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Mindestlöhne wirken wenig zielgerichtet gegen Armut

Seit geraumer Zeit wird in der Schweiz über regionale Mindestlöhne diskutiert. Eine Analyse zum Kanton Zürich zeigt: Profitieren würden vor allem Personen, die nicht armutsgefährdet sind.

Mindestlöhne wirken wenig zielgerichtet gegen Armut

Drei kommunale Volksinitiativen im Kanton Zürich fordern eine Lohnuntergrenze von 23 Franken pro Stunde. (Bild: Keystone)

Vielerorts wird derzeit über Mindestlöhne diskutiert – allen voran in den USA. Dort hat der Vorschlag der Demokraten, den nationalen Mindestlohn von 7.25 Dollar bis 2025 auf 15 Dollar pro Stunde zu erhöhen, zu einer kontroversen politischen Debatte geführt. In der Schweiz hat die Stimmbevölkerung 2014 die Einführung eines nationalen Mindestlohns von 22 Franken pro Stunde mit 76 Prozent klar abgelehnt. Seither gab es jedoch verschiedene Bestrebungen, das Vorhaben auf kantonaler und kommunaler Ebene umzusetzen. Mittlerweile ist ein Mindestlohn in einzelnen Kantonen bereits Tatsache – so etwa in Neuenburg, in Genf, im Jura, im Tessin und in Basel-Stadt. Zudem wurden im Kanton Zürich kürzlich drei kommunale Volksinitiativen eingereicht, die in den Städten Kloten, Winterthur und Zürich die Einführung eines Mindestlohns von 23 Franken pro Stunde fordern. In Kloten hat die Stimmbevölkerung eine solche Einführung im November bereits knapp abgelehnt. In Winterthur und Zürich steht die Abstimmung noch an.

Umstrittene Beschäftigungseffekte

Mindestlöhne nehmen in der Ökonomie einen wichtigen Stellenwert ein – jüngst erhielt mit David Card sogar ein Ökonom den Wirtschaftsnobelpreis für seine Mindestlohnforschung. In den letzten Jahrzehnten wurden unzählige Studien zu diesem Thema publiziert. Dabei geht es meistens um die Frage, welchen Effekt die Einführung eines Mindestlohns auf die Beschäftigung hat.

Auf den ersten Blick scheint die Antwort klar: Bei vollkommenem Wettbewerb erhöht ein Mindestlohn den Preis für Arbeitskräfte, wodurch die Unternehmen ihre Nachfrage nach Arbeitskräften senken. Dieses Phänomen kann man bei den allermeisten Gütern und Dienstleistungen beobachten: Steigt beispielsweise der Preis für Äpfel, werden weniger davon gekauft.

Bei einer genaueren Betrachtung kann die Antwort aber auch anders ausfallen. Denn auf dem Arbeitsmarkt kann es zu sogenannten Friktionen kommen, das heisst zu Situationen, bei denen der Wettbewerb nicht spielt. Liegt aufgrund fehlenden Wettbewerbs etwa eine Preissetzungsmacht seitens der Unternehmen vor (z. B. Monopson oder Oligopson), muss die Einführung eines Mindestlohns die Beschäftigung nicht reduzieren.

Denn besitzt ein Unternehmen Marktmacht, kann es Löhne bezahlen, die unter dem Gleichgewichtspreis liegen. Die Einführung eines Mindestlohns kann dann die Löhne auf den Gleichgewichtspreis heben, wodurch die Beschäftigung sogar ansteigen würde. Zu diesem Schluss kam etwa eine viel beachtete Studie des bereits erwähnten Ökonomen David Card und seines Co-Autors Alan B. Krueger, die die Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns bei Fast-Food-Ketten in New Jersey untersuchten.[1] Allerdings wurden die Resultate von anderen Mindestlohnforschern teilweise heftig kritisiert.[2]

