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Nachhaltigkeitsziele mit einer ökonomischen Brille betrachtet

Für eine nachhaltige Entwicklung setzt sich der Bund immer öfter quantitative Ziele. Wie können diese aus wirtschaftspolitischer Sicht geprüft und verbessert werden? Ein neues Beurteilungsraster hilft.
Wie quantifiziert man Nachhaltigkeit? Autobahnüberdachung in Zürich-Schwamendingen. (Bild: Keystone)

Reduktion des Pro-Kopf-Energieverbrauchs um 54 Prozent bis 2050, netto null Verbrauch von Boden ebenfalls bis 2050 und Halbierung der vermeidbaren Lebensmittelverschwendung bis 2030: Im Bereich Nachhaltigkeit setzt sich der Bund in Strategien und Aktionsplänen immer häufiger quantitative Ziele. Wie sind diese aus volkswirtschaftlicher Sicht zu beurteilen?

Diese Analyse ist eine besondere Herausforderung, denn beispielsweise ist aus heutiger Sicht oft schwierig abschätzbar, wie die volkswirtschaftlichen Auswirkungen aussehen werden und ob ein heute gesetztes Ziel auch in 20 Jahren noch angemessen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass bei vielen Zielvorgaben zum Zeitpunkt der ersten Beurteilung noch keine oder nur wenige konkrete Umsetzungsmassnahmen bekannt sind. Fragen zur Zweckmässigkeit und zur Realisierbarkeit eines Ziels müssen daher oftmals rein anhand der Zielvorgabe und ohne genaue Informationen zu deren Umsetzung beurteilt werden.

Auch inhaltlich stellen sich bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitszielen verschiedene komplexe Fragen. Eine Zielvorgabe bewegt sich oftmals in einem Spannungsfeld der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, Soziales und Wirtschaft. Aus ökologischer Sicht gibt es beispielsweise gute Gründe, den Bodenverbrauch, wie in der Bodenstrategie des Bundesrates vorgesehen, merklich zu senken. Für eine ganzheitliche Beurteilung müssen aber auch mögliche wirtschaftliche und soziale Nebenwirkungen wie etwa höhere Preise für Wohnraum berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden.

Beurteilungsraster hilft


Angesichts der zahlreichen Herausforderungen haben wir im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) ein Beurteilungsraster entwickelt, das eine umfassende Beurteilung quantitativer Nachhaltigkeitsziele erlaubt. Der Fokus liegt auf einer Analyse aus wirtschaftspolitischer Optik, ohne dabei wichtige ökologische und soziale Gesichtspunkte zu vernachlässigen. In Frageform aufgebaut, erlaubt das Raster eine Analyse quantitativer Ziele aus verschiedenen Blickwinkeln, von A wie Ambitionslevel über M wie Monitoring bis Z wie Zielindikator (vgl. Kasten). Ergänzend enthält es zahlreiche erläuternde Hinweise – etwa was einen guten Zielindikator ausmacht und welche Elemente ein umfassendes Monitoring enthalten sollte.

Mit diesem Ansatz ergänzt das Raster die bestehende Palette an Analyseinstrumenten des Bundes wie die Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) und die volkswirtschaftliche Beurteilung von Umweltmassnahmen (Vobu) des Bundesamts für Umwelt (Bafu). Diese sind auf die Analyse konkreter Massnahmen ausgerichtet und eignen sich deshalb nur bedingt zur Beurteilung von Zielvorgaben. Dies gilt zum Teil auch für die Nachhaltigkeitsbeurteilung (NHB) des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE).

Der richtige Massstab


Wie ist das Raster inhaltlich strukturiert? Zu Beginn der Analyse gilt es, sich Klarheit über das tiefer liegende Problem zu verschaffen, welches eine Strategie oder ein Aktionsplan adressieren möchte. Bei der erwähnten Energiestrategie 2050 wäre dies nicht primär der zu hohe Endenergieverbrauch, sondern die Notwendigkeit, den CO2-Ausstoss der Energieproduktion zu reduzieren und gleichzeitig die Versorgungssicherheit auch ohne Atomkraftwerke zu gewährleisten. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass die Analyse des Handlungsbedarfs zu stark auf Symptome des Problems fokussiert, statt das tiefer liegende Problem zielgerichtet anzugehen.

Wichtig ist auch der Zielindikator – also die Messgrösse, anhand derer das Ambitionslevel festgelegt und die Umsetzung verfolgt wird (zum Beispiel der Pro-Kopf-Energieverbrauch). Der Indikator sollte dabei – sofern möglich – die Grösse des tiefer liegenden Problems widerspiegeln. Der Grund: Bei Zeithorizonten von 30 und mehr Jahren kann sich die Grösse dieses Problems durch exogene Einflüsse wie technologische Neuerungen oder veränderte gesellschaftliche Präferenzen stark verändern. Man stelle sich ein Ziel zur Reduktion des Energieverbrauchs vor: Neue saubere Technologien oder erneuerbare Energiequellen könnten ein solches teilweise obsolet machen. Bildet der Zielindikator solche Veränderungen im Problemdruck nicht genügend ab, drohen teure Fehl- oder Überregulierungen.

