und Nullerjahren nahm die Mobilität der Arbeitnehmenden grundsätzlich zu. Die Personenfreizügigkeit eröffnete den Grenzgängern nun zusätzliche Wege, um am Arbeitsmarkt zu partizipieren. Der Marktzugang wurde einfacher, und Grenzgänger konnten jetzt auch als Selbstständigerwerbende oder über Arbeitsvermittlungen in der Schweiz arbeiten. Darüber hinaus brachte die Freizügigkeit Verbesserungen insbesondere bei der Anerkennung ihrer Rechte im Bereich der Sozialversicherungen mit sich.

Welche Vorteile gab es im Sozialversicherungsbereich?

Grenzgänger profitieren beispielsweise von den Bestimmungen zur Kurzarbeit. Das hat sich gerade während der Corona-Krise als wichtig erwiesen. Ausserdem können sie sich bei einem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum melden.

Wie haben sich diese Änderungen in den Grenzregionen ausgewirkt?

Es ist zu einer Diversifikation gekommen: Die Zahl der Grenzgänger hat vor allem in Dienstleistungsbranchen wie dem Gesundheitswesen, dem Handel und der Gastronomie zugenommen. Vor 25 Jahren war die Hälfte der Grenzgänger noch in der Exportindustrie tätig. Heute ist es nur noch ein Drittel – bei insgesamt viel höheren Zahlen. Diese gleichmässigere Durchdringung des Arbeitsmarkts in Regionen wie Genf und dem Tessin hat der Wirtschaft zu allgemeinem Wachstum verholfen.

Im Tessin machen Grenzgänger fast ein Drittel aller Erwerbspersonen aus und im Kanton Genf ein Viertel. Sind Grenzgänger für die Schweiz unverzichtbar?

Grenzgänger sind tatsächlich für die Schweiz unverzichtbar. Im Zuge der Grenzöffnung, der Integration der Schweiz in Europa und einer allgemeinen Zunahme der Mobilität von Arbeitskräften hat sich der Schweizer Arbeitsmarkt erweitert. Er reicht mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus und umfasst auch die grenznahen Gebiete im Ausland.

Der Schweizer Arbeitsmarkt reicht über die Landesgrenzen hinaus

 

Welche Regionen hängen wirtschaftlich besonders stark von den Grenzgängern ab?

Besonders stark betroffen sind die Westschweiz und das Tessin. In der Deutschschweiz ist das Phänomen – mit Ausnahme von Basel – schwächer ausgeprägt. Einerseits ist dort der Anteil an grenzfernen Regionen grösser, andererseits sind die Einkommensunterschiede zwischen Süddeutschland und der Schweiz geringer, weshalb der Zustrom auf den Arbeitsmarkt kleiner ausfällt.

Welchen Herausforderungen müssen sich die benachbarten schweizerischen und ausländischen Grenzgebiete gemeinsam stellen?

Die Koordination bleibt schwierig. Nur schon eine grenzüberschreitende öffentliche Nahverkehrslinie zu betreiben, erweist sich als extrem kompliziert, wie das Beispiel der Bahnstrecke Genf–Annemasse zeigt. Dort konnte man sich nicht auf ein und dasselbe Rollmaterial einigen. Daher verkehren auf der Strecke nun französische und schweizerische Züge, was die Betriebskosten erhöht.

Woher rühren diese Probleme?

Werden Vereinbarungen geschlossen, können in einem der beiden Länder Änderungen eintreten, welche die getroffenen Regelungen infrage stellen. Nehmen wir den Flughafen Basel als Beispiel: Obwohl schon alles geregelt schien, wollte die französische Regierung die Vereinbarungen abändern. Ausserdem führt die Wechselkursentwicklung regelmässig dazu, dass wirtschaftliche Berechnungen und geplante politische Massnahmen revidiert werden müssen.

Heisst das, dass die Grenzregionen auf die Grenzgängerströme kaum einen Einfluss haben?

Genau. Einen grossen Einfluss haben strukturelle Faktoren, welche sich der Kontrolle der lokalen Akteure entziehen. Trotzdem wirken sie sich lokal stark aus. So bekommen die Grenzregionen beispielsweise eine Frankenaufwertung oder eine allgemeine Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarktes geballt zu spüren.

Gibt es auch Grenzgänger aus der Schweiz, die im Ausland arbeiten?

Ja, ungefähr 30’000 Personen – das entspricht weniger als einem Zehntel der Grenzgänger, die zur Arbeit in die Schweiz pendeln. Schweizer Pendler werden dabei gleich zweifach bestraft – erstens durch das Lohnniveau und zweitens durch die Lebenshaltungskosten. Ohne hierzu über genauere Informationen zu verfügen, habe ich aber den Eindruck, dass die meisten dieser Personen grössere Distanzen zurücklegen. Dass es sich also zum Beispiel um Beschäftigte handelt, die in Paris arbeiten, offiziell aber im Einklang mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen an ihrem Schweizer Wohnsitz festhalten.

Im grenznahen Ausland sind Immobilien tendenziell günstiger. Gibt es viele Schweizer, die von dort aus in die Schweiz arbeiten kommen?

