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Gesamtarbeitsverträge trotzen dem Strukturwandel

In der Schweiz ist rund jeder siebte Arbeitnehmende Mitglied in einer Gewerkschaft. Doch trotz sinkender Mitgliederzahl und voranschreitendem Strukturwandel ist die Zahl der Beschäftigten, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen, relativ stabil.
Bauarbeiter protestieren 2018 in Lausanne. Der Anteil Gewerkschaftsmitglieder ist in der Schweiz seit den Neunzigerjahren rückläufig. (Bild: Keystone)

Eine Eigenheit der Schweiz ist, dass Mindestlöhne nicht vom Staat, sondern von den Sozialpartnern im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) festgelegt werden. Indem Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam die Lohn- und Arbeitsbedingungen auf Firmen- oder Branchenebene regeln, ermöglichen sie eine zurückhaltende staatliche Regulierung des Arbeitsmarktes. GAV haben in der Schweiz eine lange Tradition und sind seit 1911 im Obligationenrecht verankert.[1] Die ersten sozialpartnerschaftlichen Vereinbarungen entstanden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts.

Mit der Verlagerung der Beschäftigung vom industriellen in den dienstleistungsgeprägten Sektor, der Globalisierung und der Digitalisierung, der Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen und dem seit Jahren rückläufigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad stellten sich dem GAV zahlreiche Herausforderungen. Mit den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wies der Gesetzgeber dem GAV ab 2004 eine zentrale Rolle zu und stärkte sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen. Doch welche Bedeutung haben GAV heute?

Ein Blick auf eine Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS)[2] zeigt, dass wir heute weniger GAV haben als noch in den Neunzigerjahren. Diese regeln jedoch die Lohn- und Arbeitsbedingungen von vergleichsweise mehr Beschäftigten als früher. Schweizweit gab es im März 2018 581 GAV. Davon enthalten 566 GAV sogenannte normative Bestimmungen wie etwa Mindestlohnvorschriften (siehe Kasten).

Die GAV mit normativen Bestimmungen regeln die Lohn- und Arbeitsbedingungen von insgesamt knapp zwei Millionen Arbeitnehmenden. War in den Neunzigerjahren mehr als die Hälfte der GAV-Beschäftigten in Branchen wie Baugewerbe und Industrie tätig, in welchen die Gewerkschaften traditionell gut organisiert sind, arbeiten heute über 70 Prozent im Dienstleistungssektor: ein Hinweis dafür, dass die «Institution GAV» den Strukturwandel gut meistert.

Stabiler GAV-Abdeckungsgrad

Die arbeitsmarktliche Bedeutung von GAV kann anhand des Abdeckungsgrades ermittelt werden. Zur Schätzung eines solchen Indikators sind die Arbeitnehmenden, die einem GAV unterstellt sind, in Relation zu setzen zu den potenziell «unterstellbaren» Beschäftigten.[3] Gemäss Berechnungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) beträgt der Abdeckungsgrad für das Jahr 2018 50 Prozent. Mit einer leicht anderen Schätzmethode publizierte die OECD für dasselbe Jahr einen Abdeckungsgrad von 45 Prozent (siehe Abbildung 1).[4]

Nach einem Rückgang in den Neunzigerjahren deuten damit beide Zeitreihen auf eine Stabilisierung des GAV-Abdeckungsgrades hin. Kollektive Lohnverhandlungen im Rahmen von GAV haben somit nicht an Bedeutung eingebüsst und konnten mit dem Beschäftigungswachstum mithalten.

Abb. 1: GAV-Abdeckungsgrad in der Schweiz (1991 bis 2018)

Anmerkung: Abdeckungsgrad = GAV-unterstellte Arbeitnehmende in Relation zu den «unterstellbaren» Beschäftigten. Der Anstieg im Jahr 2012 ist insbesondere auf das Inkrafttreten des GAV Personalverleih mit rund 365’000 Unterstellten zurückzuführen.

Quelle:  OECD, AIAS ICTWSS database / BFS, Erhebung der Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz (EGS), Erwerbstätigenstatistik (ETS) / Eigene Berechnungen Seco / Die Volkswirtschaft

Gewerkschaften: Sinkende Mitgliederzahl

Der stabile GAV-Abdeckungsgrad fällt im internationalen Vergleich auf. Von allen Ländern mit einem ähnlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad (< 25%) haben kollektive Lohnverhandlungen in der Schweiz am wenigsten an Bedeutung eingebüsst – eine Ausnahme ist Frankreich (siehe Abbildung 2). Tatsächlich ist der Rückgang des Abdeckungsgrads in der Schweiz seit den Neunzigerjahren verhältnismässig klein ausgefallen (–3,1 Prozentpunkte).[5] Und das trotz eines vergleichsweise tiefen und abnehmenden gewerkschaftlichen Organisationsgrads. Gemäss der OECD sind in der Schweiz rund 15 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft. In Deutschland beispielsweise hat sich der GAV-Abdeckungsgrad um 25 Prozentpunkte reduziert bei einem im Vergleich zur Schweiz nur leicht stärkeren Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads.[6]

Aktuellste Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen gewerkschaftlichem Organisationsgrad und GAV-Abdeckungsgrad komplexer ist.[7] Entscheidend ist u. a. die Ebene: Der Abdeckungsgrad ist in Ländern hoch und stabil, in denen die GAV auf Branchenebene, wie in der Schweiz, oder national ausgehandelt werden. Tief ist der Abdeckungsgrad in Ländern mit vorwiegend Firmen-GAV.

