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Die Menschen ins Zentrum stellen

Die Menschen ins Zentrum stellen

«Um zu verhindern, dass sozioökonomische Ungleichheiten und schlechte Arbeitsbedingungen langfristig Narben in der Wirtschaft und der Gesellschaft hinterlassen, müssen Politikerinnen und Politiker Gegensteuer geben.» (Bild: Keystone)

Die Corona-Krise hinterlässt in der Arbeitswelt Spuren. Laut Schätzungen kam es 2020 zu einem pandemiebedingten Rückgang der Arbeitsstunden um 8,8 Prozent. Zum Vergleich: Während der Finanzkrise von 2008/2009 blieb die Stundenzahl mehr oder weniger stabil. Die Trageweite der aktuellen Krise ist somit viel grösser als damals: Viele Beschäftigte haben ihre Stelle oder gar ihre Existenzgrundlage verloren, einige haben sich vollständig aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen, andere waren zwar weiterhin als «erwerbstätig» gemeldet, haben jedoch wenig oder gar nicht gearbeitet.

Für das zweite Halbjahr 2021 wird nun ein Aufschwung erwartet – dieser dürfte jedoch fragil bleiben und weltweit uneinheitlich verlaufen. Prognosen zufolge wird das Beschäftigungswachstum in den meisten Ländern den massiven Einbruch während der Covid-19-Krise nicht kompensieren können.

Besonders heftig trifft die Krise junge Erwachsene, Frauen, gering qualifizierte Arbeitskräfte und informell Beschäftigte – alles Bevölkerungsgruppen, die bereits zuvor benachteiligt waren. Wenn viele von ihnen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, sinkt langfristig auch das Produktivitätswachstum, namentlich aufgrund der erschwerten Umschulungsmöglichkeiten und des Gesundheitszustands der Betroffenen. Falls diese Effekte anhalten, reduzieren sie das Wachstumspotenzial weltweit. Eine Verschärfung der sozioökonomischen Ungleichheiten gefährdet daher die Umsetzung der UNO-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung und droht die bisher erzielten Fortschritte zunichtezumachen.

Die Wunden heilen


Um zu verhindern, dass sozioökonomische Ungleichheiten und schlechte Arbeitsbedingungen langfristig Narben in der Wirtschaft und der Gesellschaft hinterlassen, müssen Politikerinnen und Politiker Gegensteuer geben. Sie müssen versuchen, eine starke Erholung der Wirtschaft in Gang zu setzen, die gezielt auf die Betroffenen ausgerichtet ist. Lediglich auf das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu fokussieren, genügt hingegen nicht, um den auf dem Arbeitsmarkt angerichteten Schaden wieder auszugleichen.

In der aktuellen Aufschwungsphase muss die Politik daher den Arbeitsmarkt genau beobachten, um eine gemeinsame, nachhaltige Antwort zu finden. Bei ihren wirtschaftlichen Impulsmassnahmen sollten Regierungen die Menschen ins Zentrum stellen. Nur so können sie möglichst breit abgestützte Verbesserungen bei der Arbeitsproduktivität, beim Einkommen und bei der sozialen Absicherung herbeiführen.

Dies gilt auch für die internationale Zusammenarbeit: Bei der Entwicklungshilfe sollte Impulsmassnahmen, die die Arbeitnehmenden ins Zentrum stellen, Priorität eingeräumt werden. Bei allen Massnahmen gilt es dabei zu gewährleisten, dass nach oben zeigende Beschäftigungsindikatoren mit mehr menschenwürdiger Arbeit, mehr Einkommen und mehr sozialer Sicherheit einhergehen – für alle Arbeitnehmenden und alle Haushalte überall auf der Welt.

Zitiervorschlag: Richard Samans (2021). Die Menschen ins Zentrum stellen. Die Volkswirtschaft, 28. Juni.