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Nobelpreis: Natürliche Experimente machen Wirtschaftsforschung glaubwürdiger

Der diesjährige Nobelpreis ehrt drei Wissenschaftler, die mit der Erforschung von Experimenten in der realen Welt eine empirische Revolution in der Ökonomie eingeleitet haben. Alle drei Preisträger haben enge Beziehungen zur Schweiz.
Die Welle kubanischer Einwanderung, die im Jahr 1980 Miami erreichte, hat die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtert. Strassenfestival in Miami 2015. (Bild: Alamy)

Die Wirtschaftswissenschaften haben in den letzten rund 30 Jahren eine echte Revolution erlebt. Dank der zunehmenden Verbreitung grosser Datenbanken und immer leistungsfähigerer Computer hat sich eine früher stark theoretisch geprägte Disziplin in eine im Wesentlichen empirische Wissenschaft verwandelt, die an der Ermittlung von Regelmässigkeiten und deren Ursachen interessiert ist. Heute beruhen mehr als zwei Drittel der in diesem Bereich veröffentlichten Artikel auf einem methodischen Ansatz, der versucht, den kausalen Effekt einer Experimentalvariable (auch Treatmentvariable) auf die interessierende Ergebnisvariable zu eruieren.

Bis in die Neunzigerjahre arbeiteten Arbeitsökonomen mit national repräsentativen Datensätzen wie etwa dem Current Population Survey in den USA oder der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung in der Schweiz. Diese stellten eine Momentaufnahme der Welt dar, wie sie ist. Dabei versuchten die Forschenden, aus diesen Daten abzuleiten, was beispielsweise ein zusätzlicher Bildungsabschluss in Bezug auf das Einkommen bringt. Die Beweise wurden durch komplizierte ökonometrische Modelle erbracht, die im Wesentlichen versuchten, aus einer Korrelation eine Kausalität abzuleiten. Das zentrale Problem dieses Ansatzes ist die fehlende Glaubwürdigkeit, weil die Ceteris-Paribus-Annahme verletzt ist, da sich in realen Ökonomien immer sehr viele Dinge gleichzeitig ändern. Welche dieser vielen Änderungen für eine Veränderung beispielsweise des Lohns kausal verantwortlich ist, lässt sich mit dieser Methode daher nur sehr schwer sagen.

Card untersucht Migrationswelle

Mit seiner 1990 publizierten Studie «The Impact of the Mariel Boatlift on the Miami Labor Market»[1] setzte der kanadische Professor David Card, der heute an der University of California in Berkeley lehrt, einen neuen Standard. Er untersuchte den Zustrom von kubanischen Immigranten in die USA, nachdem die Regierung Castros im April 1980 angekündigt hatte, dass alle ausreisewilligen Kubaner das Land verlassen könnten. Mehr als 125’000 Kubaner emigrierten in der Folge, der überwiegende Teil liess sich im nahen Miami nieder.

Card betrachtete dieses Ereignis als «natürliches Experiment» (siehe Kasten) und verglich Miami mit anderen US-Städten, die keinem solchen Zustrom von Einwanderern ausgesetzt waren. Dieser Vergleich brachte ein überraschendes Ergebnis: Der Arbeitsmarkt von Miami konnte diesen enormen Zustrom von Arbeitskräften absorbieren, ohne die Arbeitsplätze der einheimischen Arbeitnehmer zu gefährden oder deren Löhne zu drücken. Bis dahin war man in den Wirtschaftswissenschaften davon ausgegangen, dass Einwanderung zu schlechteren Arbeitsbedingungen von Inländern führt.

Angrist und Imbens finden kausalen Effekt

Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte der israelisch-amerikanische Ökonom Joshua Angrist, der heute Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist, eine Studie mit einem sehr ähnlichen Ansatz. Mit der «Vietnam Draft Lottery» wurden während des Vietnamkriegs 1969 junge US-Amerikaner je nach Geburtstag mit tieferer oder höherer Wahrscheinlichkeit in die US-Armee eingezogen. Diese auf dem Zufallsprinzip basierende Methode der Zuteilung zum Militärdienst kommt einem «Experiment» verblüffend nahe. Angrist konnte mit diesem Ansatz glaubwürdig zeigen, dass der Militärdienst einen stark negativen Effekt auf die späteren Verdienstmöglichkeiten in zivilen Berufen nach sich zieht.[2] Aufgrund der Zufälligkeit des Losverfahrens konnten andere Erklärungen ausgeschlossen werden, und somit war der Militärdienst kausal verantwortlich für die geringeren Verdienstmöglichkeiten.

