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Blick über den Atlantik: Momentaufnahme des US-Föderalismus

Die USA dienten der Schweiz einst als Vorbild bei der Gründung des Bundesstaates. Die politische Polarisierung in den USA führte jedoch dazu, dass die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten noch grösser sind – mit deutlichen Folgen in der Pandemie.
In den USA ist das Nichttragen einer Maske beinahe ein politisches Bekenntnis. Protest gegen Lockdown im kalifornischen Huntington Beach. (Bild: Keystone)

Trotz unterschiedlicher Grössenverhältnisse lohnt es sich, punkto Föderalismus einen vergleichenden Blick aus der Schweiz in die USA zu werfen. Bekanntlich inspirierte das Modell aus Übersee die Schweiz 1848 bei der Schaffung des Bundesstaates, weshalb noch heute der Begriff der «Sister Republics» zirkuliert. Wie die Alten Orte der Schweiz fanden sich auch die Gründerstaaten der USA zunächst als souveräne Einheiten in einem losen Staatenbund zusammen. Angesichts der Schwächen dieses Formats vollzogen sie aber innerhalb eines Jahrzehnts den Übergang zu einem bundesstaatlichen Modell. Die seit dem Jahr 1789 geltende US-Verfassung ist das Ergebnis einer mitunter heftig geführten Debatte zwischen Befürwortern einer starken Zentralgewalt und Verfechtern einer möglichst weitgehenden einzelstaatlichen Autonomie.

Als Kompromissformel wurde im zehnten Zusatzartikel zur Verfassung festgelegt, dass die Befugnisse, welche nicht durch die Staaten an die Bundesebene delegiert oder diesen verboten sind, den Staaten beziehungsweise dem Volk vorbehalten bleiben. Da die Verfassung die Trennlinien zwischen den unterschiedlichen Regierungsebenen in vielen Bereichen nicht scharf zog, spielten die Gerichte in der Folge eine wichtige Rolle bei der Zuteilung der Kompetenzen. Mit der erheblichen Stärkung der bundesstaatlichen Kompetenzen im Zeichen des New Deal der Dreissigerjahre machte dieses duale Föderalismusmodell einem kooperativen Ansatz Platz. Dabei wirkten die verschiedenen Regierungsebenen gemeinsam zur Umsetzung der neuen Politiken, wobei auch die lokale Ebene an Bedeutung gewann. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schliesslich erfolgte eine gewisse Rückgabe von Befugnissen und Autonomie an die Einzelstaaten.

Aktuelle Herausforderungen


Zu den aktuellen Herausforderungen des Föderalismus in den USA gehört die Vertretung im Kongress. In der grossen Kammer, dem Repräsentantenhaus, wird die Verteilung der 435 Sitze ständig der Einwohnerzahl der Einzelstaaten angepasst, und Entscheide werden mit einfacher Mehrheit gefällt. Dadurch ist die grosse Kammer vergleichsweise repräsentativ und beschlussfähig. Eine Schwäche stellt jedoch die parteipolitisch motivierte Anpassung von Wahlbezirken innerhalb der Staaten, bekannt als «Gerrymandering», dar. Diese Manipulation von Wahlkreisgrenzen erlaubt es der jeweiligen Mehrheitspartei in vielen Staaten, ihren Anteil an Sitzen zu maximieren. Ein reines Verhältniswahlrecht schlösse Gerrymandering aus.

In der kleinen Kammer, dem Senat, ist die Lage komplexer. Ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszahl werden jedem Einzelstaat zwei Sitze zugeteilt. Damit will man natürlich die Stimme der bevölkerungsarmen Staaten stärken. Mit zunehmender Verschiebung von Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren wirft das Modell jedoch Fragen bezüglich der Repräsentativität auf: In der aktuellen 50:50-Zusammensetzung vertritt die demokratische «Hälfte» der Abgeordneten 41 Millionen Menschen mehr als die republikanische «Hälfte». Die demografische Entwicklung wird das Ungleichgewicht noch verschärfen: Im Jahr 2040 werden gemäss demografischen Projektionen 35 Bundesstaaten mit insgesamt 30 Prozent der US-Bevölkerung 70 Sitze im Senat haben, während die verbleibenden 15 Bundesstaaten mit total 70 Prozent der US-Bevölkerung nur über 30 Sitze verfügen.

Dieses Ungleichgewicht bedeutet, dass der politische Schwerpunkt des Senats zunehmend konservativer ist als jener der US-Wahlbevölkerung. Die Arbeitsweise des Senats verstärkt diese Wirkung zusätzlich, zumal die derzeitigen Regeln eine qualifizierte Mehrheit von 60 Stimmen erfordern, um ein Gesetz zu verabschieden. Ob es um Klimaschutz, Waffenkontrolle oder Reformen des Strafrechtssystems und der Einwanderungsbestimmungen geht: Es werden dadurch an sich mehrheitsfähige politische Initiativen blockiert, weil der Kongress nicht handlungsfähig ist.

Demokratische Lösungen sind schwer zu finden, sogar wenn es um die Demokratie selber geht. Nach der Rekordwahlbeteiligung im Jahr 2020 bemühen sich konservativ dominierte staatliche Legislativen im Hinblick auf die Wahlen von 2022 (Kongress) und 2024 (Präsidentschaft, Kongress) zielstrebig, die Wahlbeteiligung durch zahlreiche legislative technische Massnahmen zu senken, was tendenziell die Republikanische Partei begünstigt. Über 250 solcher Initiativen wurden in mehr als 40 Staaten lanciert, wobei einige bereits durch beide Kammern der jeweiligen staatlichen Legislativen vorankommen. Derweil hat das von den Demokraten dominierte US-Repräsentantenhaus auf Bundesebene eine Gesetzesvorlage zur landesweiten umfassenden Gewährleistung des Wahlrechts verabschiedet, welche aber im Senat aufgrund der oben dargelegten Sachverhalte einen schweren Stand hat.

