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Wenn Stahlnetze sprechen lernen

Wie kann man ein rein mechanisches Produkt digitalisieren? Ein Hersteller von Sicherheitsnetzen gegen Steinschlag macht es vor und erschliesst dabei ein neues Geschäftsfeld.

Wenn Stahlnetze sprechen lernen

Ein Geobrugg-Mitarbeiter prüft Onlinedaten des Sensors «Geobrugg Guard» bei einer Barriere gegen Steinschlag in St. Gallen... (Bild: Geobrugg)

Wenn Sie schon im Berggebiet unterwegs waren, kennen Sie die grobmaschigen Stahldrahtnetze gegen Steinschlag bestimmt. Hergestellt werden diese in den meisten Fällen vom Thurgauer Unternehmen Geobrugg aus Romanshorn. Seit gut 70 Jahren produziert und vertreibt das Unternehmen diese Netze als Bestandteil von Barrieren gegen Naturgefahren wie Steinschlag und Hangrutsche als Bauzulieferer in über 50 Ländern. Geobrugg gehört zum Schweizer Konzern Brugg Group.

Die Kernkompetenzen von Geobrugg liegen dabei im Maschinenbau zur Herstellung von eigenen Hochsicherheitsnetzen und in der Anwendungstechnik mit eigenen Testanlagen wie etwa im sankt-gallischen Walenstadt. Zudem beschäftigt es lokale Vertriebsingenieure in über 30 Ländern.

Schlanke Produktion dank Daten


Das Unternehmen hat in den letzten zehn Jahren konsequent den Lean-Manufacturing-Ansatz umgesetzt. Dabei steht eine schlanke Produktion im Vordergrund, bei der die Verschwendung minimiert, die Kosten reduziert, die Prozessabläufe in der Wertschöpfungskette verkürzt und Fehler möglichst vermieden werden. Als Folge davon hat die Firma die Chancen der digitalen Transformation erkannt. Denn aus den rückgemeldeten Daten kann man auch ersehen, wo die Produktion noch schlanker werden kann. Doch wie lassen sich diese Chancen nutzen und umsetzen in einem Unternehmen mit einer langen Tradition von leistungsfähigen, aber nicht digitalen Produkten?

Um diese Fragestellung systematisch anzugehen, hat Geobrugg im Rahmen der Initiative «Industrie 2025»[1], die von den Branchenverbänden Swissmem, Asut und SwissT.net gegründet wurde, eine Digitalstrategie erarbeitet, welche in die Unternehmensstrategie eingebettet wurde. Dabei hat das Ostschweizer Unternehmen sowohl die internen Prozesse als auch die externen Kundeninteraktionen, die Produkte und daraus resultierende Geschäftsmodelle mit Mitarbeitenden aller Stufen unter die Lupe genommen.

Aus den Ergebnissen wurden fünf digitale Stossrichtungen definiert. Dazu zählen das Naturgefahren-Monitoring mit Spezialkameras und Radar, die Lancierung einer Plattform zur Interaktion mit den verschiedenen Anspruchsgruppen, durchgängige Prozesse in der Auftragsabwicklung («operational excellence» mit papierloser Fertigung), die Befähigung und kontinuierliche Schulung der Mitarbeitenden sowie die Initiative «Fernüberwachung von Schutzsystemen».

Mechanische Produkte lernen sprechen


Ein besonders gutes Beispiel, wie sich ein mechanisches Produkt sinnvoll mit digitalen Komponenten ergänzen lässt, ist die Fernüberwachung: Da sich Schutznetze mehrheitlich in Gefahrenbereichen und an nur schwer zugänglichen Orten befinden, sind wir davon ausgegangen, dass die Kunden ein Interesse daran haben, möglichst einfach den Zustand der Netze zu überwachen und diese gezielt zu überprüfen. Doch eine Umfrage bei Schlüsselkunden im Jahr 2016 war ernüchternd: Sie ergab, dass es zwar ein Bedürfnis, aber praktisch keine Zahlungsbereitschaft für eine solche sensorbasierte Lösung gibt.

Die Herausforderung bestand für die Entwickler somit darin, einen einfachen und kostengünstigen Sensor zu entwickeln, welcher in grossen Stückzahlen und möglichst einfach weltweit verteilt werden kann und mit den bereits bestehenden Systemen der Kunden kompatibel ist. Aus diesen Überlegungen ist der Sensor «Geobrugg Guard» hervorgegangen: ein smartes, handliches Gerät, das mit wenigen Handgriffen auf schon bestehende oder neue Schutznetze angebracht wird. Es sammelt und sendet ohne Sendestation Daten über den Zustand der Anlage. Die Daten werden dem Kunden sofort und übersichtlich im Web dargestellt.