Zu ehrgeizig?


Weiter bringt einen das Raster dazu, sich Gedanken über folgende Fragestellung zu machen: Ist das Ziel zu ambitioniert, oder wäre es umgekehrt auch aus volkswirtschaftlicher Sicht sinnvoll, frühzeitig ehrgeizige Ziele zu setzen, um notwendige Anpassungen rasch auszulösen? Diese Fragen lassen sich zwar auch mit dem Beurteilungsraster oftmals nur grob und anhand von Szenarien beurteilen, insbesondere wenn die Massnahmen noch nicht konkretisiert und der Zeithorizont weit entfernt ist. Das Raster trägt aber dazu bei, die ökonomisch wichtigen Fragen zu stellen.

Weiter gilt es zu berücksichtigen, wie das Monitoring der Zielerreichung geplant ist und wer über die Konsequenzen entscheidet, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Auch zu diesen institutionellen Aspekten enthält das Raster verschiedene Fragen und Hinweise. Besonders wichtig ist dabei die tatsächliche Verbindlichkeit des Ziels: Handelt es sich nur um eine Vision oder um eine bindende Vorgabe? Je grösser die potenziellen negativen oder gar irreversiblen Schäden sind – etwa beim Klimaschutz oder wenn Arten aussterben –, desto sinnvoller erscheinen verbindliche Monitoring- und Korrekturmechanismen. Aus wirtschaftspolitischer Optik sollte aber ein Monitoring auch mögliche negative Nebenwirkungen und Vollzugskosten erfassen. Nur so kann der Erfolg des Ziels fundiert eingeschätzt und bei Bedarf der Massnahmenmix angepasst werden.

Trotz allem kein Allheilmittel


Obwohl das Raster im Auftrag des Seco entwickelt wurde, steht es auch anderen Bundesstellen sowie Kantonen und Gemeinden zur Verfügung. Beispielsweise kann das Raster eingesetzt werden, wenn im Rahmen einer Konsultation oder einer Vernehmlassung eine Stellungnahme zu einem neuen Ziel abgegeben werden soll. Ebenso interessant dürfte der Einsatz des Rasters bei der Entwicklung neuer Ziele sein. Die enthaltenen Erläuterungen können wertvolle Hinweise für konsistente und wirtschaftspolitisch verträgliche Zielvorgaben liefern. So lassen sich etwaige Schwachstellen in der Zielkonzeption frühzeitig identifizieren und aufwendige nachträgliche Anpassungen vermeiden.

Trotz aller Vorteile ist das Raster kein Allheilmittel. Die Beurteilung von langfristigen Zielsetzungen bleibt komplex, ist stark vom Kontext und den verfügbaren Informationen abhängig und wird immer mit grossen Unsicherheiten zu kämpfen haben. Ob eine Zielsetzung beziehungsweise die hierfür nötigen Massnahmen angemessen und die Auswirkungen auf andere Nachhaltigkeitsdimensionen gerechtfertigt sind, ist selbst bei einer guten Datenlage meist auch eine Frage der Einschätzung und der politischen Gewichtung verschiedener öffentlicher Interessen. Diese themenübergreifende Einschätzung nimmt einem das Raster nicht ab, es erlaubt aber eine ökonomisch strukturierte Herangehensweise.


Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Roman Elbel, Felix Walter, (2021). Nachhaltigkeitsziele mit einer ökonomischen Brille betrachtet. Die Volkswirtschaft, 30. April.

Die elf Schlüsselfragen des Beurteilungsrasters

  1. Adressiert das Ziel das eigentliche, tiefer liegende Problem?
  2. Liegt ein Markt- oder ein Staatsversagen vor (zum Beispiel Externalität)?
  3. Ist staatliches Handeln auf Bundesebene gerechtfertigt und zweckmässig?
  4. Misst der Zielindikator das Richtige, um die Grösse des eigentlichen Problems und den Effekt von Massnahmen darzustellen?
  5. Kann das Ziel voraussichtlich mit geringen unerwünschten Nebenwirkungen (zum Beispiel Kosten für Wirtschaft oder Staat) erreicht werden?
  6. Sind das Ambitionslevel und der dafür vorgesehene Zeithorizont angesichts der Problemlage und der abschätzbaren negativen Nebenwirkungen angemessen?
  7. Falls das Ziel differenziert ist (beispielsweise nach Sektoren, Branchen, Regionen): Ist diese Differenzierung sinnvoll, und sind die Teilziele angemessen?
  8. Umfasst das Monitoring auch Nebenwirkungen und Vollzugskosten, insbesondere diejenigen für die Wirtschaft (direkt/indirekt, kurz- und langfristig)?
  9. Ist die politische und rechtliche Verbindlichkeit des Ziels angesichts der Problemlage gerechtfertigt?
  10. Wirken die Massnahmen, soweit bekannt oder abschätzbar, effizient und zielgerichtet auf das eigentliche Problem? Gäbe es effizientere Alternativen?
  11. Sind die bekannten bzw. abschätzbaren Kosten der Massnahmen für den Staat (Bund, Kantone, Gemeinden) sowie weitere betroffene Akteure (Haushalte, Unternehmen etc.) gerechtfertigt und tragbar?