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Digitalisierung erfordert flexible Berufsbildung

Ist die Berufsbildung dem digitalen Wandel gewachsen? In einem dynamischen Umfeld wie der Industrie 4.0. führt kein Weg am flexiblen, lebenslangen Lernen vorbei, wie das Beispiel der MEM-Industrie zeigt.
Basiskompetenzen wie Drehen, Bohren und Fräsen dürfen in der Ausbildung trotz Digitalisierung nicht vernachlässigt werden. Lernende an einer Werkzeugmaschine. (Bild: Keystone)

Technologische Entwicklungen werden oft durch die Industrie angetrieben. Entsprechend ist sie auch der Ort, wo diese neuen Technologien die stärksten Auswirkungen haben. So spielen sie etwa eine zentrale Rolle bei Effizienzsteigerungen in der Produktion, bei der Herstellung neuartiger Produkte, und sie können bereits bestehende Erzeugnisse mit neuen Funktionen versehen.

Da die verfügbaren Technologien immer vielfältiger und komplexer werden, wird es für Unternehmen zunehmend anspruchsvoller, das erforderliche Know-how sowie die benötigten Kompetenzen zu identifizieren. Folglich wird es für sie immer schwieriger, das neue technologische Potenzial gewinnbringend zu nutzen. Gleichzeitig bleiben in den Bereichen Fertigung und Materialien verschiedenste Technologien wie das Fräsen, das Giessen oder das Beschichten nach wie vor die Grundlage für die industrielle Wertschöpfung.

Start-up-Mentalität entwickeln


Seit 2016 führt der Branchenverband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) regelmässig Umfragen in der Branche durch. Das Ziel dahinter ist es, zu beobachten, wie die Unternehmen die Konzepte der Industrie 4.0 umsetzen. Zu Beginn der Erhebungen setzten die Unternehmen bei ihren Digitalisierungsvorhaben meist auf Effizienzsteigerungen. Mit Blick auf die Herausforderungen nach dem Frankenschock von 2015 ist das durchaus nachvollziehbar.

Inzwischen haben die Firmen aber erkannt, dass Anwendungsbereiche, die sich am Kundennutzen orientieren, ein noch grösseres Potenzial haben. So standen in der Umfrage aus dem Jahr 2020 Digitalisierungsprojekte zur Kundenzusammenarbeit und Dienstleistungen an vorderster Stelle. Dazu zählen etwa vorausschauende Wartung oder automatisierte Online-Offertkalkulationen. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, dass sich die Unternehmen teilweise nicht in dem Umfang entwickeln, wie dies ihr Anspruch ist. So werden beispielsweise die Mitarbeitenden im notwendigen kulturellen Wandel als zentral betrachtet – die Stellgrössen dazu, wie etwa die Entwicklung der digitalen Kompetenzen der Mitarbeitenden oder die organisatorischen Anpassungen, werden aber noch zu oft vernachlässigt. Es zeigt sich, dass die Firmen sich noch schwertun mit der Entwicklung einer eigenen Digitalstrategie oder eines internen Verständnisses für Digitalisierung. Diese Aspekte sind enorm wichtig, um den Mitarbeitenden aufzeigen zu können, wo die Reise des Unternehmens hingeht.

Der technologische Wandel führt dazu, dass Firmen gewissermassen den Spagat zwischen der traditionellen, industriellen und der neuen, digitalen Welt machen müssen. Das stellt die Unternehmensführung wie auch die gesamte Organisation vor Herausforderungen. Denn einerseits gilt es, das laufende Geschäft erfolgreich zu pflegen, andererseits wollen gleichzeitig neuartige Möglichkeiten erschlossen werden.

Das verlangt von etablierten Unternehmen Eigenschaften, die üblicherweise einem Start-up zugeschrieben werden: Mut, Neugierde, Offenheit für den Einstieg in neue Themen, Akzeptanz für Fehler und Bereitschaft, externes Know-how einzubinden. Nebst der Erweiterung des fachlichen Wissens erfordert dies zusätzliche methodische Kompetenzen der Mitarbeitenden und der Organisation sowie neue Modelle der internen und externen Zusammenarbeit. Mit anderen Worten: Der technologische Wandel allein genügt nicht – es braucht einen Kulturwandel im Unternehmen.

Unternehmerisches Handeln auf allen Stufen


Für die Mitarbeitenden bedeuten diese Entwicklungen, dass ihr fachliches Gebiet komplexer, vernetzter und dynamischer wird. Die mechanische Fertigung verschmilzt mit der digitalen Welt: Fachkompetenz muss ergänzt werden mit der Fähigkeit, Komplexität zu beherrschen und mit Unsicherheiten sowie neuen Möglichkeiten umzugehen. Kreativität ist gefragt, um in diesem anspruchsvollen Umfeld geeignete Lösungen und passende Werkzeuge zu identifizieren.

Neue Modelle der Zusammenarbeit in den Unternehmen verändern auch Führungskonzepte und die Rolle der Mitarbeitenden. Die Kommunikation in interdisziplinären Teams, ein konsequent auf den Kundennutzen ausgerichtetes Denken sowie unternehmerisches Handeln bis hin zum Umgang mit Risiken und Nachhaltigkeit werden zunehmend zu Kompetenzen und Aktivitäten, die alle Stufen im Industrieunternehmen prägen.