Allgemeinverbindlicherklärung stützt

Der GAV-Abdeckungsgrad ist in vielen Ländern höher als der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Für die Schweiz kann dieser «überschüssige» GAV-Abdeckungsgrad, welcher die Differenz zwischen Abdeckungs- und Organisationsgrad misst, auf rund 35 Prozentpunkte beziffert werden. Im OECD-Durchschnitt liegt dieser Wert nur halb so hoch. Ein überschüssiger Abdeckungsgrad kann verschiedene Ursachen haben. Ein Grund ist, dass die Unternehmen die verhandelten Lohn- und Arbeitsbedingungen auf die gesamte Belegschaft anwenden und nicht nur auf die Gewerkschaftsmitglieder im eigenen Unternehmen. Andererseits kann auch die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV einen überschüssigen GAV-Abdeckungsgrad miterklären. Denn per Gesetz kommen die Lohn- und Arbeitsbedingungen auf alle Beschäftigten und Arbeitgeber einer Branche zur Anwendung – unabhängig davon, ob sie Mitglied der vertragsabschliessenden Gewerkschaft oder des Arbeitgeberverbands sind.

Abb. 2: Entwicklung des GAV-Abdeckungsgrads und des gewerkschaftlichen Organisationsgrads seit den Neunzigerjahren, in Prozentpunkten

Anmerkung: Vergleich des Mittelwerts der Jahre 1990 bis 1995 mit dem Mittelwert für die Jahre 2017 bis 2020.

Quelle: OECD, AIAS ICTWSS database / Die Volkswirtschaft

In der Schweiz haben in den letzten 20 Jahren die einem für allgemeinverbindlich erklärten GAV unterstellten Beschäftigten zugenommen. Unter bestimmten Voraussetzungen können die Bundes- oder Kantonsbehörden auf Antrag der Sozialpartner den Geltungsbereich eines GAV auf die ganze Branche ausdehnen.[8] Rund die Hälfte aller Beschäftigten mit GAV ist heute einem allgemeinverbindlichen Branchen-GAV unterstellt. 2003 lag dieser Wert noch bei einem Viertel. Ohne die Allgemeinverbindlicherklärung würde der Abdeckungsgrad in der Schweiz halb so hoch ausfallen und eine rückläufige Tendenz aufweisen (siehe Abbildung 1). Die Anzahl allgemeinverbindlicher GAV auf Bundes- und Kantonsebene hat sich seit den Neunzigerjahren vervierfacht: von etwas weniger als 20 auf 80 im Jahr 2020.

Stärkere Arbeitsmarktregulierung?

Allein aufgrund dieser Zunahme von einer stärkeren Regulierung des Schweizer Arbeitsmarkts insgesamt zu sprechen, wäre jedoch verfehlt. Denn knapp die Hälfte aller allgemeinverbindlichen GAV (Stand 2020) ist auf einen einzigen Kanton beschränkt. Zudem bleibt die Allgemeinverbindlicherklärung eine sehr branchenspezifische Angelegenheit: Die Hälfte aller allgemeinverbindlichen GAV und knapp ein Drittel aller Unterstellten sind dem Baugewerbe zuzuordnen. Kommt hinzu, dass gewisse allgemeinverbindliche GAV einen sehr beschränkten Geltungsbereich haben. Der GAV für den Gleisbau etwa regelt die Lohn- und Arbeitsbedingungen von schweizweit 1300 Personen und umfasst weniger als 20 Arbeitgeber.

Schliesslich enthält jeder sechste allgemeinverbindliche GAV keine normativen Bestimmungen wie Mindestlöhne, sondern regelt die sozialpartnerschaftliche Finanzierung von Vorruhestandsmodellen oder von Aus- und Weiterbildungsfonds. Interessant sind auch die Angaben der Sozialpartner zur Anzahl Aussenseiterarbeitgeber, für welche ein GAV erst mit der Allgemeinverbindlicherklärung zur Anwendung kommt. Im Jahr 2020 betraf dies schätzungsweise 7 Prozent aller Firmen in der Schweiz.

