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Mobilität 2060: Schöne neue «Servicewelt»?

Die Digitalisierung verändert die Mobilität bis ins Jahr 2060 grundlegend. Unter dem Strich sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von autonomen Fahrzeugen sowie der Sharing-Economy in der Schweiz laut einer Studie positiv.
Der Bürgermeister der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, Oh Se-hoon, in einem selbstfahrenden Auto. (Bild: Keystone)

Selbstfahrende Fahrzeuge, Car- und Ridesharing werden unser Mobilitätsverhalten grundlegend verändern. Eine Studie des Forschungsinstituts Infras im Auftrag des Bundesamts für Raumentwicklung hat die volkswirtschaftlichen Auswirkungen anhand dreier Szenarien bis ins Jahr 2060 geschätzt.[1]

Jedes Szenario wurde einer Referenzentwicklung gegenübergestellt, in der die beiden Trends «Automatisierung» und «Sharing» auf dem heutigen Niveau verharren. Die Berechnungsgrundlage lieferten die Verkehrsmodelle des Bundes zum Personen- und Güterverkehr sowie interne Modelle von Infras.[2]

Im Szenario «Automatisierung» fahren die Fahrzeuge nahezu vollständig autonom. Das Auto wird attraktiver, weil die bisher zum Lenken benötigte Zeit produktiver genutzt werden kann. Dadurch sinken die mit der Reisezeit verbundenen Zeitkosten. Die Personalkosten im gewerblichen Verkehr nehmen ebenfalls ab.

Im Szenario «Sharing» teilen die Nutzerinnen und Nutzer sowohl die Fahrzeuge (Carsharing) als auch die Fahrten (Ridesharing) vermehrt. Die bestehenden Ressourcen werden somit effizienter genutzt, und Personen ohne eigenes Auto haben einen besseren Zugang zu Mobilität. Zudem entstehen neue Mobilitätsdienste, die wir als «öffentlichen Individualverkehr» (ÖIV) bezeichnen: Im ÖIV werden Fahrten bedarfsgerecht gebündelt, wobei es ungeteilte und geteilte Fahrten geben kann. Die Grenzen zwischen kollektiver und individueller Mobilität sind bei den Sharingangeboten somit fliessend.

Das Szenario «Servicewelt» stellt eine Kombination der ersten beiden Szenarien dar. Es erforscht mögliche Synergien, die sich zwischen selbstfahrenden Fahrzeugen und dem Car- und Ridesharing ergeben.

ÖV-Anteil rückläufig

In allen drei Szenarien führt die Automatisierung beziehungsweise Car- und Ridesharing zu zusätzlichen und längeren Fahrten. Das Kombiszenario «Servicewelt» führt zu einer Zunahme der Fahrzeugkilometer im Umfang von 18 Prozent gegenüber dem Referenzszenario. Trotzdem nehmen Staus tendenziell ab, da autonome Fahrzeuge dichter fahren können und so die Strassenkapazität erhöhen. Hingegen sinkt der Anteil des öffentlichen Verkehrs und des Fuss- und Veloverkehrs.

Volkswirtschaftlich unterscheidet die Studie zwischen mikro- sowie makroökonomischen Effekten. Erstere umfassen einerseits die Kosten und Nutzen für die Verkehrsteilnehmenden – wie etwa die Reisezeit. Andererseits enthalten sie die Kosten und Nutzen für die Gesellschaft – wie beispielsweise Umweltauswirkungen. Die makroökonomische Analyse wiederum befasst sich mit den Auswirkungen auf Wertschöpfung und Beschäftigung.

Nutzen überwiegt

Eine Herausforderung war es, die Verhaltensänderungen und ihre Folgen zu monetarisieren. Um hierzu Aussagen zu machen, wurde die klassische Methode der Kosten-Nutzen-Analyse adaptiert.[3] So geht die Studie etwa davon aus, dass die Reisezeit in einem selbstfahrenden Fahrzeug für produktive Aktivitäten wie Lesen oder Telefonieren genutzt werden kann.

Im Szenario «Automatisierung» beträgt der mikroökonomische Nutzen im Vergleich zum Referenzszenario 20 Milliarden Franken pro Jahr, wobei 9,2 Milliarden Franken auf die produktive Nutzung der Fahrzeit zurückzuführen sind (siehe Abbildung). Ein ebenfalls grosser mikroökonomischer Nutzen von 8,6 Milliarden Franken ergibt sich in diesem Szenario durch die Verringerung der Anzahl Unfälle sowie deren Folgen.

Im Szenario «Sharing» resultiert ein mikroökonomischer Nutzen von insgesamt 7 Milliarden Franken. Dieser geht grösstenteils auf die Verringerung von Staus durch mehr Fahrgemeinschaften zurück. Im Kombiszenario «Servicewelt» beträgt der mikroökonomische Nutzen insgesamt 25 Milliarden Franken pro Jahr.