Einen weiteren methodischen Durchbruch erzielte Joshua Angrist im Jahr 1994, gemeinsam mit dem damals an der Harvard University forschenden niederländisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Guido Imbens, der derzeit Professor an der Stanford University ist. Sie beantworteten die Frage, welcher kausale Effekt sich mit Experimenten bestimmen lässt, wenn der Effekt einer Intervention zwischen den Teilnehmern variiert und/oder wenn Teilnehmer nicht unbedingt die ihnen vom Experiment zugewiesene Rolle befolgen (sogenannte Non-Compliance).[3]

Ein Beispiel für ein solches natürliches Experiment mit heterogenen Treatment-Effekten ist die Erweiterung der gesetzlichen Schulpflicht um zusätzliche Schuljahre: Diese erhöht zwar die durchschnittliche Schulbildung, betrifft aber jene Schülergruppen überhaupt nicht, die ohnehin eine höhere Schule besuchen. Vergleicht man die Jahrgänge mit und ohne zusätzliche Schulpflichtjahre, zeigt sich, dass die Jahrgänge mit höherer Schulbildung auf dem Arbeitsmarkt im Schnitt einen höheren Lohn erzielten. Angrist und Imbens wiesen darauf hin, dass dieser Effekt nur durch diejenigen Schüler zustande gekommen sein kann, welche aufgrund des Gesetzes tatsächlich länger in die Schule gegangen sind.[4]

Preisträger an Schweizer Unis

Von einer weiteren Arbeit David Cards wurde die arbeitsmarktpolitische Diskussion nachhaltig beeinflusst – auch jene in der Schweiz: Gemeinsam mit dem 2019 verstorbenen Professor Alan Krueger von der Princeton University wies er nämlich nach, dass eine Erhöhung des Mindestlohnes nicht unbedingt zu Beschäftigungseinbussen führen muss. Dies geschah wiederum unter Ausnutzung eines natürlichen Experiments. Dabei verglichen die beiden Autoren die Entwicklung der Beschäftigungszahlen im Niedriglohnsektor, spezifisch bei Angestellten in Fast-Food-Restaurants, zwischen New Jersey, wo 1992 der Mindestlohn erhöht wurde, und Pennsylvania, wo das nicht der Fall war.[5]

Die Erkenntnisse von Angrist, Card und Imbens haben nicht nur neue Standards in der empirischen Forschung gesetzt, sie haben auch wichtige, wirtschaftspolitisch relevante Ergebnisse produziert. Der Einfluss ihrer Forschung zeigt sich täglich in der Arbeit von unzähligen Wissenschaftlern an allen Universitäten und Forschungseinrichtungen der Welt, auch in der Schweiz.

Der Einfluss ist ebenfalls prominent in den Curricula der empirisch-ökonometrischen Methodenausbildung sichtbar. Angrist ist gemeinsam mit Jörn-Steffen Pischke von der London School of Economics Autor von zwei Standardlehrbüchern[6], die das Prinzip der «glaubwürdigen Bestimmung von Kausaleffekten» betonen und so diese Forschungsmethoden vielen heutigen Universitätsabsolventen zugänglich machen. Zudem haben David Card, Joshua Angrist wie auch Guido Imbens in der Vergangenheit wiederholt in der Schweiz unterrichtet und zur Doktorandenausbildung an den Universitäten Zürich und Lausanne beigetragen. Die Arbeiten der drei Nobelpreisträger, aber auch die Menschen selbst sind eine vielfältige Inspirationsquelle für die Forschung in der Schweiz.