Da gibt es grosse regionale Unterschiede. Im Grossraum Genf etwa lassen sich aus der Schweiz stammende Beschäftigte schon seit Langem in französischen Grenzgebiet nieder. Ein Grund sind sicher die tieferen Lebenshaltungskosten und die grössere Verfügbarkeit von Immobilien. Eine Rolle spielt aber auch die urbane Kontinuität Genfs, die über die Grenze hinausgeht. Im Jurabogen ist die Situation anders. In einer Untersuchung haben wir herausgefunden, dass sich dort nur wenige Personen in Frankreich niederlassen und dort Immobilienbesitz erwerben. Meist besitzt zudem mindestens ein Haushaltsmitglied den französischen Pass.

Grenzgänger, die in der Schweiz arbeiten, haben dank der guten Löhne und des niedrigeren Preisniveaus in den Nachbarländern eine hohe Kaufkraft. Gibt es auch eine Kehrseite der Medaille?

Als Grenzgänger im Ausland zu arbeiten, ist schwierig. Die mit der Mobilität verbundene Belastung wird regelmässig unterschätzt. Langfristig erzeugt sie monetäre, psychologische und physische Kosten. Die Grenzgänger leiden – zusammen mit der lokalen Bevölkerung – am meisten unter den verstopften Strassen. Ausserdem findet eine doppelte Stigmatisierung statt: Diesseits der Grenze wirft man ihnen vor, den Inländern die Arbeit wegzunehmen und keinen Beitrag zur schweizerischen Gesellschaft zu leisten. Und jenseits der Grenze heisst es, sie trieben die Preise im Immobiliensektor und im Einzelhandel in die Höhe und beteiligten sich aus Zeitmangel nicht am lokalen Leben.

Die mit der Mobilität verbundene Belastung wird regelmässig unterschätzt

 

Sie haben den Immobilienmarkt im französisch-schweizerischen Jurabogen untersucht. Wie lauten Ihre Schlussfolgerungen?

Entlang der Grenze – teilweise auf 1000 Metern über Meer – hat sich ein urbanisierter Landstrich mit imposanten Wohn- und Gewerbegebieten entwickelt. So ist das Geschäftsquartier der französischen Stadt Pontarlier, die lediglich 17’000 Einwohner zählt, auf eine Agglomeration von 120’000 Einwohnern ausgelegt. Im Immobiliensektor ist Wohneigentum auf der französischen Seite der Grenze nach wie vor verfügbar, während die Höhe der Mieten mit jener in der Schweiz vergleichbar ist. Der Mietmarkt ist relativ angespannt. Das kommt daher, dass Menschen aus weiter entfernten Regionen Frankreichs zunächst eine Wohnung in der Nähe zur Schweiz mieten, bevor sie sich in der Schweiz niederlassen oder im französischen Grenzgebiet Wohneigentum erwerben.

Welche Rolle spielen Anti-Grenzgänger-Kampagnen, wie sie beispielsweise vom Mouvement Citoyens Genevois geführt werden?

Diese Bewegungen erhöhen die Spannungen. Sie weisen aber auf bestehende, nicht zu leugnende Probleme wie Staus oder den zunehmenden Wettbewerb am Arbeitsmarkt hin. An diesen Bewegungen stört mich jedoch, dass sie häufig die Präsenz der Grenzgänger insgesamt anprangern. Sie lasten die Probleme dieser nicht wahlberechtigten Gruppe an, statt die Probleme anzugehen. Dabei kann man sehr wohl nach Lösungen suchen, ohne die Grenzgänger zu stigmatisieren. Es gibt Instrumente, um die Spannungen abzubauen. Doch diese werden zu selten eingesetzt.

Welche Instrumente meinen Sie?

Ich meine damit Gesamtarbeitsverträge, die nicht für alle Unternehmen bindend sind. In Genf werden sie zwar grösstenteils respektiert, in Neuenburg aber bereits weniger. Und im Jura wendet nur eine Minderheit der Firmen einen Gesamtarbeitsvertrag an. Natürlich ist das eine politische Ermessenssache.

Heisst das, dass die Politik nicht ausreichend reagiert?

Diese strukturellen Probleme sind nicht leicht zu lösen. So kann man zum Beispiel den Strassenverkehr nicht einfach durch den öffentlichen Personenverkehr ersetzen, um die Stauproblematik zu beheben. Denn die Region jenseits der Grenze ist grösstenteils nur spärlich besiedelt. Ausserdem würde der Bau einer Eisenbahnlinie Jahrzehnte dauern. Wir müssen also Mischlösungen finden. Die Grenzgängerproblematik existiert seit rund 40 Jahren. Die Probleme zu lösen, braucht daher Zeit.

Zitiervorschlag: Nussbaum, Thomas; Tesar, Nicole (2021). «Grenzgänger sind für die Schweiz unverzichtbar». Die Volkswirtschaft, 25. Februar.

Olivier Crevoisier

Der 57-jährige Olivier Crevoisier ist seit 2009 Professor für Territorialwirtschaft am Soziologischen Institut der Universität Neuenburg. Er hat sich auf die Untersuchung der regionalen und urbanen Wirtschaftsentwicklung, der innovativen Industriebereiche und der Arbeitskräftemobilität spezialisiert. Seine Maturität erwarb er 1982 im jurassischen Porrentruy. Danach studierte er an der Universität Neuenburg, an der Universität Louvain-la-Neuve in Belgien und an der London School of Economics. 1993 schloss er sein Doktorat in Volkswirtschaft ab.