Für die Umwelt und die Gesundheit sind die Auswirkungen hingegen negativ: Die durch die erhöhte Mobilitätsnachfrage verursachten zusätzlichen externen Kosten für Umwelt und Gesundheit belaufen sich im Szenario «Servicewelt» auf 1,7 Milliarden Franken. Als Berechnungsgrundlage dienten hier die heutigen Kostensätze des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) und des Bundesamts für Statistik (BFS) unter Berücksichtigung der erwarteten Entwicklung der Treibhausgasemissionen und des Bevölkerungswachstums.[4]

Ökonomischer Nutzen und Kosten von Automatisierung und Sharing im Jahr 2060 – gegenüber Referenzszenario

 

Anmerkung: Positive Zahlen stellen einen volkswirtschaftlichen Nutzen dar, negative Zahlen bedeuten Kosten.

Quelle: Infras /DLR (2021) / Die Volkswirtschaft

Weniger Importe

Die verschiedenen betrachteten Szenarien weisen sehr unterschiedliche makroökonomische Auswirkungen auf. Im Szenario «Automatisierung» nimmt die Wertschöpfung gegenüber dem Referenzszenario beispielsweise um 0,8 Prozent ab, und die Beschäftigung sinkt um 1,2 Prozent (siehe Tabelle). Der Grund: Die Autos, ihre Bauteile und Treibstoffe werden heute grossmehrheitlich importiert. Wenn wir mehr mit dem Auto fahren und die Kilometerkosten steigen, sinkt das verbleibende Budget für den Konsum von in der Schweiz hergestellten Gütern.

Dagegen sind die Wertschöpfung und die Beschäftigung im Szenario «Sharing» gegenüber dem Referenzszenario leicht höher. Dies liegt an den niedrigeren Anschaffungskosten für gemeinsam genutzte Fahrzeuge, die eine Abnahme der Ausgaben für Importe und eine Verlagerung der Ausgaben der Haushalte auf wertschöpfungsintensivere Branchen in der Schweiz ermöglichen.

Im «Servicewelt»-Szenario sinkt die Beschäftigung wegen der ansteigenden Importe um 1,4 Prozent gegenüber dem Referenzszenario: Dank Automatisierung und Sharing lässt sich der Personalaufwand – etwa für Unterhalt und Betrieb – pro Mobilitätsleistung reduzieren. Das Verkehrswachstum federt die negative Beschäftigungswirkung etwas ab. Hingegen wächst die Wertschöpfung aufgrund der grösseren Nachfrage nach Mobilität, wobei der ÖIV mit einem Plus von 41 Prozent die grösste Wertschöpfungszunahme verzeichnet. Zu den Verlierern bezüglich Wertschöpfung und Beschäftigung gehört neben dem klassischen ÖV und dem Güterverkehr (Strasse, Schiene) auch der Fahrzeugverkauf.

Wertschöpfung und Beschäftigung im Jahr 2060 – Veränderung gegenüber Referenzszenario

  Szenario «Automatisierung» Szenario «Sharing» Kombiszenario «Servicewelt»
Wertschöpfung –8,6 Mrd. Fr.  (–0.8%) +3,8 Mrd. Fr. (+0,4%) +3,2 Mrd. Fr. (+0,3%)
Beschäftigung (Vollzeitäquivalente) –55’000 (–1,2%) +12’000 (+0,3%) –60’000 (–1,4%)

Quelle: Infras /DLR (2021) / Die Volkswirtschaft

Wie die Digitalisierung die Mobilität in den nächsten 40 Jahren verändert, bleibt natürlich äusserst ungewiss.[5] Klar scheint: Abhängig davon, ob sich die Automatisierung, das Sharing oder beide Trends durchsetzen, sind unterschiedliche Massnahmen zu ergreifen. Um die Chance der hohen Effizienzsteigerung in der neuen «Servicewelt» zu nutzen und die damit einhergehenden Risiken zu minimieren, sollten Bund und Kantone geeignete Rahmenbedingungen für kollektive Angebote im Personenverkehr (ÖV und ÖIV) beziehungsweise Fahrgemeinschaften im privaten motorisierten Individualverkehr fördern.

  1. Infras (2021). Ausgangspunkt der Studie ist Ecoplan (2018). []
  2. Nationales Personenverkehrsmodell (NPVM) sowie Aggregierte Methode Güterverkehr (AMG). []
  3. Die Grundnorm für Kosten-Nutzen-Analysen im Strassenverkehr ist SN 641 820[]
  4. ARE (2020) und BFS (2020). []
  5. Siehe auch Beitrag von Matthias Balmer, Antonin Danalet und Nicole Mathys in dieser Ausgabe. []

Bibliographie

 

 

 

 

Zitiervorschlag: Raphaël Lamotte, Joséphine Leuba, Nicole A. Mathys, Martin Peter, Anne Greinus (2021). Mobilität 2060: Schöne neue «Servicewelt». Die Volkswirtschaft, 23. Dezember.