Suche

Abo

Die Nähe zur Lombardei bietet für das Tessin Chancen, setzt aber den kantonalen Arbeitsmarkt unter Druck.
Christian Vitta, Staatsrat und Vorsteher des Finanz- und Wirtschaftsdepartements des Kantons Tessin, Bellinzona

Standpunkt

In der Lombardei, die an die Schweiz grenzt, leben über 10 Millionen Menschen. Im Jahr 2019 zählte die italienische Region 4,5 Millionen Erwerbstätige und fast 270’000 Arbeitslose. Diese Gegebenheiten beeinflussen die Wirtschaft des Tessins mit seinen 234’000 Erwerbstätigen  – anders gesagt, fast die Zahl der Arbeitslosen auf der anderen Seite der Grenze – massgeblich. Somit befindet sich das Tessin in einer für die Schweiz einzigartigen Situation.

Wer sich das Ausmass dieses «Epizentrums» vor Augen hält – es erstreckt sich auf der italienischen Seite der Grenze über einen Umkreis von rund hundert Kilometern –, begreift die Dynamiken und die Rolle der Grenzgängerarbeit im Tessin. Mit rund 70’000 Personen, das entspricht fast 30 Prozent der Erwerbstätigen im Kanton im Jahr 2019, verzeichnete der Kanton den höchsten Anteil an Grenzgängern aller Grossregionen der Schweiz. Natürlich vermag die geografische Lage allein das Grenzgängerphänomen nicht zu erklären, das die Tessiner Wirtschaft seit je prägt. Zu einem starken Anstieg der ausländischen Pendler seit der Jahrtausendwende haben auch das Lohngefälle und die nach der Einführung der Personenfreizügigkeit enger verflochtenen Arbeitsmärkte beigetragen.

Bei dieser Entwicklung der Grenzgängerbeschäftigung lassen sich zwei Trends beobachten. Erstens steigt die Bedeutung der Dienstleistungen: Zwischen 2010 und 2020 betrug die Zunahme der Grenzgänger im Dienstleistungssektor 66 Prozent – während sie im Industriesektor mit einem Plus von 11 Prozent relativ moderat ausfiel. Zweitens stieg das Qualifikationsniveau: Bei der Personengruppe mit höherer Ausbildung nahm der Anteil der Grenzgänger zu, auch wenn diese bei den tieferen Bildungsniveaus nach wie vor stärker vertreten sind.

Lohndumping bekämpfen

Insgesamt machen Grenzgänger einen wesentlichen Teil der Tessiner Wirtschaft aus. Parallel zu diesen Entwicklungen stieg jedoch der Druck auf dem Arbeitsmarkt – was sich etwa in Form von Lohndumping äussert. Der Kanton Tessin versucht hier Gegensteuer zu geben, indem er die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit aktiv einsetzt. So hat er beispielsweise 21 sogenannte Normalarbeitsverträge mit obligatorischen Mindestlöhnen erlassen. Zum Vergleich: In der übrigen Schweiz gibt es insgesamt nur 7 Normalarbeitsverträge. Dies ist das Ergebnis intensiver Kontrollen, von denen 2019 im Tessin rund 26 Prozent der Schweizer Arbeitgeber (in den Sektoren ohne für allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge) betroffen waren, gegenüber einem nationalen Durchschnitt von 5 Prozent.

Die spezielle Situation im Kanton Tessin erfordert es, die Lage aufmerksam zu beobachten und zu steuern. Nur so lassen sich die Risiken und Chancen in Einklang bringen.

Zitiervorschlag: Christian Vitta (2021). Standpunkt: Spezialfall Tessin. Die Volkswirtschaft, 02. März.