Auch in Bezug auf die flankierenden Massnahmen (FlaM) ist die blosse Zunahme der allgemeinverbindlichen GAV seit 2003 nicht sehr aussagekräftig. Denn von den 41 GAV von nationaler Bedeutung, die 2020 in Kraft waren, war die Hälfte bereits vor Einführung der FlaM allgemeinverbindlich. Zudem enthielt rund ein Drittel der neu hinzugekommenen allgemeinverbindlichen GAV keine normativen Bestimmungen. Und schliesslich zeigt eine detaillierte Betrachtung, dass 80 Prozent der im Jahr 2020 unterstellten Arbeitgeber einem GAV unterstellt waren, der bereits vor Einführung der FlaM allgemeinverbindlich war. Dies deshalb, weil unter den neu hinzugekommenen, allgemeinverbindlichen GAV auch kleine Branchenverträge mit weniger als 100 Arbeitgebern sind. Auf Arbeitnehmerseite waren im Jahr 2020 43 Prozent einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellt, welcher bereits vor 2004 in Kraft war. Ohne den GAV Personalverleih liegt dieser Anteil sogar bei zwei Dritteln.

Ausgewogene Lohnverteilung

In den letzten 20 Jahren hat der GAV als Lohnbildungsmechanismus in der Schweiz kaum an Bedeutung verloren und dürfte somit zur relativ ausgewogenen Lohnverteilung in der Schweiz beigetragen haben. Dies ist angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre nicht selbstverständlich. Die Gründe für diese auch im internationalen Vergleich auffallende Stabilität sind vielfältig.

Ausschlaggebend dürften nicht zuletzt die Bestrebungen der Sozialpartner gewesen sein, ausserhalb ihrer angestammten Branchen Mitglieder zu organisieren und GAV abzuschliessen. Auch die seit den Fünfzigerjahren gesetzlich verankerte Allgemeinverbindlicherklärung durch den Staat hat zur Stabilität beigetragen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation angesichts einer möglichen weiteren Abnahme des gewerkschaftlichen Organisationsgrads entwickelt. Repräsentative und dialogfähige Sozialpartner werden auch in Zukunft die wichtigste Voraussetzung sein für kollektive Lohnverhandlungen.

  1. Art. 356 bis 358. []
  2. Siehe Bundesamt für Statistik (2018). []
  3. Mitarbeitende Betriebsinhaber oder Familienmitglieder sind ebenso wie Kader und Aushilfen in aller Regel vom Geltungsbereich eines GAV ausgenommen. []
  4. Die OECD stützt sich dabei auf die OECD/AIAS-ICTWSS-Datenbank. Die Unterschiede zur Seco-Schätzung beruhen hauptsächlich auf den Annahmen bzgl. «unterstellbarer» Beschäftigung. []
  5. Die Schweiz ist gemäss der OECD das einzige Land, wo der Abdeckungsgrad seit den Nullerjahren sogar zugenommen hat. []
  6. Gemäss OECD liegt der GAV-Abdeckungsgrad in Deutschland am aktuellen Rand bei rund 55%. 17% der Beschäftigten sind Mitglied einer Gewerkschaft. []
  7. Siehe Schnabel (2020). []
  8. Siehe Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. []

Literaturverzeichnis
  • Bundesamt für Statistik (2018). Erhebung über die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz (EGS).
  • OECD (2019). Negotiating Our Way Up: Collective Bargaining in a Changing World of Work. OECD Publishing, Paris.
  • Schnabel (2020). IZA DP No. 13465: Union Membership and Collective Bargaining: Trends and Determinants (Juli).

Bibliographie
  • Bundesamt für Statistik (2018). Erhebung über die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz (EGS).
  • OECD (2019). Negotiating Our Way Up: Collective Bargaining in a Changing World of Work. OECD Publishing, Paris.
  • Schnabel (2020). IZA DP No. 13465: Union Membership and Collective Bargaining: Trends and Determinants (Juli).

Zitiervorschlag: Daniel Baumberger (2021). Gesamtarbeitsverträge trotzen dem Strukturwandel. Die Volkswirtschaft, 02. Juli.

Gesamtarbeitsverträge mit und ohne normative Bestimmungen

Es wird zwischen GAV mit und ohne normative Bestimmungen unterschieden. GAV ohne normative Bestimmungen regeln z. B. die Beitragszahlungen der Vertragspartner an eine Ausgleichskasse zur Finanzierung eines flexiblen Altersrücktritts oder zur Finanzierung eines branchenspezifischen Fonds für berufliche Aus- und Weiterbildung. Diese GAV laufen jeweils parallel zum eigentlichen Branchen-GAV mit normativen Bestimmungen zur minimalen Entlohnung, zur Arbeitszeit und zu weiteren wichtigen Komponenten des Einzelarbeitsvertrags. GAV zur Finanzierung von Vorruhestandsmodellen oder Aus- und Weiterbildungsfonds haben in den letzten 20 Jahren insbesondere im Baunebengewerbe zugenommen. Da mit solchen Regelwerken auf Branchenstufe «öffentliche Güter» zur Verfügung gestellt werden, müssen sich möglichst alle Marktteilnehmer daran beteiligen. Hier kommt dem Staat mit der Allgemeinverbindlicherklärung solcher Vereinbarungen eine zentrale Rolle zu.