  1. Siehe Card (1990). []
  2. Siehe Angrist (1990). []
  3. Siehe Imbens und Angrist (1994). []
  4. Siehe Angrist und Krueger (1991). []
  5. Siehe Card und Krueger (1994). []
  6. Siehe Angrist und Pischke (2009) sowie (2014). []

Literaturverzeichnis
  • Angrist, J. D. (1990). Lifetime Earnings and the Vietnam Era Draft Lottery: Evidence from Social Security Administrative Records. American Economic Review, 80 (3), 313–336.
  • Angrist, J. D. und Krueger, A. B. (1991). Does Compulsory School Attendance Affect Schooling and Earnings? The Quarterly Journal of Economics, 106(4), 979–1014.
  • Angrist, J. D. und Pischke, J.-S. (2009). Mostly Harmless Econometrics: An Empiricist’s Companion.
  • Angrist, J. D. und Pischke, J.-S. (2014). Mastering Metrics: The Path from Cause to Effect, Economics Books, Princeton University Press, Edition 1, number 10363.
  • Card, D. (1990). The Impact of the Mariel Boatlift on the Miami Labor Market. ILR Review43(2), 245–257.
  • Card, D. und Krueger, A. B. (1994). Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania. American Economic Review, 84(4), 772–793, September.
  • Imbens, G. W. und Angrist, J. D. (1994). Identification and Estimation of Local Average Treatment Effects. Econometrica, 62(2), 467–475.

Bibliographie
  • Angrist, J. D. (1990). Lifetime Earnings and the Vietnam Era Draft Lottery: Evidence from Social Security Administrative Records. American Economic Review, 80 (3), 313–336.
  • Angrist, J. D. und Krueger, A. B. (1991). Does Compulsory School Attendance Affect Schooling and Earnings? The Quarterly Journal of Economics, 106(4), 979–1014.
  • Angrist, J. D. und Pischke, J.-S. (2009). Mostly Harmless Econometrics: An Empiricist’s Companion.
  • Angrist, J. D. und Pischke, J.-S. (2014). Mastering Metrics: The Path from Cause to Effect, Economics Books, Princeton University Press, Edition 1, number 10363.
  • Card, D. (1990). The Impact of the Mariel Boatlift on the Miami Labor Market. ILR Review43(2), 245–257.
  • Card, D. und Krueger, A. B. (1994). Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania. American Economic Review, 84(4), 772–793, September.
  • Imbens, G. W. und Angrist, J. D. (1994). Identification and Estimation of Local Average Treatment Effects. Econometrica, 62(2), 467–475.

Zitiervorschlag: Rafael Lalive, Rainer Winkelmann, Josef Zweimüller (2021). Nobelpreis: Natürliche Experimente machen Wirtschaftsforschung glaubwürdiger. Die Volkswirtschaft, 05. November.

Was ist ein natürliches Experiment?

Natürliche Experimente unterscheiden sich von klinischen Laborversuchen in einem wichtigen Punkt: In einem klinischen Experiment hat der Forscher die vollständige Kontrolle darüber, wem eine Behandlung angeboten wird und wer sie schliesslich erhält (Behandlungsgruppe) und wer die Behandlung nicht erhält (Kontrollgruppe). Bei einem natürlichen Experiment hat der Forscher ebenfalls Zugang zu den Daten von Behandlungs- und Kontrollgruppen, aber im Gegensatz zu einer klinischen Studie können die Personen selbst entscheiden, ob sie an der angebotenen Intervention teilnehmen wollen. Dies macht es sehr viel schwieriger, die Ergebnisse eines natürlichen Experiments zu interpretieren. In einer innovativen Studie aus dem Jahr 1994 zeigten Joshua Angrist und Guido Imbens mit dem «Local Average Treatment Effect», welche Schlussfolgerungen über Kausalzusammenhänge aus natürlichen Experimenten gezogen werden können, bei denen die Menschen nicht gezwungen werden können, an dem untersuchten Programm teilzunehmen (und es ihnen auch nicht untersagt werden kann, dies trotzdem zu tun!).a Der von ihnen geschaffene Rahmen hat die Art und Weise, wie Forscher an empirische Fragen herangehen und die Daten aus natürlichen Experimenten oder randomisierten Feldexperimenten verwenden, grundlegend verändert.

a Imbens und Angrist (1994).