Die Debatte über die angemessene Rolle der Bundesregierung ist langwierig und voller Widersprüche. Der Umweltschutz beispielsweise wird auf Bundesebene hochgehalten, aber viele der Staaten und Gemeinden, die geschützt werden sollen, betrachten die Verfügung über natürliche Ressourcen und die Jagd als Vorrechte und sind misstrauisch gegenüber einer Überregulierung durch den Bund. Andererseits erlauben einige Staaten aufgrund fehlender Bundesgesetze den Konsum von Marihuanaprodukten, während andere Staaten in der gleichen Frage weiterhin jahrzehntealte repressive und zumindest indirekt diskriminierende Ansätze verfolgen.

Bewährungsprobe Pandemiebekämpfung


Auf dem Höhepunkt der zweiten Pandemiewelle gab es in den USA mehr Todesfälle pro Tag zu beklagen als bei den Terroranschlägen von 9/11. Kumulativ wurden höhere Verluste als in den beiden Weltkriegen und dem Vietnamkrieg zusammen verzeichnet. Relativ zur Bevölkerung war die Pandemie bisher über 35 Prozent tödlicher als in der Schweiz. Vieles haben die USA zwar richtig gemacht, aber wie in anderen Ländern wurde die Pandemie zu Beginn unterschätzt, und man hat so wertvolle Zeit verloren.

Speziell war die parteipolitisch geprägte Umsetzung der angeordneten Massnahmen; das Tragen einer Schutzmaske galt beinahe als politische Aussage. Auch die Auswirkungen der Pandemie waren je nach politischer Couleur der Bundesstaaten unterschiedlich (siehe Abbildung). So verzeichnet der am stärksten betroffene Bundesstaat North Dakota bisher eine kumulierte Infektionsrate von über 13 Prozent, während sich dieselbe Rate im Bundesstaat Vermont auf weniger als 3 Prozent beläuft. Auch wenn es einige Abweichungen von diesem Muster gibt, weisen die demokratisch orientierten Bundesstaaten im Nordosten und an der Westküste tendenziell tiefere Infektionsraten auf als die republikanisch ausgerichteten Staaten im Zentrum und im Süden des Landes, in denen oft weniger einschneidende Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie getroffen wurden.

Covid-19-Erkrankungen in US-Bundesstaaten (Stand: 18.4.2021)




Quelle: Centers for Disease Control and Prevention / 270towin.com / Die Volkswirtschaft

Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Zentralregierung und den Staaten in der Gesundheitspolitik ist vielschichtig und verflochten. Stark vereinfacht gesagt, kümmert sich die Bundesregierung primär um Politikgestaltung, Finanzierung und den Schutz vor der Verbreitung der Pandemie von ausserhalb der US-Landesgrenzen sowie zwischen den Bundesstaaten. Letztere sind, in Koordination mit den sogenannten Counties (ähnlich den Schweizer Gemeinden), für die Eindämmung der Pandemie innerhalb der Einzelstaaten verantwortlich. Die getroffenen Massnahmen der über 2000 bundesstaatlichen, kommunalen, territorialen und Stammes-Gesundheitsämter fielen denn auch regional unterschiedlich aus.

Dies ist teilweise nachvollziehbar. Schliesslich sind die Bedürfnisse und Möglichkeiten in den abgelegenen Gebieten Alaskas nicht die gleichen wie in New York. Die Heterogenität der USA zeigt sich ebenso in der Grösse der Bundesstaaten, der vorhandenen Infrastruktur, dem Einkommensgefälle oder der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung. Die föderalistische Struktur der USA scheint also wie geschaffen, um auf diese Heterogenität und die verschiedenen Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung einzugehen. Die verschiedenen Ansätze der einzelnen Regionen lieferten auch einen nützlichen Fundus von Informationen für die Epidemiologen.

Aber natürlich kümmert sich eine Pandemie weder um Landes- noch um Bundesstaatsgrenzen. Hängt das kollektive Schicksal von Geschwindigkeit, Effizienz und Einigkeit ab, zeigen sich die Schwächen des Föderalismus schonungslos: Der immense Koordinationsaufwand scheiterte teilweise an fehlenden Ressourcen der überlasteten Gesundheitsämter. Die nicht standardisierte Datenerhebung erschwerte die Erarbeitung einer gesamtheitlichen Lageübersicht. Ausbleibende Koordination der Zentralregierung führte zu einem Bieter- und Verteilkampf um medizinisches Material zwischen den Bundesstaaten. Und schliesslich optimierte die Bevölkerung die Nutzung der verbliebenen Freiheiten, indem sie schlicht kommunale Grenzen überschritt, wodurch sich das Virus weiterverbreitete. So gut Föderalismus in vielerlei Hinsicht funktioniert – in dieser Krise wurden damit vermutlich auch vermeidbare Todesfälle verursacht.

Zitiervorschlag: Anthony Abate, Christoph Bühler, Christoph Sommer, (2021). Blick über den Atlantik: Momentaufnahme des US-Föderalismus. Die Volkswirtschaft, 30. April.