Es ist daher wenig erstaunlich, dass empirische Mindestlohnstudien zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Wie eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse des US-amerikanischen National Bureau of Economic Research (NBER) aufzeigt, dürfte allerdings die Zahl der Studien überwiegen, die einen schwach bis hochsignifikant negativen Beschäftigungseffekt ausgelöst durch Mindestlöhne aufweisen, zumindest in den USA.[3] Gemäss der Metastudie liegt der Mittelwert aller geschätzten Beschäftigungseffekte bei –0,15. Dieser Wert beschreibt die Elastizität der Arbeitsnachfrage und besagt Folgendes: Wenn die Lohnkosten durch den Mindestlohn um 10 Prozent steigen, sinkt die Beschäftigung um 1,5 Prozent.

Grosse Einigkeit herrscht in der Forschungszunft darüber, dass die Höhe des Mindestlohns ausschlaggebend für den Beschäftigungseffekt ist. Ab einer gewissen Schwelle wird die Beschäftigung immer reduziert – wo diese Schwelle genau liegt, ist allerdings schwierig zu sagen.

Ein Mittel gegen Armut?

In der Forschungsliteratur weniger oft diskutiert wird die Frage, ob Mindestlöhne ein geeignetes Instrument zur Armutsbekämpfung sind. Ökonomen haben zwar auch dazu rege geforscht, doch die Zahl der Studien ist wesentlich kleiner als bei den Beschäftigungseffekten. Viele der bestehenden Untersuchungen kommen zum Schluss, dass die Sozialbilanz von Mindestlöhnen, welche die sozialen Kosten dem sozialen Nutzen gegenüberstellt, eher bescheiden ist.[4]

Weshalb das so ist, lässt sich an einem hypothetischen Beispiel für den Kanton Zürich zeigen. Mithilfe von Daten des kantonalen Statistischen Amtes und des Bundesamtes für Statistik (BFS) lässt sich abschätzen, wie viele und vor allem welche Personen direkt betroffen wären, wenn ein kantonaler Mindestlohn eingeführt würde.[5] Als Richtwert für die Höhe des Mindestlohnes nehmen wir die 23 Franken pro Stunde, die in den bereits angesprochenen kommunalen Volksinitiativen gefordert werden. In diesem Fall wären insgesamt 56’900 Personen direkt tangiert, da sie heute weniger verdienen als den geforderten Mindestlohn. Um nun herauszufinden, wie viele dieser Personen von Armut betroffen sind, kann man auf zwei Indikatoren des BFS zurückgreifen: die absolute und die relative Armut.

Im absoluten Armutskonzept wird Armut als Unterschreitung des festgelegten sozialen Existenzminimums definiert. Das Existenzminimum leitet sich aus den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ab und gilt als Referenz für die Höhe der Sozialhilfe in den Kantonen. Die Armutsquote misst den Bevölkerungsanteil, der unter diesem Existenzminimum liegt. Im relativen Armutskonzept hängt die Armut hingegen vom landesweiten Einkommensniveau ab. Als arm gilt hier, wer einen gewissen relativen Schwellenwert unterschreitet, häufig liegt dieser bei 50 oder 60 Prozent des Medianeinkommens. Der höhere Schwellenwert von 60 Prozent wird dabei als Armutsgefährdungsgrenze bezeichnet und bezieht sich auf den potenziell von Armut gefährdeten Teil der Bevölkerung. Dieser Bevölkerungsanteil ist somit deutlich höher als die Armutsquote, die sich am absoluten Armutskonzept bemisst. Er ist aber auch umstrittener, da die relative Armut per definitionem konstant bleibt, wenn etwa alle Einkommen gleichmässig steigen.

