Suche

Abo

Was einfach tönt, ist in der Realität komplex: Sogenannte Marktliberalisierungen haben zu einem Regulierungsdickicht geführt.
Schriftgrösse
100%

Daniel Lampart, Sekretariatsleiter und Chefökonom, Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB), Bern

Manchmal ist die Politik surreal: Das Parlament als oberster Regulator will ein Gesetz, damit es in der Schweiz weniger Regulierungen gibt. Ironischerweise haben sogenannte Deregulierungs- und Liberalisierungsprojekte in grossem Masse zu mehr Regulierung geführt. Das zeigt die Erfahrung der letzten 20 Jahre.

Beispielsweise hat die «Teilmarktöffnung» der Schweizer Stromversorgung eine regelrechte Regulierungsflut ausgelöst, die nur noch von Spezialisten überblickt wird. Vor dieser «Öffnung» gab es relativ wenige Gesetze – weil es gar nicht nötig war. Die Kantone und Gemeinden hatten ihre Betriebe. Und diese hatten einen einfachen Versorgungsauftrag. Mit der Teilmarktöffnung entstanden zuerst das Stromversorgungsgesetz (16 Seiten) und die Verordnung dazu (24 Seiten). Es entstand die Regulierungsbehörde Elcom mit eigenem Reglement (6 Seiten), welche wiederum viele hochspezifische Weisungen und andere Erlasse (rund 100 Seiten) verfasste.

Ähnliches gilt für die Bankenregulierung. Statt ein paar einfache, robuste Regulierungen einzuführen, haben die Wünsche der Banken nach Ausnahmen und Sonderregelungen ein unübersichtliches Regulierungsdickicht hervorgebracht, welches sich dann in der Finanzkrise von 2008 als nicht zielführend herausgestellt hat. Zwar haben die Lehren daraus zu gewissen Verbesserungen geführt, doch diese falsche Logik wurde nicht gebrochen.

Erschreckend ist auch die Zunahme von Reglementen und Erlassen in den Firmen. Allen voran im Finanzsektor. Die vermehrte Egokultur und Fixiertheit auf die eigene Karriere bei den Führungsverantwortlichen haben die Verantwortung fürs Kollektiv unterlaufen. Dazu haben auch die Bonussysteme beigetragen – sodass mittlerweile in Reglementen Verhaltensweisen geregelt werden, die eigentlich selbstverständlich sein sollten.

Kritische Grösse

Eine andere Baustelle ist der Föderalismus. Die regionalen Wirtschaftsräume verlaufen oft nicht entlang der jahrhundertealten Kantonsgrenzen. Dennoch kommen je nach Kanton häufig unterschiedliche Regeln zur Anwendung. Das kann leider auch wichtige Digitalisierungsschritte behindern. Oft braucht es eine gewisse Grösse, damit sich Investitionen in neue, leistungsfähige IT-Lösungen lohnen. Es ist aus diesem Grund alles andere als überraschend, dass die national tätige Unfallversicherung Suva in Bezug auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz eine Führungsrolle innehat.

Was bei der Regulierungskritik oft verschwiegen wird: Regulierungen haben wesentlich zum wirtschaftlichen Fortschritt beigetragen. Nur wenn es klare Regeln gibt, funktioniert die Wirtschaft. Und nur dann sind die Arbeitnehmenden vor Missbräuchen geschützt. Einfach weniger Regulierung zu fordern, ist daher zu billig. Die Erfahrung zeigt aber auch: Oft sind wenige, wirksame Regulierungen besser als ein unübersichtliches Flickwerk mit vielen Ausnahmen. Eine eingehende Analyse der Wirksamkeit von Regulierungen fehlt leider bis heute.

Zitiervorschlag: Lampart, Daniel (2021). «Liberalisierung» verursacht Regulierungswelle. Die Volkswirtschaft, 02. Juli.