Feedbacks verbessern das Produkt


Mittels Design-Thinking-Workshops im Jahr 2017 haben die Thurgauer Sicherheitsspezialisten die Anforderungen an den Sensor ermittelt: Dieser sollte neben Klimadaten und Einschlägen von Steinen auch die Lebensdauer der Netze und Barrieren erfassen können. Dazu haben wir in einem Kooperationsprojekt[2] mit dem Institut für Werkstoffsystemtechnik Thurgau der Hochschule Konstanz das Kernstück eines Sensors zur Messung des Korrosionsstroms in Stahldrähten entwickelt und patentieren lassen.

Bei der Umsetzung stellte man in den Entwicklungsabteilungen beider Partnerorganisationen schnell fest, dass für eine solche Entwicklung wenig bis gar kein Know-how vorhanden war. Deshalb wurde ein Netzwerk geknüpft aus externen Engineeringfirmen, Datenbankspezialisten, Monitoringexperten und Elektronikproduzenten.

Um möglichst weltweit senden zu können, vertrauen wir heute auf die bewährte 3G/4G-Technologie. Auch ein effizientes Batteriemanagement ist entscheidend, um eine unterhaltsfreie Lebensdauer von über fünf Jahren auch bei tiefen Temperaturen zu gewährleisten. Letztlich war erst die dritte Guard-Generation wirklich brauchbar. Dank früher Kundenfeedbacks wurde zum Beispiel festgestellt, dass alle aussenliegenden Kabel von Tieren angebissen wurden. Oder dass die Kunden auch das langsame Ansammeln von Felsen und Schutt in den Barrieren sowie den sich in den Netzen aufbauenden Druck von Schneemassen im Winter messen möchten. Inzwischen wird schon die 6. Generation des Guard ausgeliefert.

Neues Geschäftsfeld gefunden


Parallel zur Sensorentwicklung wurde das zugehörige Geschäftsmodell aufgebaut und mit den ersten Prototypen in Pilotmärkten erprobt. Interessanterweise waren einige dieser Erstkunden öffentliche Ämter aus aufstrebenden Ländern, die ihre Schutzverbauungen noch nicht erfasst haben und ihren Inspektions- und Unterhaltsprozess erst noch aufbauen müssen. Diese Aufträge vermittelten Geobrugg den direkten Kontakt zu den öffentlichen Ämtern. Allerdings verkauft Geobrugg ihnen nicht die smarten Endgeräte. Stattdessen bieten wir die erhobenen Daten (auch auf Konkurrenzsystemen) und die zugehörigen Informationen (mit Schnittstellen zu Kundenlösungen) als Dienstleistung an. Damit wird es für die Betreiber von Schutzsystemen möglich, diese gezielt zu inspizieren und zu warten. Die zunehmende Anzahl solcher öffentlich ausgeschriebener Aufträge zeigt, dass der Bereich Überwachung und Unterhaltsplanung von Infrastruktur stetig an Bedeutung gewinnt.

Bei der digitalen Transformation – der sogenannten Industrie 4.0 – geht es, wie der Name schon sagt, allerdings nicht darum, nur noch Dienstleistungen anzubieten und keine Industrieprodukte mehr herzustellen. Vielmehr ist es eine grosse Chance für den Werk- und Denkplatz Schweiz, weiterhin in vielen Nischenmärkten weltweit führend zu bleiben.

Deshalb sollte man die Digitalisierung nicht als Hype verteufeln und keine irrationale Angst vor Cyberrisiken haben. Stattdessen soll man solche teilweise berechtigten Gefahren ernst nehmen, eine sauber definierte digitale Strategie formulieren und diese dann Schritt für Schritt konsequent umsetzen. Die Bedeutung der Unternehmensführung ist dabei nicht zu unterschätzen. Sie muss vorangehen und die Mitarbeitenden auf die Reise mitnehmen. Wie bei allen Lean-Management-Anstrengungen gilt auch hier: Man soll nicht versuchen gleich viel zu machen mit weniger Personal, sondern mehr zu erreichen mit dem bestehenden Team!

  1. Mehr Informationen zur Initiative «Industrie 2025» im Artikel von Philip Hauri in diesem Schwerpunkt. []
  2. Das Projekt mit WITG wurde von Innosuisse, der Agentur für Innovationsförderung des Bundes, unterstützt. []

Zitiervorschlag: Andrea Roth (2021). Wenn Stahlnetze sprechen lernen. Die Volkswirtschaft, 26. Oktober.