Gemäss den Daten des BFS leben im Kanton Zürich 97’131 Personen unter der absoluten Armutsgrenze, was einer Armutsquote von 6,5 Prozent entspricht. Verwendet man die relative Armutsdefinition, sind es 167’343 Personen oder rund 11 Prozent. Von diesen Personen ist allerdings nur rund ein Fünftel erwerbstätig, sprich 20’446 resp. 37’749 Personen. Sie gelten als Working Poor beziehungsweise armutsgefährdete Erwerbstätige, weil ihr Einkommen trotz Erwerbstätigkeit nicht reicht, um über die Armutsgrenze zu gelangen (siehe Abbildung 1). Potenziell von einem Mindestlohn betroffen wären nur sie, da alle anderen nicht erwerbstätig sind und somit gar nicht von einem Mindestlohn profitieren können.

Abb. 1: Armut im Kanton Zürich

Quelle: BFS, Berechnungen AWA / Die Volkswirtschaft

Aber selbst innerhalb der Working-Poor-Gruppe wäre nur eine Minderheit von einem Mindestlohn betroffen, denn Untersuchungen des BFS legen nahe, dass der Zusammenhang zwischen Armut und Tieflöhnen eher lose ist.[6] Gemäss Schätzungen erzielen zwei Drittel der Working Poor in der Schweiz einen Stundenlohn, der über der Tieflohnschwelle von rund 23 Franken pro Stunde liegt. Der Grund ist, dass der Stundenlohn allein nicht darüber entscheidet, ob jemand als Working Poor gilt. Entscheidend sind auch das Arbeitspensum, das Haushaltseinkommen und die Haushaltssituation (z. B. Anzahl Kinder). Weiter kommt hinzu, dass rund 18 Prozent der Working Poor Selbstständigerwerbende sind und ebenfalls von einem Mindestlohn ausgenommen wären. Alles in allem kann man deshalb – grob geschätzt – annehmen, dass rund 30 Prozent der Working Poor von einem Mindestlohn von 23 Franken betroffen wären. Das entspricht 6100 Personen. Wendet man dieselbe Rechnung auf die armutsgefährdeten Erwerbstätigen an, kommt man auf 11’300 Personen.

Fragwürdige Sozialbilanz

In einem statischen Szenario – das heisst, die Einführung des kantonalen Mindestlohnes hätte keinerlei Auswirkungen auf die Beschäftigung oder die Konsumentenpreise – dürften somit gemäss Grobschätzung höchstens 6100 bis 11’300 Personen, die von Armut betroffen oder gefährdet sind, einen Lohnzuwachs erhalten. Das sind 6 bis 7 Prozent aller Personen, die von Armut betroffen oder gefährdet sind. Gleichzeitig sind das nur 11 bis 20 Prozent aller Beschäftigten, die weniger als 23 Franken pro Stunde verdienen (siehe Abbildung 2). Anders gesagt: 80 bis 89 Prozent, die von einem Mindestlohn profitieren könnten, sind weder arm noch armutsgefährdet. Dazu dürften nicht zuletzt viele jüngere Personen und Studierende zählen. Wie eine Untersuchung des BFS von 2012 gezeigt hat, leben rund 35 Prozent der Geringverdienenden noch im Elternhaus.[7] In einem dynamischen Szenario, das negative Beschäftigungseffekte und steigende Preise einberechnet, dürfte der Kreis der Profiteure noch kleiner ausfallen, da aufgrund der wegfallenden Stellen noch weniger von Armut betroffene oder gefährdete Personen einen Einkommenszuschuss erhalten würden.

Insgesamt zeigt sich also, dass ein Mindestlohn hohe Mitnahmeeffekte generiert: Damit im hypothetischen Beispiel des Kantons Zürich eine armutsbetroffene Person von der Lohnerhöhung durch den Mindestlohn profitieren kann, erhalten im Durchschnitt jedes Mal auch neun nicht armutsbetroffene Personen eine Lohnerhöhung. In anderen Kantonen dürften diese Mitnahmeeffekte ähnlich hoch ausfallen. Zumindest in der Schweiz ist die Sozialbilanz eines kantonalen oder nationalen Mindestlohns somit mehr als fragwürdig, ganz unabhängig davon, wie seine Beschäftigungseffekte ausfallen. Wesentlich besser dürfte die Sozialbilanz von erwerbsabhängigen Steuergutschriften sein, da sie die individuellen Umstände wie etwa die Haushaltssituation berücksichtigen.