Berufsbilder im Wandel


Was bedeutet dies für die Berufsbildung? Dass der Berufsalltag sich wandelt, ist an sich weder neu noch überraschend. Seit Beginn der Industrialisierung haben Fertigungsmethoden, Kundenerwartungen und Geschäftsmodelle sich fortlaufend entwickelt und damit auch die Anforderungen an die Kompetenzen der Mitarbeitenden. Die Schweizer Berufsbildung ist auf diesen Wandel eingerichtet: Die Berufsprofile werden von ihren Trägerschaften regelmässig überprüft und angepasst. So entstehen immer wieder neue Berufe, während andere verschwinden oder miteinander verschmelzen.

Dennoch ist die gegenwärtige Dynamik des Wandels für die Berufsbildung eine Herausforderung. Um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten, müssen die Berufsprofile rasch und flexibel aktualisiert werden können. Allerdings ist das Schweizer Berufsbildungssystem im Kern auf Ausgleich und Kontinuität ausgelegt. Die gemeinsame Steuerung durch Bund, Kantone und Privatwirtschaft in der sogenannten Verbundpartnerschaft sorgt für Stabilität und breite Akzeptanz. Doch die geteilte Verantwortung und die zahlreichen involvierten Akteure machen die Entscheidungsprozesse gleichzeitig schwerfällig und langsam.

Umfassende Berufsreform


Als Organisation der Arbeitswelt (OdA) ist Swissmem eng in diese Prozesse eingebunden. Gemeinsam mit dem Branchenverband Swissmechanic ist Swissmem verantwortlich für acht technische Grundbildungen in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Industrie). Als Berufsträger ergreifen die beiden Verbände gemeinsam die Initiative, um bestehende Berufe zu reformieren oder neue zu entwickeln. Sie definieren die Bildungsinhalte, erstellen Prüfungsordnungen und erarbeiten neue Lehr- und Lernmedien. Gegenwärtig werden die acht technischen MEM-Berufe[1] im Rahmen der Berufsreform «Futuremem» überprüft und grundlegend überarbeitet. Ab 2024 werden die ersten Lernenden mit den neuen Ausbildungen starten.

Um zu ermitteln, welche Kompetenzen die Berufsleute von morgen mitbringen müssen, stützt die Trägerschaft sich auf Marktbefragungen, Zukunftswerkstätten, Metaanalysen und zahlreiche Arbeits- und Expertengruppen. Dabei werden von allen Seiten die unterschiedlichsten Erwartungen an die neuen Ausbildungen herangetragen. So zeigte etwa die Arbeitsmarkt- und Berufsfeldanalyse, dass grössere Betriebe tendenziell mehr Gewicht auf neue Technologien wie beispielsweise Virtual-Reality-Simulationen, Additive Fertigung oder Mikrotechnologie legen. Kleinere Betriebe priorisieren hingegen öfter den Umgang mit konventionellen Fertigungsmethoden. Auch machen zahlreiche Subbranchen eigene technologische und regulatorische Anforderungen geltend.

Steigende Anforderungen


Vielfältig sind auch die Erwartungen bezüglich der Form der Ausbildungen. Denn neben den Qualifikationsbedürfnissen der Unternehmen verändern sich ebenfalls die Bedürfnisse und Wertehaltungen der Gesellschaft. Flexible Arbeitsmodelle, der Wunsch nach orts- und zeitunabhängigem Lernen sowie neue methodisch-didaktische Konzepte verändern die Bildung ebenso wie der Einsatz neuer Technologien und Fertigungsmethoden.

Insgesamt steigen also die Anforderungen an die Ausbildung. Gleichzeitig dürfen die Basiskompetenzen (z.B. Schaltungen fertigen und in Betrieb nehmen, Teile messen und prüfen) nicht vernachlässigt werden. Ganz im Gegenteil: In einem dynamischen Umfeld ist eine solide technische Grundausbildung unerlässlich, damit die zukünftigen Berufsleute fähig sind, sich selbstständig und rasch in neue Themengebiete und Methoden einzuarbeiten. Zudem wird die Industrie auch in Zukunft nicht nur Fachleute für den 3-D-Druck, sondern ebenso für die konventionellen Fertigungsmethoden wie Drehen, Bohren und Fräsen benötigen.

Der Rucksack, der beim Start ins Berufsleben gefüllt werden muss, wird somit immer grösser und schwerer. Und er muss über die gesamte berufliche Laufbahn hinweg immer wieder nachgefüllt werden. Mit andern Worten: Nicht nur die Berufseinsteiger, sondern die Berufsleute aller Altersklassen müssen ihre Fähigkeiten, Kenntnisse und Kompetenzen im Sinne des lebenslangen Lernens fortlaufend aktualisieren und weiterentwickeln.

Eine flexiblere Bildung kann dies erleichtern. So können die Ausbildungen rasch an den technologischen Wandel angepasst werden. Sie können sich an den vorhandenen Kompetenzen sowie individuellen Stärken und Schwächen der Lernenden orientieren und gleichzeitig die unterschiedlichen Bedürfnisse der Ausbildungsbetriebe berücksichtigen. Gelingt dies, ist die Berufsbildung auch den kommenden Herausforderungen gut gewachsen.

  1. Polymechaniker/in EFZ, Konstrukteur/in EFZ, Automatiker/in EFZ, Elektroniker/in EFZ, Anlagen- und Apparatebauer/in EFZ, Automatikmonteur/in EFZ, Produktionsmechaniker/in EFZ und Mechanikpraktiker/in EBA. []

Zitiervorschlag: Sonja Studer, Robert Rudolph, (2021). Digitalisierung erfordert flexible Berufsbildung. Die Volkswirtschaft, 01. November.