Abb. 2: Anteil Geringverdiener im Kanton Zürich, die von 23 Franken Mindestlohn profitieren könnten (Schätzung)

Quelle: BFS, Berechnungen AWA

  1. Card und Krueger (1994). []
  2. Siehe z. B. Neumark und Wascher (2000). []
  3. Siehe Neumark und Shirley (2021). []
  4. Siehe etwa Sabia (2014) sowie Neumark und Maysen (2021). []
  5. Für eine ausführliche Beschreibung der Analyse vgl. Zürcher Wirtschaftsmonitoring (2021). []
  6. Vgl. BFS (2008) sowie Baumberger und Weber (2013). []
  7. Siehe BFS (2012). []

Literaturverzeichnis
  • Baumberger, Daniel und Bernhard Weber (2013). Tieflöhne in der Schweiz – eine Situationsanalyse, in: Die Volkswirtschaft, 9-2013.
  • BFS (2008). Tieflöhne und Working Poor in der Schweiz.
  • BFS (2012). Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) 2007 bis 2011: Ergebnisse zur Armut in der Schweiz.
  • Card, David und Alan B. Krueger (1994). Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania, in: American Economic Review 84 (4): 772–793.
  • Neumark, David und Peter Shirley (2021). Myth or Measurement: What Does the New Minimum Wage Research Say About Minimum Wages and Job Losses in the United States? NBER Working Paper 28388.
  • Neumark, David und Maysen Yen (2021).The Employment and Redistributive Effects of Reducing or Eliminating Minimum Wage Tip Credits.
  • Neumark, David und William Wascher (2000). The Effect of New Jersey’s Minimum Wage Increase on Fast-Food Employment: A Reevaluation Using Payroll Records, in: American Economic Review 90(5): 1362–1396.
  • Sabia, Joseph (2014). Minimum Wages: An Antiquated and Ineffective Antipoverty Tool, in: Journal of Policy Analysis and Management 33:4: 1028–1036
  • Zürcher Wirtschaftsmonitoring (2021). Einschätzungen und Prognosen. Ausgabe Juni 2021.

Bibliographie
  • Baumberger, Daniel und Bernhard Weber (2013). Tieflöhne in der Schweiz – eine Situationsanalyse, in: Die Volkswirtschaft, 9-2013.
  • BFS (2008). Tieflöhne und Working Poor in der Schweiz.
  • BFS (2012). Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) 2007 bis 2011: Ergebnisse zur Armut in der Schweiz.
  • Card, David und Alan B. Krueger (1994). Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania, in: American Economic Review 84 (4): 772–793.
  • Neumark, David und Peter Shirley (2021). Myth or Measurement: What Does the New Minimum Wage Research Say About Minimum Wages and Job Losses in the United States? NBER Working Paper 28388.
  • Neumark, David und Maysen Yen (2021).The Employment and Redistributive Effects of Reducing or Eliminating Minimum Wage Tip Credits.
  • Neumark, David und William Wascher (2000). The Effect of New Jersey’s Minimum Wage Increase on Fast-Food Employment: A Reevaluation Using Payroll Records, in: American Economic Review 90(5): 1362–1396.
  • Sabia, Joseph (2014). Minimum Wages: An Antiquated and Ineffective Antipoverty Tool, in: Journal of Policy Analysis and Management 33:4: 1028–1036
  • Zürcher Wirtschaftsmonitoring (2021). Einschätzungen und Prognosen. Ausgabe Juni 2021.

Zitiervorschlag: Luc Zobrist (2021). Mindestlöhne wirken wenig zielgerichtet gegen Armut. Die Volkswirtschaft, 22. Dezember.